Cover

1

Er sah sie an. Die Sonne brachte seine Haut zum Glitzern und Leuchten. Ein Gletscher, dessen eisige Tiefen im warmen Licht des Morgenrotes Aufglühte und tausende Sterne erstrahlten auf einmal. Die rau anmutende Haut des Trolls schimmerte in den unterschiedlichen Farben des Schnees. Die blauen Augen, die direkt aus einem tiefen Bergsee entsprungen zu sein schienen, ruhten ungerührt auf ihr. Trotz seiner markanten Gesichtszüge, mit den zwei abgestumpften Zähnen, die in der Nähe der Mundwinkel herauslugten, wirkte der Hauptmann stolz und erhaben. Seltsam anmutig und durch die ersten feinen Fältchen, irgendwie alterslos, wirkte sein Gesicht auf sie. Auf unwirkliche, eigenartige Art und Weise empfand sie ihn als schön.
Seine vom Kampf gestählte Brust war von einem feinen Schweißfilm überzogen, der den himmlisch leuchtenden Effekt der Sonnenstrahlen verstärkte. Weiße Narben blitzten stumm auf, erzählten von Schlachten, die ewig namenlos blieben. Von Kämpfen, die einzig ihr Träger zu benennen vermochte. Die breiten Schultern leicht angespannt nach hinten gedrückt, stand er da. Aufrecht und drohend, wie ein Eisberg im ewigen Eismeer. Ein ruheloser Schneesturm, der einsam über die Lande hinweg wehte. Ja, das strahlte er aus. Eine durch und durch tiefe, trostlose Einsamkeit, die wortlos verbitterte Tränen weinte. Brôll gehörte zu den letzten seiner Art. Er war einer der wenigen Schneetrolle, die noch auf Erden wandelten.
Sein Gegner hatte sich recht schnell erholt und kam, grunzende Laute von sich stoßend, wieder auf die Beine. Die graue Haut des einfachen Höhlentrolls wirkte seltsam matt und ausdruckslos, neben der geradezu blendend weißblauen Haut des Hauptmannes. Kurz zuckte Brôlls Blick zu seinem Soldaten, betrachtete abwartend diesen. Er wollte wissen ob der andere Troll genug hatte oder weiterhin große Reden schwingen wollte. Sein Gegner schien für diesen Tag genug zu haben, denn er verkrümelte sich mit dem für seine Art typisch schlürfenden Gang. Brôll wartete geduldig, bis der Höhlentroll das Trainingsfeld verlassen hatte und zwischen den Zelten verschwunden war. Erst als die schlürfenden Schritte weit in der Ferne verklangen, drehte er sich wieder zu ihr um. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, schritt er auf den Zaun zu, der das Trainingsfeld umgab.
„Was wollt ihr, Kind?“, erschallte seine tiefe, brummelnde Stimme über das Feld.
„Ich habe nach euch gesucht, Hauptmann der trollschen Truppen.“, klar und zeitlos erklang ihre Antwort. Das genaue Gegenteil zu seiner.
„Warum sucht ein Kind nach mir?“, fragte er missmutig und griff nach der ledernen Tunika, die er achtlos über den Zaun geworfen hatte.
Für einen winzigen Augenblick kehrte er ihr den Rücken zu, doch selbst als er sie nicht im Auge hatte, spürte er ihren Blick, wie er sich tief in sein Fleisch zu bohren schien. Grummelnd zog er sich an. Gehörte es sich doch nicht, lediglich mit einfachen Hosen vor einem unschuldigen Kind zu laufen, hatte es noch so zeitlose Augen und ein, von einem unsichtbaren Schleier des Alters überzogenes Gesicht. Das Mädchen, das ruhig am Rand des Trainingsplatzes stand und zu ihm herüber sah, wirkte mit ihrer hellen Haut, den kinnlangen, blonden Haaren und den undefinierbaren Augen zerbrechlich und täuschend menschlich. Doch irgendetwas, vielleicht seine lang geschulte Intuition, sagte ihm, dass dieses Kind, welches abwartend zu ihm blickte, keinesfalls jung oder gar verletzlich war. Eine ruhige Aura schien sie zu umgeben, ihm leise zuzuflüstern, dass vor ihm kein menschliches Wesen stand, sondern etwas viel älteres. Es umgab sie auch nicht der Geruch von elbischem Blut oder gar der Duft der Unsterblichen. Nein, er war süßlicher, vergangener, älter… zeitloser, um einiges angenehmer als der, der Elben oder anderer Verwandten des Lichtvolkes.
Während er sich erneut zu ihre umwandte, knöpfte er sich langsam seine Tunika zu und ignorierte dabei das unangenehme Gefühl von kühlem Schweiß auf rohen Leder.
„Weil jenes Kind, wie ihr mich zu nennen pflegt, eine Bitte an die Trolle hat.“, sie lächelte leicht.
„Aha… Und warum geht ihr dann nicht zu einem der Fürsten? Was erhofft ihr von einem einfachen Hauptmann?“ Langsam schritt er auf sie zu.
Wie eine stumme Gefahr kam er auf sie zu und ein flüchtiges Angstgefühl berührte kurz mit klammen Fingern ihre Seele, ehe es vom Wind der Bewunderung fortgetrieben wurde. Sie hob das Kinn um ihm direkt in die Augen sehen zu können.
„Für meine Bitte benötige ich keine Fürsten, die daraus nur einen politischen Drahtseilakt entstehen lassen werden. Ich benötige Männer, in diesem Falle jedoch Trolle, die es wagen zur Tat zu schreiten.“
Ihre Augen glommen herausfordernd auf. Ließen einen Wirbel aus allen erdenklichen Farben um ihre schwarze Pupille auflodern. Ein Gemisch, das wie ein glänzender Granit zu sein schien und dennoch war es nicht trist, sondern voller Leben.
„Trolle die zur Tat schreiten? Wollt ihr etwa einen Kleinkrieg mit uns als ihre sterbende Narren führen?“, zornig zog er seine Brauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Für wen hielt sie ihn? Für einen Dummkopf, der nicht wüsste worauf er sich einließ? Für einen naiven Burschen ohne Rückgrat? Er würde nicht zulassen, dass seine Leute, wegen eines Kleinkrieges sterben würden, für etwas Selbstsüchtiges wie Macht oder Rache. Auch wenn Rache zu seinem Leben gehörte, wie das ständige ein und ausatmen der Luft. Im Gegenteil zu anderen einsamen Rächern, wollte er seine persönliche Rache so ausführen, dass niemand aus seinem Gefolge Schaden bekommen würde, außer ihm selbst.
„Nein, kein Kleinkrieg.“, sie schüttelte den Kopf.
„Was dann?“, grollte er und ein einfacher Krieger, mochte er noch so tapfer und mutig sein, wäre bis ins Mark zusammengezuckt, so dunkel war die vibrierende Verachtung in seiner Stimme. Er trat bedrohlich näher. Doch sie zuckte nicht zurück, sondern begegnete seinem Blick mit müder Gelassenheit.
„Nein, kein Kleinkrieg.“, wiederholte sie. „Sondern das Ende einer langen dunklen Zeit.“
Für eine ungewisse Ewigkeit hing dieser Satz zwischen ihnen.
Sie wich seinem Blick aus, der selbst einen ausgewachsenen Drachen in die Knie gezwungen hätte, wären sie erstens: nicht schon so selten geworden, dass jeder glaubte sie seien ausgestorben und zweitens: würden sie nicht so verdammt scheu sein. Vorsichtig steckte sie ihre Hand in den weichen Fellmantel, der sie einhüllte, und zog ein gelbes Stück Pergament hervor. Langsam hob sich ihr Blick und senkte sich auf Brôll. Dieser hob abfällig eine Braue und schnaubte missmutig.
„Hier steht alles drin, worum ich euch bitte, auch wie ihr diese Bitte erfüllen könnt.“
Sie seufzte lautlos auf und ein Ausdruck von schmerzlicher Pein überschattete ihre Züge, ließ sie unwillkürlich älter erscheinen. Brôll glaubte ihren Körper unter dem schweren Fell zittern zu sehen, doch sie schwieg, verlor kein Wort darüber, verharrte in jenem Schmerz.
„Bitte, Hauptmann.“, flüsterte sie leise.
Wind heulte wispernd zwischen den Bergklüften auf, schien ein Echo ihrer leisen, flehenden Bitte zu sein. „Bitte, hier geht es nicht mehr um ein Kind, sondern um eure Welt, um eure Zukunft, um das Wohl aller Völker, die auf Erden wandeln und sich in ihrem Schoß der Verschwiegenheit verstecken. Es geht um das Ende einer schrecklich finsteren Nacht und um den Beginn eines neuen Zeitalters.“
Obwohl sie ruhig, mit leiser Stimme dies ihm sagte, schien die verzweifelte Bestimmtheit in ihrem Ton, alles zu einem lauten nachdrücklichen Schrei anschwellen zu lassen.
Unweigerlich musste Brôll leicht blinzeln.
Ohne sich zu fürchten, Abscheu gegenüber einer Berührung zwischen ihnen, griff sie nach seiner großen Hand und legte den Brief hinein. Sanft drückte sie seine Finger zu und ließ ihn dann los. Ungläubig folgten seine Augen ihrer Bewegung. Damit hatte er nicht gerechnet. Andere Wesen, wie die Elben, Zwerge oder gar die Menschen fürchteten sich davor die Haut eines Trolls zu berühren, sie schienen einen ureigenen Ekel gegenüber der Andersartigkeit der älteren Völker zu haben. Er selbst hatte bisher noch kein jüngeres Volk kennengelernt, das freiwillig einen Troll berührte. Aber dass ein Mädchen ohne zu zögern, ohne Ekel seine große Hand mit ihren zierlichen Fingern ergriff, sie berührte, brachte den langerfahrenen Krieger etwas aus der Bahn. Er war es schlicht und einfach nicht gewöhnt von anderen Wesen, außer seinen Kameraden angefasst zu werden.
Innerlich zuckte er die Achseln. War im Grunde auch egal.
Ihre Stimme riss ihn wieder aus seinen Gedanken.
„Ich hoffe ihr denkt darüber nach.“, sie lächelte und dennoch hatte Brôll das Gefühl, dass sie sich nicht allzu viel erhoffte. Wütend schnaubte er erneut. Brummelte etwas Unverständliches, ehe er mit einem Kopfnicken zu den Zelten wies.
„Habt ihr ein Lager für die Nacht? Wir sind zwar Trolle und man wirft uns allerlei schändliche Dinge vor, aber unhöflich waren wir bis jetzt noch nie.“, fragend legte er den Kopf schief.
„Ihr vertraut mir nicht und dennoch ladet ihr mich ein bei euch zu übernachten?“, sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Wahrlich, Merthog hatte recht. Ihr seid ein höchst interessantes Völkchen. Aber ja, ich würde gerne die Nacht über bleiben. Der Abstieg würde meine Kräfte überschreiten und ich müsste hier draußen nächtigen, wenn ich jetzt nach Hause gehen wollte.“
Grunzend nickte Brôll, deutete ihr wortlos an, dass sie ihm folgen sollte und ging voran.
„Wie ist euer Name?“, fragte er irgendwann.
„Welchen wollt ihr von den vielen Namen hören, die ich habe?“, weiße Wölkchen stiegen vor ihrem Gesicht in die Luft.
„Hm.“, brummte er lediglich. Das war ihm schlichtweg egal, Hauptsache er hatte einen Namen im Kopf, falls sie ihn nerven würde oder dergleichen. Schließlich war es doch vollkommen unhöflich einfach ein Wesen in der Trollsprache zu verfluchen, wenn man nicht mal seinen Namen kannte; eine seltsame Sitte des Trollvolkes.
„Ihr könnt mich Hallâ nennen.“
Bei dem weichen Klang ihres Namens bekam er eine leichte Gänsehaut. Noch nie hatte er einen Namen gehört, der genauso klang, wie eine ruhige Quelle aus dem Traumgebirge. Und noch nie reagierte er so auf einen Namen. Kurz stockte er in seinem Schritt, fasste sich jedoch schnell wieder und schwieg grimmig. Heute war nicht sein Tag, entschied er im Stillen für sich und versuchte so gut wie möglich den ruhigen Blick im Nacken nicht weiter zu beachten.
Hallâ betrachtete fasziniert, wie die Haare des Hauptmannes glitzerten. Sie glaubte sogar zu hören, wie ein leises Klingeln, als würden Eiszapfen gegen Eiszapfen schlagen, zu ihr herüber klang. Brôll hatte seine Haare nach hinten zu einem lässigen Zopf gebunden. Sie schimmerten heller als seine Haut und die eingeflochtenen Perlen in zwei Strähnen stachen durch ihre matten, erdigen Farben hervor, wie ein bunter Hund unter einem Rudel grauer Wölfe. Die Haare des Trolls sahen gleichzeitig weich und hart aus. Hallâ glaubte, sobald man eine Strähne berühren würde, dass sie, wie ein dünner Zapfen aus Eis, brechen oder ebenso glatt und kalt sein würde.
Einige der Trolle, denen sie begegneten grüßten ihren Hauptmann mit freundschaftlicher Demut und zollten mit einem militärischen Gruß ihrem Befehlshaber ihren Respekt. Es gab viele Höhlentrolle, Erdtrolle oder Waldtrolle, Brôll jedoch war der einzige Schneetroll unter ihnen und stach mit seinem Aussehen hervor. Er sah nicht nur anders aus als sie, sondern war etwas größer und sein Körper schien eher für den Kampf gemacht zu sein, als der der anderen. Auch seine gefährliche Eleganz mit der er sich bewegte, hob ihn von den anderen hervor. Und dennoch schien er nicht sehr viel Wert darauf zu legen. Es schien, als stellte er sich, trotz allem, mit den anderen Trollen gleich. Ein seltenes Verhalten seiner Art. Die meisten Trolle, die eine besondere Gabe besaßen oder zu den Fürsten gehörten, waren eitel und hochnäsig. Sie hoben vom Boden der Tatsachen ab und wurden langsam aber unaufhaltsam zu Tyrannen, die nach einer Macht lechzten, die sie nie wirklich mit ihren Händen greifen konnten.
Es war eine traurige Zeit, die sich über das Land gelegt hatte. Wesen, die einst hier gelebt hatten, verschwanden hinter dem Vorhang des Vergessens. Kobolde, Elfen, Feen, Zentauren, all jene die es einst in Scharen gegeben hatten, schienen sich in Luft aufzulösen und endgültig vom Anblick der Welt zu verlöschen.
Hallâ sah erneut zu Brôll. Er war einer von ihnen. Und es versetzte ihr einen tiefen Stich in ihrer alten Seele, wenn sie sich vorstellte, wie der Schneetroll einfach verschwinden würde, sich ohne viel zu sagen in Luft auflöste und mit dem Wind über die Gipfel des Traumgebirges fliegen würde. Sie schluckte kurz und verstand ihren eigenen Gedankengang nicht. Sie war anscheinend bereits so geschwächt, dass selbst ihre Gedanken verflogen und eine schummrige Gehirnmasse hinterließen.
Ein erneutes Zittern durchrüttelte ihren Körper und mit einem unterdrückten Stöhnen schlang sie ihren Mantel enger um sich. Sie spürte wie ihre alte Kraft ihrem Körper entschwand, je mehr Zeit verstrich. Ein trauriger Ausdruck stahl sich in ihre Augen, als sie wehmütig an eine lang vergangene Zeit zurück dachte. Innerlich huschte ein ironisches Lächeln über ihre Lippen, wer hätte je gedacht, dass ihr irgendwann einmal die Zeit davon laufen würde.
Brôll blieb vor einem großen Zelt stehen. Nickte kurz den Wachen zu, die sich vor dem Eingang postiert hatten, dann drehte er seinen Kopf leicht nach hinten und sah Hallâ auffordernd an.
„Da wir nicht auf Besuch vorbereitet sind und ihr unbedingt mit mir sprechen wolltet, werdet ihr die Nacht in meinem Zelt verbringen.“, sagte er, dann schob er das schwere Tuch vor dem Eingang des Zeltes zur Seite und wies sie an hinein zugehen.
Wortlos ging sie an ihm vorbei und betrat ein spartanisch eingerichtetes Lager. Ein einfaches Schlafgemach aus Kissen und Fellen wurde von einem Vorhang vom restlichen Teil des Zeltes abgetrennt. In einer Schale, mit einem guten Durchmesser von zwei Metern, befand sich in der Mitte des Zeltes, hatte man Öl hineingegossen und somit mit dem spärlichen Holz im Gebirge und der zusätzlichen Arbeit des Aufsuchens gespart. Das Öl in der Schale war angezündet und sie verbreitete die wohlige Wärme des Feuers im Inneren des Lagers aus. Mehrere einfache Truhen und Rüstungen, sowie weitere Waffen waren ordentlich in eine Ecke geräumt worden. Ein Tisch, auf dessen Platte mehrere Pergamente gestapelt waren und eine einfache Schale gefüllt mit Obst stand, befand sich unweit von der Feuerschale. Ein dicker Pfahl hielt die Decke aufrecht und ließ es zu, dass Brôll ungerührt stehen konnte, ohne Angst zu haben mit seinem Kopf die Zeltdecke zu streifen.
Hallâ schritt langsam durch den Raum, blieb mit ihrem Blick an einer der Streitäxte hängen, die neben einem breiten, mannshohen Schild lagen.
„Ihr seht nicht gerade so aus, als würdet ihr gerne mit einer Axt in den Kampf ziehen.“, sie lächelte reumütig und erinnerte sich an einen alten, längst verstorbenen Freund.
Brôll, der gerade ebenfalls eingetreten war, hob verwundert die Brauen.
„Und ihr erweckt nicht gerade den Eindruck, als würdet ihr euch mit derartigen Dingen auskennen.“, seine tiefe Stimme schien den ganzen Raum zu erfüllen und in ihrer Brust wieder zu hallen, wie ein Echo in den eisigen Höhen.
Sie wandte sich zu dem Schneetroll um.
„Wie sehe ich denn aus?“, fragte sie und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Eine Geste, die eigenartig lächerlich wirkte, wenn man bedachte wem sie gerade gegenüber stand, und gleichzeitig trug es etwas Erhabenes in sich.
„Wie ein Kind, das zu wenig Sonne im Leben gesehen hat.“, er zuckte mit den Schultern.
Hallâ grinste und zum ersten Mal funkelten ihre Augen frech dabei und ließen ihn in seinen Grübeleien innehalten. Seltsam erstaunt betrachtete er sie dabei. Bis ihr Grinsen sich langsam auflöste, viel zu schnell für einen kleinen Teil seiner Seele, doch er hatte in seiner Ausbildung zum Krieger gelernt Teile seiner Seele gut zu verschließen, schließlich konnte man niemanden töten, wenn die Moral im Kopf lauthals protestiert.
„Ja, so sehe ich wohl aus. Wenigstens habt ihr den Mut mir dies offen entgegen zu sagen.“
„Als ob ich mich vor euch fürchten würde.“, Brôll schnaufte unwillig.
Sie lächelte und es kam ihm vor als bestünde es aus mütterlicher Nachsichtigkeit, doch ihre Worte waren weniger warm als ihr Blick: „Für mich wäre es ein leichtes euch zu besiegen, Hauptmann. Ich dachte ihr würdet einen Gegner niemals unterschätzen, jedenfalls sagte man mir das, als ich mehr über euch herausfinden wollte.“
„Nun, ich hab auch nie behauptet, dass ich euch unterschätze.“, er sah sie durchdringend an und etwas tief in ihrer unvergänglichen Seele, fühlte sich auf eigenartige Weise ertappt und zugleich sanft berührt.
Innerlich schüttelte sie den Kopf.
Ihre Kraft schwand schneller als sie vermutet hatte.
Brôlls abwartender Blick lag schwer auf ihr, und sie atmete erleichtert auf, als er das unangenehme Schweigen zwischen ihnen brach.
„Da ihr die Nacht hier bleibt, könnt ihr mir nun ungestört eure Bitte vortragen.“, er ging auf den Tisch zu und setzte sich auf einen der einfachen Stühle, die um das hölzerne Gestell standen. Mit einer ausschweifenden Geste bot er ihr an, zu ihm zu kommen. Zuerst stand Hallâ noch etwas unschlüssig im Raum, dann trat sie vorsichtig auf ihn zu. Zog sich einen der Stühle heran und setzte sich darauf. Dann sah sie ihm fest in die Augen. Erwiderte seinen Blick stur.
„Wieso fragt ihr nicht?“, abwartend legte sie den Kopf schief.
Ungeduldig knurrte Brôll.
„Weil ich keine Lust darauf habe euch irgendwelche Antworten aus der Nase ziehen zu müssen.“
Sie nickte, schwieg jedoch.
Grollend fuhr er sich in einer harschen Geste durchs Haar, löste so ein paar vereinzelte Strähnen, die ihm lose in die Stirn fielen.
Wieder nickte sie, ohne dass er etwas gefragt hatte. Es erschien ihm, als beantwortete sie eine Frage, die sie sich selbst gestellt hatte.
Erneut stieg ein dunkles Grollen in seiner Kehle auf. Er mochte es nicht zu lange auf etwas zu warten, vor allem, wenn es eine so dringend erscheinende Bitte zu sein schien, wie es in diesem Moment der Fall war. Schließlich wollte sie, ihn den Hauptmann um irgendetwas bitten, nicht umgekehrt.
„Es fällt mir immer etwas leichter, Fragen zu beantworten, die mir verbal gestellt werden, als auf Befehl zu sprechen. Komisch, nicht wahr? Schließlich habe ich eine Bitte an euch und weiß nun nicht, wie ich sie euch mitteilen soll.“
Das Schnauben des Trolls, ließ sie amüsiert aufatmen. Anscheinend war der Schneetroll nicht so geduldig, wie er zu Anfang gewirkt hatte.
„Aber da mir die Zeit zwischen den Fingern zu zerrinnen droht, muss ich es euch irgendwie sagen, sonst könnte es zu spät sein, wenn ihr euch entschieden habt.“, ernst sah sie in die unergründlichen Gletscherseen des Trolls.
Dieser musterte sie aufmerksam, nicht auf kalte Art und Weise, wie sie es oft erlebt hatte, nein, es war eine Musterung, die tief mit einem warmen vertrauten Gefühl verwurzelt war. Langsam lehnte er sich im Stuhl zurück, streckte seine langen Beine aus und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Ein ruhiges Glimmen hatte seine Augen eingenommen, das beinahe eine hypnotische Wirkungen besaß, denn je länger Hallâ in sie hineinschaute, desto mehr versank sie in den Tiefen seiner Seele, die wie ein halbgeöffnetes Tor vor ihr erschien. Dank eines schmalen Schlitzes konnte sie dort hindurch spähen und so einen raschen Blick vom bewegenden Inhalt seines Geistes erhaschen. Was sie sah, warf sie aus ihrer Bahn. Ihre alten Gewohnheiten, ihr nie versiegendes Wissen wurde plötzlich umgekrempelt. Sie sah einen kleinen Teil von der Zukunft des Hauptmannes, doch war es lediglich der frühe Tod, der den Troll ereilen würde. Nichts mehr. Keine Vergangenheit, nur ein geflüstertes Rauschen, das in uralter Sprache leise sang, ihr erzählte von etwas, wofür es keine Worte gab, es jemals passend zu beschreiben. Sie sah lediglich, dass Brôll früh starb, nicht wie, nicht wann oder warum, nicht wodurch. Nur, dass ihm der Tod durch das Alter verwehrt blieb.
Wie erstarrt saß sie da, blickte ihn an, wie eine Maus im Angesicht des Gifttodes durch die Schlange, die sich zischelnd vor ihr aufbaute.
Dann, als sie ein paar Mal geblinzelt hatte, löste sich ihre Starre und mit ihr ein dumpfes Unwohlsein in Brôlls Innerem. Warum, wusste er nicht.
„Wisst ihr, wer ich bin?“ Fragte sie unvermittelt.
Für einen kurzen Augenblick war er verwirrt. Warum stellte sie eine solche Frage? War sie so bedeutend für ihre Bitte? Er runzelte finster die Stirn.
„Sollte ich das?“ Brummte er seine Gegenfrage.
„Ja.“, ruhig entschlüpfte dieses schlichte Wort ihren Lippen und trug dennoch so viel in sich, dass es einem schweren, wolkenverhangenen Gewitterhimmel glich, der seine Last kaum tragen konnte und drohte in einem tobenden Wolkenbruch zusammen zu brechen.
Ein kalter Schauer breitete sich auf seiner Haut aus, während er sie mit unbewegter Miene ansah.
„Nun“, er räusperte sich leicht, „Wer seid ihr?“
Helle Augen, die wie ein Granit waren, dessen erdige Farben sich mit den bunten Farbspielen der Edelsteine vermischten, sahen ihn an. Ruhend und wissend.
„Ich bin der Tod.“


2

Sie wartete. Wartete auf einen Ausbruch des Unglaubens, ein verächtlicher Seufzer, der ihr mitteilte, dass der Hauptmann ihr nicht glauben würde, dass er einem kindlich aussehendem Wesen, wie sie es eines war, so etwas als den Versuch eines ungeliebten Kindes, Aufmerksamkeit zu bekommen abstempelte. Doch der Troll schwieg lediglich. Sagte nichts und starrte ihr stumm in die Augen. Schien tief in ihr Inneres zu sehen, ihre bloße, nackte Seele, wie sie sich unter seinem bohrenden Blick duckte, versuchte hinter einem Wall aus gespielter Gleichgültigkeit sich zu verstecken. Doch Hallâ war plötzlich nicht mehr imstande irgendetwas dagegen zu tun. Nur ihm entgegen zu blicken, in stummer Hoffnung, dass er ihr trotz vieler Widersprüche glauben würde.
Brôll hingegen wusste nicht auf was er hören sollte. Seinen Verstand, der alle verfluchten Täler und Berge in seiner Welt in Bewegung setzte mit seinem warnenden Schrei, dass dieses Kind vor ihm log, dass ihr Geist zwischen den Bergklüften hängen geblieben war und nun allein dort verkümmerte, während ihr Körper dort vor ihm saß, ihm entgegen sah mit einem Blick, der sein Herz weckte. Es aus einem traumlosen Schlaf riss, in dem jegliche Moral, jedes Gefühl unter den Schleier der Müdigkeit gelähmt wurde. Er spürte es plötzlich intensiv in seiner Brust schlagen, als wäre er ein neugeborenes Kind, das die frische Luft zum ersten Mal in seine kleinen Lungen zog. Es schrie, flehte ihn an, Hallâ zu glauben, ihr einfach alles zu glauben, ihr zu vertrauen.
Er stand unweigerlich zwischen zwei Fronten. Seinem Verstand und seinem Herz.
Er seufzte lautlos. Für den folgenden Verlauf dieses Gesprächs, sollte er sich zwischen diesen beiden unterschiedlichen Parteien entscheiden.
„Ich weiß, dass sich dies nicht gerade…“, Hallâ wollte irgendetwas sagen, diese erdrückende Stille brechen, in der sie zu ersticken drohte. Hilflos verflocht sie ihre Finger ineinander, sah auf sie hinab, während sie sich unruhig bewegte. Sie schluckte nervös. Wie sollte sie nun fortfahren? Innerlich seufzte sie auf. Sie wusste es nicht. Es lag in der Hand des Trolls, wie es nun weitergehen würde. Entweder er jagte sie als Verrückte vom Lager fort, in die Schluchten der Berge oder er hörte sie bis zum Schluss an.
Ihre Schultern sackten leicht in sich zusammen. Nein, er würde sie nicht anhören, nicht nachdem sie völlig taktlos eröffnet hatte, wer sie wirklich war.
Brôll verfolgte jede ihrer Gefühlsregungen, die über ihr Gesicht huschten, wie die Schatten auf See, die sich im spiegelnden Tanz des Lichts an der Wasseroberfläche brachen. Er war fasziniert davon.
„Könnt ihr es irgendwie… beweisen?“, fragte er und er zuckte innerlich leicht zusammen. Seine Stimme hörte sich unnatürlich laut und grollend an. Sein Blick huschte zurück zu Hallâ und verflocht sich mit dem ihren.
Es war als atmete eine ganze Welt auf, als ein erleichtertes Lächeln kurz ihre Mundwinkel hob. Für einen winzigen Augenblick fühlte er sich, wie der Retter einer Welt, die er noch nicht mal kannte. Er runzelte die Stirn. Ein Retter? Seit wann verglich er sich mit solch romantischen Helden aus irgendwelchen altertümlichen Sagen? Er war kein Retter, sondern ein einsamer Bär aus dem eisigen Norden, der seine letzten ruhelosen Runden zog, ehe er sich ins Verderben stürzen würde.
„Ihr glaubt mir?“
Ihre zögerliche Stimme, die einen wortlosen Schwall an Erleichterung in sich trug, an stummer Hoffnung nur bei dem Gedanken, dass er ihr glaubte, ließ ihn unwillkürlich erzittern, rüttelte an einem Teil von ihm, den er bis jetzt nicht gekannt hatte. Konnte ein Wesen sich so stark nach dem Glauben eines anderen sehnen, wie sie es tat? Brôll wusste es nicht.
„Ich werde euch zu hören, dass mit dem Glauben ist eine andere Sache.“, brummelte er und senkte kurz den Blick. Er wollte nicht sehen, wie ihre Hoffnung starb, doch das leise aufatmen von ihr, brachte ihn wieder dazu, sie anzusehen.
„Gut.“, sie nickte, dabei tänzelten vereinzelte Strähnen um ihr Gesicht, ließen sie so zart aussehen, dass Brôll glaubte, dass ein einfacher Windstoß sie zerbrechen könnte.
„Nun?“, auffordernd hob er eine Braue.
„Ich benötige euch und eure Truppen für die Aufbereitung meines Heeres.“, sie hob die Hand als er etwas erwidern wollte, hatte sie doch früh genug den auflodernden Zorn in seinem Blick bemerkt. Beschwichtigend fuhr sie fort: „Das Heer ist nicht dazu gedacht für eine Machtdemonstration, nein, es ist dafür, dass Wôrgar endgültig vom Anblick dieser Welt verschwindet.“, erneut wollte er etwas dagegen erheben, als sie ungerührt weitersprach: „Und es dient als Ablenkung, damit jemand die Waffe Wôrgars zerstören kann, mit Hilfe des verlorenen Königs.“
„Ihr wollt gegen den Herrscher der Nachtklüfte kämpfen? Gegen diese verfluchte Seele einer tyrannischen Bestie?“, er sprang auf.
Von der Wut plötzlich verdunkelt, funkelten sie die Seelenspiegel des Trolls an.
Ein Gefühl zersplitterter Hoffnung und dunkler Bedrängnis übermannte sie.
Er stand wie ein großes Unheil vor ihr, die Muskeln angespannt, den zornigen Blick zu ihr gewandt, in dem sie unverhohlene Abneigung las. Es schmerzte, war schlimmer als jegliche Pein, die sie je erlebt hatte und auf unerklärliche Weise wollte sie, dass der Hauptmann ihr vertraute, sie nicht so ansah, ihr einen anderen Blick aus seinen schönen, klaren Gletscherseen schenkte. Sie wollte zu gerne sehen, wie warmes Licht über die Seen fiel und die Oberfläche in tausende Diamanten verwandelte.
„Hauptmann, bitte hört mich an!“, verzweifelt zuckte sie zusammen als er unwirsch knurrte, sich rüde übers Gesicht fuhr und grollend die Augen schloss.
Sie wollte aufstehen, ihn beruhigen, ihm eine Hand auf den Arm legen, der so viel größer war als der ihre.
Noch nie in ihrem Leben, fühlte sie sich so machtlos, so vollkommen hilflos, wie im Angesichts des Hauptmannes.
Dieser begann seine Nasenwurzel zu massieren. Dieses Kind brachte ihn noch um seinen Verstand.
„Bitte…“- „Seid still!“, knurrte er barsch und öffnete wieder seine Augen.
Ihr Blick ließ ihn innerlich gefrieren. Er spürte, wie eine eisige Hand sich in sein Fleisch krallte und daran zu zerren begann, während die brennende Kälte sich durch seine Adern fraß.
Dann, ganz leise seufzte sie auf. Ein müder Ausdruck stahl sich in ihre endlosen Augen, als hätte sie viel zu viel gesehen und erlebt. Resigniert ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen, stand ebenfalls auf und legte das gelbliche Pergament auf den Tisch.
„Auch wenn ihr es nicht hören wollt, es wird Krieg geben und ich will verhindern, dass Wôrgar an die Macht über diese Welt gelangt, die er sich so sehnlich wünscht.“, bei diesen Worten legte sie unbewusst ihre Hand auf ihr Herz, als befürchtete sie, dass der schreckliche Herr der Nachtklüfte es ihr aus der Brust reißen würde.
Brôll regte sich nicht, stand da, wie eine Statue, während er sie zornig anfunkelte. Der Ausruf, sie solle endlich gehen, verschwinden, stand so deutlich in seinen Augen, dass sie innerlich zu zittern begann. Eine leere Trauer begann mit bebenden Fingern hauchzart über ihr Herz zu streifen, ließen es erkalten unter dem Blick des Trolls und seiner unverhohlenen Abscheu ihr gegenüber. Es tat weh, so von den Augen eines anderen durchbohrt zu werden.
Sie zog ihren Mantel enger um sich. Mochte es draußen noch so kalt sein, es würde ihr nichts ausmachen, war es doch kein Vergleich zu dem, was in ihr unaufhörlich tobte. Ein Ozean, dessen unendliche Weiten vom kalten Hauch des Winters gefror, eine glitzernde, erbarmungslose Eisschicht über die tanzenden Wellen ausbreitete, das pulsierende Leben darunter einschloss, als wolle er es schützen, vor der Wärme eines unsagbar weiten Frühlings. Hallâ sah ihn an, so unendlich verloren, dass Brôll zusehen glaubte, wie sie orientierungslos über die Eisdecken des Ozean schritt, nach einem Anhaltspunkt zu suchen schien, nach etwas Ausschau hielt, das er nicht benennen konnte.
Als sie ihren Mund öffnete um etwas zu sagen, brachte sie keinen Ton heraus. Sie schämte sich, fühlte sich befangen und traute sich nicht dem aufgebrachten Troll zu zeigen, wie ernst es ihr bei dieser Sache war.
So ging sie mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf an ihm vorbei.
Zog einen traurig wispernden Windhauch mit sich, der ihren angenehmen Geruch mit sich trug und Brôll sanft über die bloßen Arme strich. Eine wohlige Gänsehaut kroch seinen Körper entlang, breitete sich mit flammenden Zungen von seinem Arm aus, bis zu seinem Nacken, doch stur in seinem Zorn verfangen, zollte er dieser Reaktion seines Körper keine Beachtung. Der Troll lauschte ihren Schritten, hörte wie der Eingang des Zeltes raschelte und dann war alles still. Schrecklich still.
Seufzend fuhr er sich durch seine Haare.
Irgendetwas stimmte nicht. Alles verlangte mit schmerzhafter Intensität danach, dem Kind – Hallâ- zu glauben, ihr Wort für Wort zu glauben, ihr zu vertrauen. Doch es war ein einziges Selbstmordunterfangen, wenn man sich traute sich gegen Wôrgar zu erheben, ihm entgegen zu treten und zu kämpfen.
Bei dem Namen, wallte Hass im Herzen des Trolls auf.
Wôrgar, der Name rann wie ätzende Säure durch seine Gedanken, zerstörte jegliche Vernunft, wütete wie eine grässliche Krankheit im Herzen des Hauptmannes, säte die tödlichen Pflanzen der Rache in die Tiefen seiner Seele. Er knurrte. Warum war er nicht einverstanden mit Hallâs Vorschlag gewesen? Warum hatte er, die Chance seinen größten Feind zu töten, nicht am Schopfe gepackt? Weil ein zierliches Kind ihn darum bat? Weil, jenes Kind, ihm gesagt hatte, wer beziehungsweise was es in Wirklichkeit war? Weil der Tod selbst zu schwach war um Wôrgar zu besiegen? Denn zu diesem Schluss kam Brôll, als er an die seltsame Bitte zurück dachte. Konnte es wirklich sein, dass das mächtigste und älteste Wesen in seiner Welt, aus unerfindlichen Gründen zu schwach war? War es schon so weit gekommen?
Und warum, bei den Geschlechtsteilen seiner Götter, hatte er das unwirkliche Gefühl, dass etwas fehlte?
Ein halb unterdrückter Wutschrei entkam seinen Lippen und ließ die Wachen am Eingang erschrocken zusammen zucken.
Was war nur passiert? stellten sie sich stumm die Frage.
Währenddessen stolperte Hallâ über Berggeröll und versuchte so viel Abstand zwischen dem Lager, und somit dem Hauptmann zu bekommen, wie nur irgendwie möglich. Doch der zitternde Schmerz, der von ihrer lähmenden Trauer unterstützt wurde, nagte an ihren Knochen, biss sich dort fest und verlangsamte ihr Tempo.
Mit einem undefinierbaren Laut ließ sie sich gegen einen scharfkantigen Felsen fallen und schloss kurz ihre Augen. Nur für einen Augenblick durchatmen, dann würde sie weiter gehen.
Irgendwo in weiter Ferne vernahm sie den vertrauten Schrei eines Adlers, der sich auf seine Beute niederließ. Ein verzweifelter Laut entrang sich ihrer Kehle. Frost klirrte in ihren Lugen, als der kalte Wind der Berge über sie strich, sie mit kalten Fingern sanft berührte. Tränen eines langen Lebens schimmerten in ihren Augen, brachten den Granit zum Schwimmen, bis er unter einem dichten Nebel verborgen war.
Zitternd hob sie eine Hand, drückte sie an jene Stelle, wo ihr Herz unregelmäßig stolpernd Klopfte, verzweifelte Hüpfer machte um wieder in den stetigen, monotonen Rhythmus zurück zu kommen, den es vor der Begegnung mit dem Hauptmann gehabt hatte.
Sie lehnte sich weiter zurück, enger gegen den rauen Stein in ihren Rücken und verlor sich in einem zeitlosen Augenblick, lauschte dem Atmen der Berge, wie sie leise rauschend Luft in ihre Lungen zogen und es mit einem bebenden Aufstöhnen alles wieder hinaus in die Welt schickten, frischer, lebendiger, vom Ruß ihrer Seele angefüllt, der sich als feine Staubpartikel im Wind wiederfand. Sie spürte, wie pulsierendes Leben in den steinernen Adern floss, hörte die Seelen der Berge, wie sie in ihrer ruhigen Sprache mit einander kommunizierten, sie empfand es beinahe als stetiger Singsang, der sie beruhigte, ihr half mit Dingen fertig zu werden, die sie nicht verstand.
Langsam setzte sie sich auf, blickte ein letztes Mal in die Richtung, in der das Lager der Trolle lag, sah vor ihrem inneren Auge den Schneetroll, wie er mit einem seiner Soldaten kämpfte, weil dieser große Reden geschwungen hatte und somit sich gegen seinen Befehlshaber gestellt hatte.
Sie lächelte ausdruckslos. Dann wandte sie sich endgültig vom Anblick ihrer Vorstellung ab und begann mit dem Abstieg. Sie musste zurück in ihre Heimat.
Auch wenn Brôll ihr nicht helfen wollte, so musste sie dem Schicksal einen Schubs geben, es in die richtige Richtung schieben, in dem sie Wôrgar daran hinderte am Ende seines Feldzuges sie zu vernichten. Sie musste es schaffen der Zeit und Wôrgars Schergen zu entkommen.

3

Der Kobold musterte sie aus seinen moosigen Augen. Eins seiner langen, spitzen Ohren hing etwas herab und gab ihm das Aussehen einer geknickten Katze. Sein Kinn war spitz und feine, lange Härchen sprossen an den Spitzen seiner Ohren, sowie an seinen Wangenknochen. Seine lange, immer zu einem kleinen Rümpfen gebeugte Nase, stach in seinem Gesicht hervor. Seine Haut bestand aus den Farben des Waldbodens. Ein mattes Grün, das seine Art kennzeichnete.
Die Besorgnis verdunkelte das Moosgrün, ließ es wie ein tiefes Waldgrün aussehen.
„Herrin?“, flüsterte er mit seiner krächzenden Stimme.
Regen prasselte gegen die großen Fenster. Füllte den Saal mit seiner Melodie. Wind peitschte auf, schleuderte mehr Tropfen gegen die Scheiben, die in raschen Rinnsalen am glatten Glas hinab liefen, dort kleine Spuren hinterließen, die für den Moment existierten um wenige Sekunden später von neuen ersetzt zu werden.
Hallâ folgte mit ihrem Blick einem kleinen Regenrinnsal, wie es sich mit anderen vermischte und seinen Weg an der Oberfläche des Fensters suchte. Sie sah auf, als ein greller Blitz den nachtschwarzen Himmel durchzuckte. Kurz darauf folgte ihm ein tiefes Donnergrollen. Eine prickelnde Gänsehaut breitete sich über ihrem Körper aus. Seufzend folgte sie mit ihren Fingern den Regentropfen, während das stetige Prasseln sie einzulullen schien.
„Herrin?“, erneut durchbrach der Kobold die Stille.
Sie sah nicht auf. Blickte weiterhin durch das Glas nach draußen. Betrachtete stumm den weißen Wald, welcher sich gespenstig von der Dunkelheit der Gewitternacht hervorhob. Ein silbriger Schimmer lag über dem kahlem Geäst, das sich wie Finger ineinander verflocht und sich krümmend gen Himmel reckte. Sie konnte die geisterhaften Schemen der Withras sehen, wie sie in ihren schattenhaften Gewändern durch das Unterholz schritten, stumm Klagelieder sagen, die von ihren verstorbenen Liebsten erzählten. Unsterbliche, die einst Sterbliche liebten und nun eine Existenz zwischen den Welten führten, eingehüllt im Schleier ihrer tragenden Trauer.
Hallâs Herz stolperte bei dem Gedanken an den Hauptmann. Es war einerseits ein warmes, glühendes Gefühl und andererseits, glaubte sie daran zu ersticken. Ohne ihr bewusstes Zutun legte sich eine ihrer Hände auf jene Stelle, wo ihr Herz schlug. Wortlos klammerte sich die Hand in den sanften Stoff, der ihren Körper umhüllte.
„Soll ich das Feuer weiter schüren?“, der Kobold sah verzweifelt aus. Völlig hilflos. Und er kam sich auch vollkommen überflüssig vor, etwas, was seine Art nicht vertrug, sonst wurden sie ziemlich nervös und fingen an herum zu zappeln.
Mit einem schmalen Lächeln wandte sie sich ihm zu.
„Nein.“, sie schüttelte den Kopf.
Vermochte das Feuer im Kamin nicht die Kälte in ihrem Inneren zu vertreiben.
Der Kobold seufzte laut.
„Seid ihr von den Bergen zurückgekehrt seid, zieht ihr euch immer mehr zurück. Was ist denn nur dort oben passiert?“, er rang mit seinen langen, behaarten Händen und schaute zu ihr auf.
„Kreh, ich habe lediglich zu viel von den Trollen erhofft. Sie sind es leid für andere zu sterben, nur weil sie gefürchtete Krieger sind.“
„Barbaren, trifft es wohl eher! Bei allem was man von ihnen hört, müssen sie grauenvolle Wesen sein, hässlich und furchtbar entstellt!“, Kreh fuchtelte mit seinen langen Ärmchen in der Luft herum, um so sein Entsetzen darüber, dass Hallâ einfach ohne etwas zu sagen, zu diesen Trollen gegangen war, auszudrücken.
Hallâ betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick. Er war angefüllt von einer Wärme, die nicht ihm galt, sondern jemand anderem und gleichzeitig Blitzte eine stumme Warnung in ihren unendlichen Seelenspiegeln auf.
„Die Trolle, die ich getroffen habe, waren sehr… zuvorkommend und, was ihr Äußerliches betrifft, keinesfalls so grässlich, wie es die meisten Geschichten über sie sagen… Sie waren recht… ansehnlich.“ Eine feine Röte stieg ihr ins Gesicht, als sie daran zurück dachte, wie der Hauptmann halbnackt gegen einen seiner Kameraden gekämpft hatte. Sie sah ihn, wie er bedrohlich zu ihr rüber kam und dennoch die unvergängliche Schönheit in sich trug, wie die majestätischen Gletscher. Sie sah seine unglaublich anmutigen und dennoch alltäglichen Bewegungen. Fühlte seine Blicke auf sich, als stünde er direkt neben ihr. Nein, ansehnlich traf es nicht. Für Hauptmann Brôll schien es kein passendes Wort zu geben, das ihn beschrieb. Er war stark. Ein grollender Orkan. Ein naturgewaltiger Gletscher. Ein einsamer Schneesturm. Eine uneinnehmbar erscheinende Eislandschaft.
Kreh klappte der Mund auf. Was konnte seine Herrin bei diesen Trollen nur erlebt haben, dass sie gleichzeitig liebevoll dreinblicken konnte, während ein schmerzender Ausdruck um ihre Lippen huschte.
„Hat man euch dort etwas angetan?“ Er starrte sie an. Bereit in die bergigen Höhen zu gehen und den verantwortlichen Troll zu massakrieren, eine Eigenschaft die sein Volk bis zur Perfektion beherrschte.
Doch Hallâ schüttelte nur den Kopf.
Wie sollte sie jemanden von etwas erzählen, dass sie selbst noch nicht so recht verstand.
„Ich sollte jemanden in den vergangenen Wald schicken.“
„Ihr solltet zu aller erst ins Bett gehen!“, Kreh blitzte sie wütend an.
„Mit Verlaub, ihr seht grauenvoll aus und euch steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Die Körperliche, sowie die Geistliche. Wir können keinen halbtoten Tod gebrauchen und das wisst ihr.“ Kreh verschränkte die Arme vor der haarigen Brust und hob angriffslustig das spitze Kinn.
„Aber.“ Wandte sie halbherzig ein, wurde jedoch von einer rüden Geste unterbrochen.
„Ihr gehört ins Bett und zwar sofort!“, der Kobold rümpfte die Nase.
Seit wann war er zur Anstandsdame rekrutiert worden? Innerlich musste er bei dem Gedanken jedoch grinsen. Die Anstandsdame vom Tod, eine selten skurrile Vorstellung.

*

Die Nacht verwandelte sich zu einem wütenden Untier, das sich brüllend gegen unsichtbare Gitterstäbe warf, Wind als seine scharfen Krallen und zugleich trug er die furchteinflößende Stimme der Bestie in sich. Heulend riss er an den Zelten der Trolle. Zerrte wütend an ihnen, fauchte jeden zornig an, sobald er sich wagen sollte aus dem warmen Inneren seines Lagers zu kriechen. Selbst die Wachen hatten sich einen notdürftigen Unterstand gebaut, um wenigstens ein bisschen vor dem tobenden Unwetter geschützt zu sein, das, kaum war die Sonne untergegangen, ausgebrochen war und nun stundenlang tobte.
Einzig ein Troll stand, wie ein unbezwingbarer Fels da.
Brôll starrte ausdrucklos und mit leerem Blick zu jener Stelle, wo die Sonne dem Horizont ihren feurigroten Kuss aufgedrückt hatte. Er konnte es nicht beschreiben, doch ein Gefühl, so fesselnd und stark wie die Strömungen im Fluss, hielt ihn dort. Zwang ihn dazu reglos dazustehen und dem Sturm zu trotzen, der unaufhörlich an ihm riss. Seine Haare peitschten gegen sein Gesicht, fachten einen dumpfen Schmerz an, der von jenem Empfinden, das der Beschreibung jeglicher Worte entflog, überlagert wurde. Es war ein intensives Leuchten eines edlen Steines, der unter all den prunkvollen Dingen einer Schatztruhe mit seiner Einfachheit und seiner unvergleichlichen Bescheidenheit hervorstach.
Brôll senkte den Blick, sah an sich herab, betrachtete jene Stelle an seiner Brust, wo stetig sein Herz wütend schlug. Gegen seinen Brustkorb hämmerte, angetrieben von Hass. Doch nun, schien etwas Neues sein Herz zum Schlagen zu bewegen, etwas, das genauso tödlich und verzweifelt zu sein schien, wie sein Rachedurst.
Er untersagte sich dem Drang, dorthin zu fassen wo sein Herz war.
Er empfand es als rühmliche Schwäche, würde er sich diese, verunsichert anmutende Geste gestatten. Auch wenn es völlig sinnlos war, da ihn ja niemand sehen konnte, reichte ihm das Wissen, dass er es getan hatte, um sich diese einfache Bewegung zu untersagen.
Und doch spürte er, wie der tobende Sturm ihm sagte, dass es in Ordnung war, zu erfühlen ob er noch lebte, nicht nur existierte, sondern wahrhaftig, mit schlagendem Herzen und pulsierender Seele lebte.
Brôll hob den Kopf, schloss die bereits tränenden Augen, die der Wind stetig gereizt hatte und lauschte einer sanften Stimme, die so vieles in sich trug, die in ihm so vieles geweckt hatte und die nun aus seiner Erinnerung zu ihm sprach.
Er sah Hallâ, wie sie sich zögernd unter dem Zaun beugte um an den Rand des Trainingsplatzes zu gelangen. Ihre Augen, die wie flüssiger Granit waren, gespickt mit leuchtenden Edelsteinen, die eine wundersame Farbe zauberten. Er sah ihre leuchtende Iris, erblickte durch sie hindurch eine Seele, die so alt und verletzlich war, dass es ihn innerlich vor Schmerzen krümmte, wenn er zurück dachte, dass er ihr nicht glauben wollte, wer sie war.
Er hatte es ihr geglaubt. Von Anfang an, als sein Blick sich zum ersten Mal mit dem ihren gekreuzt hatte, hatte er gewusst, dass sie der Tod war- das älteste Wesen der Welt. Doch Brôll sah in ihr nicht dieses alte Wesen, sondern es erschien ihm, dass er sie sah. Ihr wahres Ich, ihr wahres Selbst.
Der Wind heulte auf, riss erneut an seinen Haaren, packte ihn, drückte ihn ein, zwei Schritte nach vorne und die Erkenntnis, dass er jetzt wieder zurück in sein Zelt gehen sollte, bevor er von einem herumliegenden Gegenstand erschlagen werden würde, rüttelte ihn wach. Einen letzten Blick gen Himmel werfend, trollte er sich murrend zurück in sein Zelt.
Er hatte sich endgültig entschieden, was die Bitte des Mädchens betraf.

4

Hallâ sah von ihrem Buch auf.
Das keifende Gezänk der beiden Kobolde hatte sie ungerührt ausgeblendet, doch das Geräusch von bröckelndem Stein ließ sie aufhorchen. Es war nicht laut, ganz leise kullerten Steinchen über das schwarze Gemäuer des Turms. Kratzten kurz über das Glas der Fenster, dann fielen die Steine tränengleich gen Boden.
Langsam ließ sie ihr Buch sinken.
Die Wächter waren erwacht.
Das hieß, dass sich Eindringlinge ungefragt Zugang in ihr Land verschafften. Mit einem seltsam beunruhigten Gefühl im Magen erhob sie sich, legte das Buch zur Seite und hastete, nach einem kurzen Blick auf die zwei sich streitende Kobolde, aus dem Saal.
Ein dröhnendes Krachen ließ den Turm erzittern. Gefolgt von einem markerschütternden Schrei, der sich tief in die Seelen der Wesen grub und dort grauenvolle Angst säte. Nein, schoss es Hallâ noch durch den Kopf, während sie die endlosen Treppen nach unten stolperte.

Pfeifender Wind schlug ihr entgegen, als sie mit einem leisen Ächzen die schweren Tore aufstieß und hinaustrat. Ihr einfaches Kleid flatterte, wie ein geisterhafter Schleier um ihren Körper, wurde vom säuselnden Wind hin und her gerissen. Ihre hellen Haare peitschten ihr ins Gesicht, als sie suchend nach oben in den dunklen Himmel schaute.
Erneut konnte Hallâ das leise Knirschen von bröckelndem Stein wahrnehmen. Dann erschütterte ein lauter Knall das Plateau, auf dem sich der Turm befand. Dunkle Schatten lösten sich von den oberen Zinnen, kreischten wütend auf und ließen sich pfeilschnell gen Boden fallen.
Hallâ musste, trotz des Wissens, dass die Wächter ihr nie etwas antun würden, erschrocken Luftholen, als sich die schwarzen Körper vor ihr erhoben. Stechend grüne Augen flammten kurz auf, ehe die Wächter ihre Schwingen ausbreiteten und ihren grässlichen Körper in die Luft hoben. Leise klangen ihre Schläge, als sie sich beinahe lautlos fortbewegten. Lauernd begannen sie Kreise um den Turm und die Ebene, sowie den weißen Wald zu ziehen. Es wurde still. Der Wind erstarb. Das Flüstern der Bäume ebbte ab. Und die Trauerlieder der Withras verklangen. Die dunkle Magie der Wächter verhüllte alles in ein ruhendes Schweigen.
Hallâ war für winzige Augenblicke vollkommen erstarrt.
Dann, als die Stimme Krehs von den steinernen Treppen herüberhallte, wurde sie geweckt.
Panisch zuckte ihr Blick über das Land. Wo? Wo haben sie den Eindringling gesichtet?
Sie lief an den steilen Abhang des Plateaus, beugte sich weit über die scharfkantigen Felsen, stützte sich an ihnen ab um sich noch weiter vor zu lehnen. Hektisch flogen ihre Augen zu den Wächtern und wieder zurück auf das Land.
„Wo?“, flüsterte sie gegen die Stille, doch selbst ihre eigene Stimme wurde von ihr verschluckt.
Sie fuhr herum.
„Kreh, sagt mir wo man den Eindringling gesichtet hat.“
Der Kobold zuckte verwirrt mit den Schultern. Er hatte selbst erst erfahren, dass jemand sich ungefragt auf Hallâs Land bewegte. Vielleicht ein Spion von Wôrgar, dachte er. Doch eine Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken. Er konnte gerade noch sehen, wie eine kleine Gestalt die gefährlichen Treppen vom Plateau runter zur Ebene huschte. Er konnte gerade noch „Hallâ“ rufen, da hatte seine Herrin das Ende der Stufen erreicht und lief, wie ein schemenhafter Nebelschatten über die Ebene, auf den weißen Wald zu.
„Verflucht, hätte mich einer davor warnen können, dass der Tod so verdammt stur ist, dann wäre ich nie hierher gegangen!“, brummelte Kreh, bevor auch er sich daran machte die Umgebung des Turms zu verlassen, dabei leise Verwünschungen vor sich hin murmelnd.

*

Brôll warf sich in einer behändigen Geste seinen Mantel um. Flauschiges Fell umwarb seine breiten Schultern, ein lederner Brustpanzer verbarg seinen Oberkörper, alte Runen waren darauf abgebildet. Mit einem Ruck hatte er sich seine Armschienen übergezogen. Dunkel blitzten die spitzen Dornen an der Seite der Schienen auf, gefährliche Waffen im Kampf. Es waren spitze Klingen, getarnt unter einer einfachen Schicht Farbe. Er warf noch einen prüfenden Blick auf den Rest seiner Rüstung, bevor er sein Schwert in den Waffengurt steckte. Kurz zupfte er an dem Fellmantel, um zu überprüfen, ob dieser nicht an den zwei Streitäxten hängen bleiben würde, die er auf seinem Rücken gesurrt hatte.
Langsam hob er den Blick, schaute sich den spektakulären Feuertanz der Morgenröte an. Genoss diesen friedlichen Augenblick in seinem Leben.
„Hauptmann, es ist alles bereit für den Aufbruch.“ Sagte ein Rekrut leise.
Brôll nickte.
„Dann los.“, er wandte sich von dem roten Flammenspiel ab, hatte es doch nicht vermocht ihn innerlich aufzuwärmen, was es sonst vor jeder Schlacht getan hatte.
Er schüttelte stumm den Kopf, den verwirrten Blick seiner Soldaten ignorierend. Er hatte sich verändert, daran gab es keinen Zweifel. Es erschreckte ihn nur, dass er sich so schnell verändert hatte. Wie ein plötzliches Sommergewitter, hatte sich etwas in ihm gewandelt, war mit flinken Fingern aus seinem Kokon geschlüpft und nistete sich nun in seinem Gehirn ein. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

*

Der Schrei des Wächters veranlasste Hallâ dazu zusammen zu zucken.
Mit hämmernden Herzen und keuchendem Atem kämpfte sie sich durch das Unterholz. Die weißen Bäume schimmerten silbern in dem diffusen Licht, welches von den Baumstämmen entsendet wurde. Es umspielte ihre zarten Gesichtszüge, verfing sich an ihren Lippen, spiegelte sich in ihren aufgerissenen Augen wieder. Erneut zuckte Hallâ zusammen, als sie das herannahende Flügelschlagen der Wächter hörte. Ein leises Geräusch, das im Wald unterging und dennoch hallte es laut, wie ein Wiederruf des Donners in den Bergen.
Nein, bitte nicht. Lasst mich zuerst den Eindringling sehen!
Tränen, wie feine Perlen, brannten in ihren Augen.
Granit verschwamm unter dem nebligen Schleier von durchsichtigem Regen, der sanft über ihn fiel, wie ein schwerer Vorhang.
Ein Keuchen klammerte sich in ihre Brust. Erstickte ihren Atem mit zitternden Fingern. Ein stechender Schmerz durchbohrte ihre Seiten, fraß sich, wie ein gieriger Guhl durch ihre Eingeweide, entfachte alles mit einem quälenden, alles abtötendem Feuer. Sie wollte aufschreien, doch ihre Kehle wurde von unsichtbaren Fäden zu geschnürt, drückten den Kehlkopf in den Hals, untersagten ihrem Körper die Luftzufuhr. Mit bebenden Lippen hatte sie ihren Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Ihre Hände suchten nach dem Punkt, wo sie die meisten Schmerzen empfand, doch es erschien ihr, als würden tausende Fäuste auf sie einprügeln, während unzählige Klingen sie zusätzlich schändeten, in sie einstachen und mit grässlichen Wiederhaken wieder herausgezogen wurden. Ihr Blickfeld verschwamm unter der Last der Tränen und wurde von einem alles umfassendem Schwarz abgelöst.
Blinde Tränen perlten über ihre Wangen, rannen in das laubbedeckte Erdreich. Hallâ sackte in sich zusammen, beide Hände fest gegen ihre Brust gepresst, direkt über ihrem Herzen. Ihre Seele rief einen Namen, den sie zum ersten Mal in den Bergen vernommen hatte. Ein Name, der wie wohliger Balsam über die übelriechende Panik in ihrem Inneren hinwegstrich.
„Brôll.“, entwich es mit einem letzten Atemzug ihren Lippen.

5

Ein nie gekannter Schmerz biss mit unsichtbaren Reißzähnen in seine Brust.
Ungewollt grunzte Brôll kurz auf. Spürte, wie für einen winzigen Augenblick seine Atmung stolperte, das stetige Pochen seines Herzens für einen Wimpernschlag inne hielt, um dann mit hektischen Schlägen fortfuhr Blut in seinen Körper zu pumpen.
Er sah an sich herab. Konnte keine Verletzung oder dergleichen entdecken, was der Auslöser dieses nie gefühlten Schmerzes war.
Langsam hob er wieder den Blick, ließ ihn über die trostlose Ebene gleiten, die sich vor ihm erstreckte. Sie hatten es bis zum Fuß des Traumgebirges geschafft, noch ehe die Sonne den Mittelpunkt des Himmels erreicht hatte. Sie waren im raschen Tempo losmarschiert und behielten es auch stetig bei. Brôll war daran gewöhnt, gnadenlose Märsche über mehrere hunderte von Meilen zu beschreiten, ohne groß Rast zu machen. Also konnte, dieser kurz anmutenden Marsch, nicht mit diesem Gefühl zu tun haben. Dennoch war es da gewesen, nur kurz, aber schmerzhaft, war es über ihn gerollt und hatte seinen Körper zu einer eigenartigen Reaktion gezwungen.
Hinter sich hörte er das gleichmäßige Getrippel seiner Männer. Hin und wieder vernahm er ein schweres Ausatmen, das nach einem murrenden Schnauben klang. Doch sonst schwiegen sie. Konzentrierten sich einzig darauf, ihre Kraft ordentlich einzuteilen.
Rocht, sein Freund aus Kindertagen, sah ihn kurz mit gehobener Braue an. Sagte jedoch nichts. Er wusste, wann er zu schweigen hatte, konnte dies bei Brôll auf eigenartig präziser Weise genau erspüren.
Erst als sie einen größeren Abstand zu den grauen Felsen des Gebirges hatten, begann Rocht zu sprechen:
„Und du bist dir sicher, dass wir das tun sollten?“, die Stimme Rochts hatte einen seltsamen krächzenden Klang. Er war ein einfacher Troll. Seine Art gab es zu tausenden auf dieser Welt und sie hatten keinerlei Verluste zu beklagen. Warum Rocht so klang, als hätte er einen Raben verschluckt, lag daran, dass man ihm einst die Kehle durchgeschnitten hatte. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt, doch musste er dafür mit seiner Stimme bezahlen. Rocht selbst, behauptete stets, dass der Tod ihm eine zweite Chance gegeben hatte und ihn aus seinen Armen entlassen hatte. Er sagte immer, dass er den Tod zwar gesehen hatte, ihn jedoch nicht beschreiben konnte. „Er war von einem geisterhaften Schleier umgeben. Ich hab zwar Umrisse erkennen können, doch für mehr, war der Schleier zu dicht verwebt.“, meinte er immer, wenn man ihm nach seiner Begegnung mit dem ältesten Wesen fragte.
„Ja.“, brummte Brôll.
„Und das liegt nicht an dem unheimlichen Besuch des Menschenmädchens?“, hackte Rocht nach.
Sein Hauptmann verdrehte genervt die Augen.
„Du bist schlimmer als eine Horde wilder Guhls.“
Zur Antwort zuckte Rocht mit den Schultern.
„Und du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“, krächzte er und ließ seinen Blick über die Ebene gleiten. Sie war karg, vollkommen leer von irgendwelchem Leben. Viele unzählige Geschichten rankten sich um dieses Land. In vielen Karten und Büchern war es unter dem schlichten Namen „die Totenländer“ bekannt. Tot, war das passende Wort für diese Gegend. Es gab nur eine endlos erscheinende Weite mit vergilbten, teils verbrannten Gras, welches sich wie ein Teppich voller Mottenlöcher über das Land zog. Vereinzeltes Geröll bildete kleine Lachen von schwarzen Steinen, die einen seltsamen Glanz verströmten. Selbst die Luft war trocken und ohne irgendwelche Düfte.
„Ich bin dir auch keine Antwort schuldig.“, Brôll betrachtete mit finsterer Miene den Horizont. In der Ferne konnte er ein schemenhaftes Schimmern sehen. War das der legendäre weiße Wald? Ein Wald, erschaffen vom Tode selbst, damit jene trauernde Seelen der Unsterblichen, die für ewig leben würden, einen Ort hatten, an dem sie ihre Klagen immer und immer wieder Ausdruck verleihen konnten?
„Stimmt.“ Rocht nickte.
„Aber du könntest sie auch einfach so beantworten, oder kratzt das zu sehr am Stolz des Schneetrolls?“, er grinste und blitzte ihn unter seiner ausgeprägten Stirn an.
Brôll schnaufte abfällig.
Sein Freund schüttelte mit einem theatralischen Seufzer den Kopf: „Also doch zu stolz.“
„Warum kannst du niemand anderes mit deinen Fragen nerven, Rocht?“, Brôll fuhr sich über das Gesicht. Er konnte das unruhige Gefühl von Sorge und leiser aufkeimender Angst nicht unter seiner geistigen Kontrolle bringen. Es war, wie ein stetiges Wispern leise in seiner Seele vorhanden. Rief ihm etwas zu, was er nicht hören wollte.
„Weil jeder andere Hauptmann mich bereits nach meinem Unfall“, er tippte die gezackte Narbe quer über seine Kehle an, „in den Ruhestand oder mich gleich als unzurechnungsfähig aus der Armee in die tödliche Verbannung geschickt hätte, damit ich anderswo ein störendes Überbein sein könnte.“, er lächelte traurig. „Ich hatte Glück, dass du ein guter Troll bist, der selbst nach einer Verletzung keinen Rekruten ohne wirklichen Grund zurück lassen würde.“, er stoppte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, selbst dann würdest du niemanden zurück lassen, eher müsste man dich umbringen, als dass du deine Treue gegenüber deinen Männern mit Füßen treten würdest.“
„Diese Treue bekomme ich auch zurück gezahlt.“, erwiderte Brôll ungerührt über diese hohe Ansprache
seines Selbst.
„Man wäre ja auch ein verdammter Thor, wenn man glaubt, dich zu überrumpeln. Überhaupt sind jene Narren, die sich mit einem deiner Art anlegen.“ Rochts Lächeln verschwand. Erst nachdem er realisiert hatte, was er genau gesagt hatte, beziehungsweise indirekt angedeutet hatte, neigte er demütig den Kopf. „Verzeih ich wollte nicht…“
„Ist gut.“, unterbrach ihn Brôll mit bebender Stimme. Hart und kalt klang sie.

Impressum

Texte: copyright by Nicola Maas
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Jenen, die ebenso an die Phantastik glauben und meiner Mutter, die für Brôll einen Platz in ihrem Herzen hält.

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