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Das Geheimnis der Wälder



Es raschelte. Blätter wurden auseinander geschoben. In der Ferne schrie ein Kuckuck. Aber sonst war alles still im Wald. Zu still. Langsam näherte Lav sich einer umgestürzten Eiche. Auf ihrem Rücken bildete sich eine Gänsehaut. Fio, ihre beste Freundin versteckte sich hinter dem maroden Stamm. Sie achtete behutsam darauf keinen falschen Schritt zu manchen. ,,Fio”, flüsterte sie leise, ,,bist du da?” Keine Antwort.
Inzwischen hatte sie den Platz erreicht an dem Fio gekauert hatte. Der Platz war leer. Panik ergriff sie und drohte sie zu überwältigen. ,,Fio”, rief sie, dieses Mal rief sie etwas lauter, denn Panik hatte selbst von ihrer Stimme Besitz ergriffen.
„ Ob sie sich verirrt hat oder sogar auf die andere Seite gelaufen ist?” dachte sie. „Was hatte Texo ihnen neulich erst erzählt? Sie sollten sich ja von der Grenze und erst recht von der anderen Seite fernhalten. Schatten und böse Elfen, die sich unsichtbar machen können, leben anscheinend da drüben. Sie selbst war noch nie über der Grenze außerhalb ihres Territoriums gewesen. Aber Texo, ihr Großvater, berichtete oft spannende Abenteuer, die er als junger Waldläufer dort erlebt hatte. Aber er berichtete auch über Kriege die Jahrzehnte dauerten und die beide Stämme fast nicht überlebt hätten. Nein, Fio würde nicht einfach da rüber spazieren.
Lav war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht mitbekam wie sich etwas von hinten anschlich. Als es hinter ihr knackte, ging sie instinktiv in Kampfstellung und drehte sich blitzschnell um. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr.
,,Oh man Fio, hast du mich erschreckt”, stieß sie lachend hervor. Ihr Körper zitterte noch immer vor Anspannung.
,,Du hattest doch nicht etwa Angst, oder?” fragte sie belustigt. „Nein, ganz sicher nicht”, fauchte Lav zurück. Das wohlige Gefühl der Liebe und Zuneigung durchflutete sie. „Komm lass uns wieder ins Lager gehen. Es wird gleich dunkel, außerdem verpassen wir sonst noch das Abendessen.”
,,Ich könnte einen ganzen Hirsch essen!”, antwortete Fio in beruhigendem Tonfall. Dabei deutete sie auf ihren Bauch, der vor Hunger knurrte. Sie stapfte gradewegs in den Wald ohne darauf zu achten, ob Lav ihr folgte. Lav, immer noch ein bisschen beleidigt, stapfte ihr hinterher.
10 Minuten später standen sie auf einem kleinen Hügel am Rand einer Lichtung. Auf der Lichtung stand das Dorf, eingetaucht in den hellen Schein der untergehenden Sonne. Winzige Hütten aus Geäst und Laub reihten sich aneinander. Im Zentrum des Lagers stand die Größte aller Hütten. In dieser Hütte lebten die Alten, Weisen und der Stammesfürst.
Aber etwas stimmte nicht, es war viel zu leise. Sonst hörte man immer das Lachen und Weinen kleiner Waldläufer, das Quicken und Quaken der Tiere und man roch das Abendessen von Gesa, der besten Köchin im Stamm, das auf dem Marktplatz zubereitet wurde. Aber heute war alles still, alles wirkte so anders. Lav und Fio starten entsetzt auf das ausgestorbene Dorf. Verwirrt sahen sie sich an. ,,Was ist hier passiert?”, stammelte Fio und taumelte einen Schritt zurück. Lav hingegen wirkte eher neugierig als geschockt. Vorsichtig ging sie auf das Lager zu. Sie beschleunigte ihre Schritte, wurde immer schneller und war außer Atem, als sie auf dem Dorfplatz ankam. ,,Hallo”, rief sie so laut sie konnte: „hallo, ist hier jemand?” Niemand antwortete. Eine bedrückende Stille lag über dem Lager. Einen Fluch, den man spüren konnte. Lav bekam eine Gänsehaut, sie fröstelte. Der Wind strich ihr durch das Haar. Aber nicht wie sie es gewöhnt war: sanft und spielend, sondern mit einer Kraft und Kälte wie sie es sich nicht vorzustellen gewagt hätte. Da kam ihr plötzlich eine Idee. „War heute nicht das jährliche Erntedankfestival? Ja, natürlich. Alle versammelten sich in der großen Hütte und … „ja, die große Hütte, das muss es sein” schoss es ihr durch den Kopf. Eine neue Hoffnung machte sich in ihr breit. Fio, die immer noch oben auf dem Hügel stand und ängstlich auf das Dorf schaute, rannte über den Platz hin zu Lav. Aufgeregt schilderte Lav ihr schnell ihre Idee, dass alle nur in der großen Hütte waren um das Erntedankfestival zu feiern. Fio. Die ängstliche kleine Fio, wirkte so erleichtert und tanzte den Hügel regelrecht hinab. Lav, dagegen folgte ihr eher zögerlich.
Auf dem Platz vor der großen Hütte wartete Fio bereits auf Lav, die völlig außer Atem und mit Seitenstichen dort ankam. ,,Wo warst du so lange ich warte schon seit Stunden”, sagte Fio lächelnd zu ihr. Der alte Schein umgab sie wieder. Bei dem Anblick Ihres Lächelns konnte man einfach nicht mehr wütend sein. Trotzdem setzte Lav zu einer bissigen Antwort an: ,,Haha, wie witzig. Aber glaubst du nicht wir haben andere Probleme, als blöde Witze zu reißen? Komm lass uns reingehen”, keuchte sie und deutete auf ein Fell, das als Eingangstür diente. Fio nickte langsam, verwirrt über den immer noch so eingeschnappten Tonfall. Gemeinsam schoben sie das Fell vor dem Eingang weg und traten in eine riesigen Raum der durchflutet war mit grellem Licht. Im Raum standen sehr viele Stühle in einem Kreis. In der Mitte des Kreises lagen alle Obst- und Gemüsesorten die man im Wald anbauen und finden konnte. Aber der Saal war leer. In den hinteren dunklen Ecken, dort wo da Licht nicht hinkam brannte nur die eine oder andere Fackel.
Der Saal war leer, das Dorf war leer und alle die Lav und Fio schon seit ihrer Geburt kannten waren fort. Fio seufzte, ihre Knie gaben nach und sie sank auf den Boden. Ein Schwall des Entsetzens schlug ihr ins Gesicht wie eiskaltes Wasser. Das Gesicht in den Händen vergraben weinte und schluchzte sie immer wieder. Lav stand immer noch da, bewegungslos. Innerlich war sie aufgewühlt, aber ihr Gesicht verriet keine Regung. Viele Gefühle durchschwirrten sie: Trauer, Wut, Sehnsucht. Ja, vor allem die Sehnsucht brachte sie dazu sich neben Fio zu kauern und ihr zitternd die Hand auf den Rücken zu legen. In ihren Augen schimmerten jetzt auch Tränen, doch bevor sie auch nur eine wegblinzeln konnte liefen sie ihr warm über das Gesicht. Nach einer kleinen Ewigkeit faste sie sich ein Herz und streichelte Fio aufmuntern über das Haar.
Die Nacht brach an. Draußen hörte man das Quaken der Frösche das Zirpen der Nachtgrillen und die kleinen Flügelschläge von Glühwürmchen. In der Hütte saßen beide dicht an dicht und ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Die Gegenwart des Anderen beruhte beide und schenkte ihnen ein wenig Mut.
Es dämmerte schon als Lav aufstand, sich die Tränen aus den Augen wischte, die Hand von Fio nahm und sie zu sich hoch zog.
,,Wir werden sie suchen und wenn es das Letzte ist was wir tun”, flüsterte sie Fio ins Ohr. Lav versuchte erst gar nicht die Anstrengung in ihrer Stimme zu verbergen. Zitternd drückte sie Fios Hand etwas fester. „ Das machen wir”, antwortete Fio genauso leise. Gemeinsam schöben sie das Fell vor dem Eingang zur Seite und traten hinaus. Die Spuren der letzten Nacht waren unverkennbar: Ringe unter den Augen und verquollene Lider. Fio presste die Lippen zusammen um nicht nochmal anfangen zu schluchzen. Trauer nagte sichtbar an ihnen. Aber beide waren froh, dass sie einander hatten.
Lav und Fio hatten sich mitten auf die Lichtung in das saftig, grüne Gras gelegt. Um sie herum war ein Meer aus bunten Blumen. Aber sie schenkten der Natur keine Beachtung, sondern widmeten sich ihrem Ziel.
,,OK, wir müssen sie suchen, aber wo fangen wir damit an?” fragte Lav nachdenklich, nachdem sie ein wenig mehr Mut geschöpft hatten. „ Sie können doch nicht einfach gegangen sein. Wir müssen erst einmal herausfinden, was hier passiert ist. Ich denke wir sollten uns hier ein wenig umschauen,” antwortete Fio leise. Dabei riss sie immer wieder einzelne Grashalme aus der Erde und zwirbelte sie immer wieder ungeduldig zwischen den Fingern. „ Dann los!”, rief Lav, die schon aufgesprungen war und ungeduldig, mit dem Fuß stampfend und darauf wartete dass Fio es ihr gleich tat.
Die Sonne stand mittlerweile schon hoch am Himmel. Die kühle Morgenbrise war verschwunden und die Hitze war kaum auszuhalten, obwohl es schon mitten im September war. Inzwischen hatten sie die Hälfte der Hütten abgesucht. Hatten aber nichts gefunden außer ein zwei kleine Brote, die sie gleich gierig verschlangen, obwohl ihnen der Verlauf der Ereignisse immer noch schwer im Magen lag.
Beide waren gerade dabei die Hütte von Texo zu durchsuchen. Auf den ersten Blick schien alles ordentlich. Aber wenn man genauer hinsah fiel einem auf, dass es zu ordentlich war. Texo war ein alter, schlampiger Mann, wie konnte er es hier so ordentlich halten? Texo hatte alle seine Wertsachen zusammen gehäuft und gestapelt. Insgesamt bedeckte dieses Chaos von Wertsachen nur einen Tisch. Anscheinend hatte Texo in Panik alles was ihm Lieb und Teuer was zusammen gesucht. Damit er bereit war zu gehen? Aber wohin?
„ Ich hab was gefunden”, rief Fio aufgeregt. „Was ist es?”, fragte Lav aus der anderen Ecke des Raumes. Doch bevor Fio antworten konnte, war Lav auch schon bei ihr. „ Das ist doch nur ein alter Fellfetzen, Fio. Was ist daran so interessant. Texo wird ihn hier wohl aus Versehen verloren haben.” „ Guck doch mal genauer hin. Das ist das Fell eines Karuxhirsches. Und diese besonderen Hirsche leben nur…”, weiter kam Fio nicht. Denn Lav unterbrach sie, denn eine plötzliche Erkenntnis erhellte ihre Gedanken: ,,…die leben nur auf der anderen Seite. Auf der Schattenseite. Texo hat sie manchmal erwähnt, wenn er von seinen Abenteuern dort berichtet hat. Er hat uns sogar schon mal ein Stück Fell von ihnen gezeigt…!” Dies Mal war es Fio die Lav unterbrach: „Und es sieht genauso aus wie dieses. Denkst du das, was ich denke? Dieser Jemand, der das Stück Fell hier verloren hat, muss etwas mit der Sache zu tun haben. Ich glaube wir müssen die Grenze zur anderen Seite überqueren und dort nach den anderen suchen. Wir sollten so bald wie möglich losgehen. ”OK, dann brechen wir auf, sobald wir genügend Proviant besorgt haben”, sagte Lav nach kurzem Überlegen. In ihrem Innern ging die Sonne ein Stückchen mehr auf und durchflutete sie mit Erregung und dem Gefühl etwas Richtiges zu tun.
,,Meinst du das ist die Grenze zur anderen Seite?”, fragte Fio Lav erschöpft. Sie hatten den nötigen Proviant beisammen gesucht und waren danach aufgebrochen. Sie waren stundenlang durch den Wald geirrt auf der Suche nach der Grenze. Noch nie war einer von beiden so weit weg vom Lager gewesen. Selbst die sonst so taffe Lav fühlte sich unbehaglich, in diesem ihr so fremden Wald. Selbst das Licht schien sich verändert zu haben. Es sickerte nicht wie üblich durch die Bäume sondern fiel wie ein Stein vom Himmel. Der Boden unter ihren Füßen war dunkel, wie von Asche geschwärzt und die Bäume wirkten leblos und verfault. Ein drückender Geruch von Fäulnis und Verdammnis hing in der Luft.
Ein paar Schritte vor Lav und Fio tat sich ein steiler Abgrund auf. Unter ihnen gähnte die Schwärze. „Ja, bestimmt. Diese Schlucht macht sich ziemlich gut als Grenze. Es gibt keinen Weg von der einen Seite zur anderen”, antwortete Fio. „Lass es uns weiter unten versuchen. Vielleicht gibt es da ja einen Weg”, sagte Lav ermutigend. Dabei war ihr ganz anders zu Mute. Dies fremde Wald jagte ihr durch sein einfaches Dasein pure, nackt Angst ein.
Und tatsächlich, keine 100 Meter weiter fanden die beiden eine kleine morsche Brücke, die über die Schlucht führte. „ Versuchen wir es?”, fragte Lav und Fio nickte. Wortlos ergriff sie die Hand von Lav um sich ein bisschen sicherer zu fühlen. Lav zögerte noch kurz, dann betrat sie als erste die Brücke. Ein lautes Ächzen zerriss die drückende Stille des Walds. Lav machte einen Satz zurück und stieß dabei fast Fio um, die inzwischen am ganzen Körper zitterte. Fios Hand war schweißnass. Lav wusste, dass sie sich nicht entmutigen lassen durfte und schon gar nicht wegen Fio. Sie nahm all ihren Mut zusammen und betrat die Brücke erneut. Diesmal schreckte sie nicht vor dem lauten Ächzen zurück. Adrenalin schoss ihr durch den Körper und sie spürte förmlich jede Ader pochen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Zentimeter für Zentimeter tastete sie sich vorwärts. Fio stolperte verunsichert hinter ihr her. Gleich hatten sie es geschafft, nur noch ein Schritt. Hoffnung weckte sich in ihr.
Ein peitschendes Geräusch durchfuhr ihre Gedanken, etwas riss. Lav spürte wie ihr der Boden unter den Füßen wegsackte. Krampfhaft suchte sie Halt, versuchte sich irgendwo festzuhalten. Es gelang ihr. Sie hielt sich mühsam an dem Rand der Schlucht fest. Fio hing bei ihr an der Hand, wie eine Puppe baumelte sie da. Das Gewicht von ihr zog sie nach unten. ,,Nicht los lassen”, knirschte Lav durch zusammen gebissene Zähne. Fios Finger krallten sich verzweifelt in Lavs Arm. Sie spürte wie etwas Warmes an ihren Armen entlang floss. Es war ihr Blut. Fios Finger krallten sich immer tiefer in den Arm ihrer besten Freundin. Allmählich begann sich Schweiß auf der Handinnenseite von Fio zu bilden. Millimeter für Millimeter entglitt ihr Lavs Arm. Als sich Fio der Situation gewusst wurde in der sie gerade steckte. Zitterte sie. Ihre Muskeln kämpften einen schon entschiedenen Kampf mit der Schwerkraft. Panik durchfuhr sie auf sich diese Gedanken auftaten. Aber sie zwang sich zur Ruhe. Fio schloss die Augen.
„ Lav, du warst für mich immer die beste Freundin. Du hast mir immer geholfen und mich unterstützt. Du hast mir weisgemacht, dass man an sich selbst glauben muss um stark zu sein. Und das man manchmal Opfer bringen muss”, flüsterte Fio leise und mit belegter Stimme. ,,Was redest du da?”, fragte Lav ihr Freundin ängstlich mit weit aufgerissenen Augen. Aber Fio achtete gar nicht auch sie: ,, Es tut mir Leid. Aber das musst du jetzt alleine durchstehen”, sagte Fio etwas lauter. Tränen rannen ihr die bleichen Wangen hinab. Fios Griff lockerte sich. Jetzt entglitt sie Lavs Griff immer schneller. Fios Muskeln erschlafften immer mehr. Jetzt hielt sie nur noch Fios Finger in der Hand. Lavs Kräfte schwankten, aber sie zwang sich zur Höchstleistung. „ Du musst jetzt stark sein, Lav. Bitte vergiss mich nicht”, kurz nachdem Fio diese Worte gesprochen hatte konnte Lav sie nicht mehr halten. Fios Finger entglitten ihr völlig. ,, Fio, nein. Fio”, rief sie. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Es fühlte sich an als ob sie ausversehen in einen Strudel sprang und darin unterging. Warme Wellen leckten an ihr und zogen Kräfte aus ihr die sie nicht für ihre gehalten hätte. Sie wollte sich retten, sich an irgendeinen Strohhalm klammern.
Ihr Strohhalm, der Überlebenswille setzte sich in ihr durch. Lange konnte sie hier nicht mehr hängen. Sie spürte wie die Schwerkraft nach unten zog. Lav versuchte mit der zweiten Hand den Rand zu fassen es gelang ihr aber nicht. Sie baumelte hin und her. Schweiß ran ihr über die Stirn. Die Wunde an ihrem Arm pochte immer stärker. Nochmals versuchte sie mit der zweite Hand nach oben zu greifen. Die warmen Wellen lecken immer stärker, gruben sich immer mehr in sie hinein und saugten unablässig mit ihren sanften Oberflächen. Von Sekunde zu Sekunde wurde die Versuchung immer größer einfach loszulassen und sich den Gezeiten des Todes hinzugeben.
Da streckte plötzlich jemand ihr die Hand hin. Ohne darüber nachzudenken griff sie nach der Hand und wurde mit einen kurzen Ruck über den Rand der Schlucht gezogen. Fragen schwirrten ihr im Kopf rum. Sie wollte ihrem Retter danken, fand aber nicht die Kraft dazu. Unter sich spürte sie das weiche Gras. Sie dachte daran, dass Fio und sie immer im Gras gelegen hatten und Wolken gezählt hatten. Nun war Fio tot und Lav war alleine. Ganz alleine. Dieser Gedanke begleitete sie in eine tiefe, schwarze Ohnmacht, die ihr plötzlich wie ein schwarzes Tuch auf das Gesicht gelegt wurde.
Als Lav die Augen aufschlug sah sie über sich den glitzernden Sternenhimmel. Es musste mitten in der Nacht sein, denn Mondlicht sickerte durch das Dach der Bäume auf sie herab. Lange lag sie da. Den Blick in weite Ferne gerichtet. Gedanken drängelten sich langsam in ihr Bewusstsein ein. Sie wollte nicht mehr denken, nicht mehr leben wenn keiner es mit ihr tat. Sie hatte innerhalb eines oder zweier Tage alles verloren. Sie hatte alles verloren was man sich wünschen kann. Kälte überkam sie. Ließ ihre eh schon ermüdeten Glieder wieder heißlaufen. Ihr brummte der Kopf. Aber der Schmerz in ihrem Innern war deutlich stärker. Ein Loch aus Trauer, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit hatte sich in sie gebrannt.
Stöhnend drehte sie sich auf die Seite. Neben ihr tanzten die Flammen eines Lagerfeuers. Sie spürte die Wärme ganz deutlich auf ihrem Gesicht. Plötzlich fühlte sie sich sicher und geborgen. Ein warmer Wind, der sie sehr an eine Sommerbrise erinnerte spielte mit ihren lockigen, roten Haaren. Sie genoss jede Sekunde. Den Wind im Haar, die Wärme im Gesicht, die sich aber langsam in ihrem Körper ausbreitete.
Lav drehte den Kopf, als sie ein lautes Knacken hinter sich hörte. Eine dunkle Gestalt stand im Schatten der Bäume und beobachtete sie aus smaragdgrünen Augen. Schnell rappelte sich Lav auf. Ihr wurde schwindlig, um sie herum drehte sich alles. . Als sie sah, dass die Gestalt näher kam und ihr Handgelenk festhielt, als sie zu stürzen drohte, fing ihr Herz an zu rasen . ,,Wer…”, weiter kam sie nicht. Die Gestalt war in den Schein des Feuers getreten. Es war ein Junge, kaum älter als sie. Er hatte rabenschwarzes Haar, durchdringende smaragdgrüne Augen und genauso gespitzte Ohren wie sie selbst. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Etwas an ihm wirkte dunkel, genau so dunkel wie sein Auftreten. Ihre stehenden Nackenhaare legten sich wieder an die ursprüngliche Stelle. ,,Gut, dass du aufgewacht bist. Mein Name ist Aro”, sagte er ruhig, nachdem er sie eindringlich gemustert hatte. „Ich heiße Lav. Danke, dass du mich gerettet hast”, stotterte Lav, die noch ein wenig erschöpft war. Das plötzliche Erscheinen des Jungens brachte ihren Magen dazu Purzelbäume zu drehen.
,,Was machst eine Waldläuferin so weit weg von zu Hause?”, fragte Aro. Er setzte sich zu ihr ans Feuer. Schüchtern erzählte Lav ihm die Ereignisse der letzten Tage. Er hörte ihr schweigend zu. Die Ereignisse wiederholten sich immer und immer wieder in ihrem Kopf. Ihre Hände fingen an zu zittern und sie begann zu schluchzen.
Nach einer langen Pause, in der sie sich etwas beruhigt hatte antwortete er schließlich: ,,Bei mir ist es genauso gewesen. Ich war im Wald und habe Bogenschießen geübt und als ich nach Hause kam waren alle fort”, antwortete er schließlich.
„ Du bist ein Schatten, nicht wahr?”, fragte Lav eher neugierig als ängstlich, ,,kannst du dich auch unsichtbar machen?” Aro nickte. Fragen wie diese schienen ihn nicht abzuschrecken. Neugierde überwog für einen kurzen Moment das Gefühlschaos in ihr. Doch bevor sie weiter fragen konnte, sagte Aro: „ Lass uns überlegen was wir als nächstes tun” „Wir? Heißt das wir suchen ab jetzt zusammen?”, fragte Lav verunsichert Aro. Wieder nickte Aro. Ein altvertrautes Gefühl schlich sich in ihr Bewusstsein ein. „OK, dann brechen wir beim Morgengrauen auf”, sagte Lav bestimmt und beendete somit das Gespräch. Beide legten sich am Lagerfeuer nieder und schliefen sofort ein.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Baumkronen und die ersten Vögel fingen an zu zwitschern. Lav öffnete die Augen und sprang sofort auf die Beine. Unruhe schoss ihr durch die Glieder. Aro war ebenfalls schon wach. Gemeinsam packten sie schweigend alle notwendigen Dinge ein und machten sich auf den Weg Richtung Norden.Dort gab es, laut Aro, eine Lichtung wo alle Karuxhirsche die es auf der Schattenseite gab lebten. Nun liefen sie schon seit Stunden und Lav taten die Beine weh. Lav zwang sich immer wieder die Ereignisse zu verdrängen. Jetzt war nur eins wichtig: Aro unterstütze sie bei ihrer Suche und sie musste sich konzentrieren um ihm Deckung zu geben. Der Schmerz in den Beinmuskeln wurden stärker, dennoch wollte sie vor Aro keine Schwäche zeigen und biss die Zähne zusammen. Sie schaute nach oben in den Himmel um den Stand der Sonne zu erkennen. Da stolperte sie über eine herausragende Wurzel einer Eiche und landete mit dem Bauch voran auf dem Waldboden. So lag sie nicht mal zwei Sekunden, denn bevor sie realisieren konnte das sie überhaupt gefallen war hörte sie unter sich hörte sie ein Krachen. Der Boden brach weg und sie landete mitten in einer Grube. Aro drehte sich um und sah grade noch wie Lav in der Grube verschwand. ,,Lav, ist alles OK?”, rief er zu ihr runter. Die Angst in seiner Stimme war nicht zu leugnen.
Das Loch mündete in eine Höhle, von wo mehrere dunkle Tunnel abgingen. Angst hatte sie keine, aber Unbehagen breitete sich in ihr aus. ,,Ja, das musst du dir ansehen, hier geht ein Weg noch weiter unter die Erde und ….” Ein Krachen unterbrach sie. Aro stand neben ihr und schaute neugierig in die dunkle Tunnelöffnung, die sich vor ihnen auftat. „ Ich gehe zuerst “, sagte Lav mutig und ging voran ohne auf Widerworte zu achten. Adrenalin schoss ihr durch die Glieder, langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Ihre Augen gewöhnen sich schnell an die Dunkelheit um sie herum. Vor sich konnte sie einen großen breiten Gang erkennen, der hinter einer Biegung verschwand. Sie spürte den Atem von Aro im Nacken. Plötzlich vernahm sie ein dumpfes Pochen. Ängstlich klammerte sie sich an Aro. Dieser musste es auch gehört haben, denn er drückte sich unvermittelt in eine Nische und zog Lav hinter sich her. „Bilde dir bloß nicht ein, dass ich Angst habe“, flüsterte Lav in Richtung Aro. Aro drehte sich geräuschlos um und hielt ihr den Mund zu. Lav hatte verstanden und schweigend warteten sie darauf, was als nächstes passieren würde. Das dumpfe Pochen wurde lauter. Lav bemerkte, dass es Schritte waren. Schwere Schritte. Die Schritte waren unvermittelt vor ihr. Die Wand schwankten ein wenig, so das kleine Gesteinsbrocken von der Decke fielen. Jetzt erkannte sie, wer diese großen Schritte gemacht hatte. Ein Troll. Der Troll vor ihr ging weiter und verschwand ein paar Augenblicke später im Gang wo Lav und Aro hergekommen waren. Aro japste und biss die Zähne aufeinander. „Wieso hast du mich gebissen?“, frage er ungläubig. Bluttropfen fielen von seinem Finger auf den kühlen Waldboden. Lav leckte sich über die Lippen und schmeckte den metallischen Geschmack des Blutes. Ausversehen musste sie Aro gebissen haben. „Tut mir Leid", murmelte Lav und lächelte dabei. Dabei gab Aro ein Zeichen und gemeinsam schlichen sie den Gang weiter.
Nach etwa 10 Minuten standen sie an einer Weggabelung. Aus einer der Öffnung stank es entsetzlich nach Troll. Aro nickte darauf zu. Lav hielt sich die Nase zu, ging aber ohne zu protestieren weiter. Der Gang endete in einer größeren Höhle. In der Mitte stand eine ältere Trollfrau und kochte grade etwas zu Essen. An den anderen Wänden hockten hunderte Trolle und spielten etwas zusammen, unterhielten sich oder lagen einfach nur faul rum. An der Hose der Trollfrau hing ein großer, silberner Schlüsselbund. Aber wofür brauchten Trolle Schlüssel? Lav wollte gerade Aro darauf aufmerksam machen, als sie bemerkte, dass er nicht mehr hinter ihr stand. Er war auf in einer Ecke liegenden großen, schlafenden Troll zu geschlichen. Was machte er da? Jetzt erkannte sie was Aro vorhatte. Der Troll hielt in der einen Hand etwas, das aussah wie eine Stoffpuppe. ,,Ein Beweis”, jubelte Lav innerlich. Plötzlich schlug der Troll die Augen auf. ,,Eindringlinge”, rief er, so laut, dass Lav fast das Trommelfell platzte. Bis jetzt hatte sie gar nichts mehr empfunden seit sie die Hölle betreten hatten, aber jetzt sprang ihr die Panik wieder mitten ins Gesicht. Der Troll hatte Aro gesehen. Schon sauste eine riesige Hand auf ihn nieder und packte ihn. Er konnte zappeln so viel er wollte, es half nichts, er war ein Gefangener. Entsetzen löste die Angst ab. ,,Was soll ich mit ihm machen, Chef”, fragte der Troll einen noch größeren Troll mit schwarzen Augen, die noch nie das Licht der Sonne gesehen haben. „ Wirf ihn zu den anderen, die werden uns nicht mehr in die Quere kommen. Der Wald gehört jetzt uns”, lachte der Größere. ,,Andere? Also sind die Waldläufer hier. Und dieser Tyrann hat sie nur aus Gier gefangen genommen? Er wollte nur unser Land haben”, sagte Lav leise zu sich selbst. Hoffnung machte sich breit und verdrängte das Entsetzen und die Panik. Der kleinere Troll nickte und schlenderte mit Aro in der Hand lässig an Lav vorbei. Bei dem üblen Geruch der vom Troll ausging wurde Lav fast schlecht. Unauffällig schlich sie Aro und dem Troll hinterher. Ihre Schritte halten in ihrem Kopf wieder. Sie gingen den Weg wieder zurück den sie gekommen waren. Der Troll machte riesige Schritte, sodass Lav Mühe hatte mitzuhalten. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl das sie jemand beobachtete, aber die Angst vor einer Entdeckung wuchs immer mehr und war schon bald großer als das merkwürdige Gefühl. Schließlich bog der Troll in den anderen Gang ab. Hier roch es moderig und schimmelig. Wasser tropfte von den Wänden und bildete kleine Rinnsale auf dem Boden. Je weiter sie in den Tunnel hinein gingen, umso dunkler wurde es. Lav musste ihre Augen zusammen kneifen um genaueres erkennen zu können. Auch dieser Gang endete in einer Höhle. Von der Decke hingen drei große Käfige. Lav kniff die Augen noch mehr zusammen und erkannte das Etwas in den Käfigen war. Etwas Lebendiges. Hoffnung durchflutete sie erneut. Der Troll packte Aro noch fester und Lav sah ihm an, dass er diesen Druck nicht mehr lange aushalten würde. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie es vielleicht nicht alleine schaffte alle zu befreien. Was würde sie dann tun? Sie verdrängte den Gedanken mit einem kurzen Kopfschütteln. Der Troll zog einen Schlüssel aus der Tasche. Er steckte den Schlüssel ins Schloss von einem der Käfige und drehte ihn mit einem kurzen Ruck um. Knarrend öffnete sich die Käfig Tür einen Spalt. Der Troll schob die Hand hindurch und öffnete sie, sodass Aro raus fiel. Er landete auf allen Vieren und atmete erst einmal tief ein und aus. Sein ganzer Körper zitterte und er schaffte es nicht sich aufzurappeln. ,,Wie konnte der Wald bis jetzt nur von so Winzlingen regiert werden?”, lachte er Troll höhnisch, schloss die Käfig Tür und schlenderte sichtlich gut gelaunt an Lav vorbei.
Kaum war er in der Dunkelheit verschwunden rannte Lav zu dem Käfig in dem man Aro eingesperrt hatte. ,,Alles in Ordnung?”, fragte sie ein wenig besorgt. ,,Es geht schon, mach dir lieber Gedanken wie wir hier raus kommen!”, entgegnete Aro scharf. Lav bemerkte erst jetzt die anderen Menschen im Käfig. „ Texo, du bist ja auch hier”, rief sie überrascht. ,,Ja”, antwortete der alte Mann traurig, ,, ich glaube, ich habe eine Idee wie wir hier rauskommen. Also, Trolle haben Angst vor Feuer und wenn du ein Feuer machst, kannst du die Gitterstäbe so damit aufheizen, dass man sie verbiegen kann. So kannst du uns befreien und gleichzeitig die Trolle von uns fern halten.” Lav war sprachlos. Das Glück hatte ihr schlichtweg die Stimme genommen ,,OK. Ich muss Brennholz von draußen besorgen und geeignete Feuersteine. Ich bin gleich wieder da”, rief sie. Beflügelt von dem plötzlichen, wiedergeborenen Glück rannte sie davon.

Kurze Zeit später hatte sie alles was sie brauchte. Sie schlug die Steine solange über dem Stapel Brennholz zusammen, bis ein Funken auf das trockene Holz übersprang und es entzündete. Lav trat an den Käfig um hielt das Stück Holz nah an die Gitterstäbe. Die Flammen leckten an den Stäben und verformten sie leicht. Texo trat von innen immer wieder gegen den Stab und schließlich gab er unter lautem Krachen nach. „ Los schnell, beeilt euch, wir müssen die Anderen befreien. Noch zwei Käfige. Wie lange wird das dauern?”, fragte sie Aro. Der zuckte die Schultern und sagte: „ Ich nehme den, Texo du nimmst den und Lav du nimmst den kleinen dort.” „OK, dann los”, rief Lav und rannte mit dem brennenden Holzstück zum nächsten Käfig. Sie blickte ins Käfiginnere und hätte fast ihre Fackel fallengelassen.
,,Fio? Bist du es wirklich?” „Lav? Oh Lav. Du bist gekommen um ums zu retten. Ich habe gedacht ich müsste sterben, als ich in die Schlucht gefallen ist, aber ich bin auf weichem Laub gelandet. Dann bin ich eingeschlafen und erst hier….” Lav traute ihren Augen nicht in der hintersten Ecke des Käfigs saß Fio, eingezwängt zwischen Resa und dem Bürgermeister. Überwältigt von einem Glücksgefühl setzte sie sich auf den Boden, wenig später hätte sie eine Freudentanz aufgeführt wenn Texo sie nicht gebremst hätte. Lav hob die Fackel auf und machte sich wieder an den Gitterstäben zu schaffen. „Das kannst du mir später erzählen. Erst einmal müssen wir hier raus”, sagte Lav mit ungläubiger Stimme und hielt die Flamme an die Gitterstäbe.
Wenige Minuten später waren alle befreit. Egal ob Schatten oder Waldläufer sie fielen einander in die Arme. „Ich glaube wir sollten uns auf den Weg machen. Nicht das uns die Trolle noch mal fangen. Also los!”, sagte Aro kurz und alle machten sich auf den Weg ans Tageslicht.
Lav lief ganz hinten. Sie musste noch unbedingt etwas erledigen. Sie huschte schnell in den anderen Gang aus dem der Troll Gestank kam und erreichte die Höhle. Sie schlich sich an einen Haufen vergammelten Strohs und warf die Fackel, die schon fast abgebrannt war, mitten hinauf. Der Haufen fing sofort Feuer. Entsetztes Troll Gebrüll erklang aus der Höhle. Blitzschnell lief Lav Richtung Ausgang. Da stellte sich ihr ein riesiger Troll in den Weg. ,,Nicht so schnell”, grollte er. Lav erschrak. Es war der große Troll, den der Eine Chef genannt hatte. Als er so vor ihr stand erschien er ihr riesig, wie ein Berg aus Fleisch und Blut. Er versuchte mit einer Hand nach ihr zu greifen. Sie wich ihm aber immer wieder aus.
Aro war Lav gefolgt und schlich sich nun mit einer Fackel von hinten an den Riesen an. Er machte sich unsichtbar und senkte ihm die Schwanzhaare mit der Flamme an. Der Troll brüllte auf und jagte in Richtung Ausgang davon. „Danke. Du hast mich gerettet zum zweiten Mal”, sagte Lav schüchtern. Gemeinsam gingen sie dem Ausgang entgegen. Kurz davor fragte Lav: „ Wollen wir Freunde bleiben?” „Ja”, sagte Aro einfach. Bevor sie es sich anders überlegt hatte gab Lav ihm schnell einen Kuss auf die Wange und nahm seine Hand .Gemeinsam traten sie ins Tageslicht. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch wollten gar nicht aufhören zu tanzen vor Glück und auch ein bisschen wegen Aro. Die Morgenröte erhellte den Himmel. Einzelne Sterne waren noch zu sehen. Fio kam auf Lav zugelaufen. Sie umarmten sich und beide waren froh, dass sie wieder zusammen waren. Aro, Fio und Lav setzten sich ein wenig entfernt von den Anderen auf einen Stein und beobachteten, wie aus der Morgenröte ein zartes Blau wurde. Sie guckten sich schweigend an und unwillkürlich mussten alle lachen. Lav wusste in Zukunft würde sich ihr Leben ändern. Sie würde das genießen, was sie an ihren Freunden hat und auch diese Augenblicke des Zusammenhaltes und Zusammenseins.

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Tag der Veröffentlichung: 16.08.2011

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