Erzurum, Türkei, 1969
„Fahr doch nicht so schnell“ schrie Astrid und hielt sich so gut wie möglich fest. Sie war schwanger und hatte große Angst. „Du bringst noch unser Baby um“.
„Keine Angst“ lachte ihr Mann, der den neuen Opel Rekord fuhr, „die Strecke ist doch ein Abenteuer“.
„Ja, und das wird im Graben enden“ keifte sie und wurde durch eine scharfe Kurve dank der Fliehkraft fast gegen die Tür gepresst. Sie wusste ja, der ihr Mann ein verkappter Rallyefahrer ist, aber in so einer bergigen und noch dazu unbekannten Gegend so wild rum zufahren, machte ihr richtige Kopfschmerzen. Er hatte sich schon mal in einigen Ralleysportverbänden vorgestellt, bekam allerdings nur fast nur Absagen. Zwar wäre es einmal beinahe bei einem kleinen Enduroverband gelungen, hat aber ausgerechnet bei der Sicherheitsprüfung versagt.
Und nach der letzten Kurve ist es passiert. Ein alter Lastwagen stand mitten auf der Straße. Sie hatten nicht mal die Zeit einen Schreckenschrei loszuwerden, denn sofort wurde es ihnen dunkel.
Astrid öffnete die Augen und spürte heftige Kopfschmerzen. Sie sah sich langsam um und sah eine Frau in einer Art Schwesterntracht und fragte „Wo bin ich“ und dann heftiger „wo ist mein Baby?“
Sofort kam die Schwester näher und versuchte sie auf Türkisch zu beruhigen, aber sie schrie immer wieder „wo ist mein Baby“. Die Krankenschwester hatte Mühe und rief nach Hilfe. Sofort kam ein Arzt im weißen Kittel und fragte „Deutsch?“
„Wo ist mein Baby?“ Astrid wurde immer hysterischer. Der Arzt legte seine Hand auf sie und sagte beruhigend. „Sie hatten durch den Unfall eine Frühgeburt, aber keine Angst, dem Baby geht es gut. Es hat den Unfall gut überstanden, es ist ein Mädchen.“
„Wo ist es und wo ist mein Mann?“ Der Arzt senkte den Kopf und Astrid wusste sofort Bescheid und fiel in einem Weinkrampf.
Nachdem der Arzt ihr eine Beruhigungspille gegeben hatte, und Astrid sich beruhigt hatte, erzählte der Arzt, das bei ihrem Mann nichts mehr zu retten war, aber sie und das Baby hatten das Glück zu überleben. Denn laut Polizei sei der Wagen etwas seitlich auf den Lastwagen geprallt und die Beifahrerseite hatte es weniger erwischt.
„Ich will mein Baby sehen,“ verlangte sie, „es geht mir wieder gut“, doch der Arzt schüttelte nur den Kopf.
„Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung und sollen nicht aufstehen“. Astrid hörte nicht auf ihn und setzte sich schnell auf, um danach doch festzustellen, dass ihr Kopf so schmerzte, dass sie sich wieder hinlegen musste.
„Sehen Sie“, sagte der Arzt, fast belustigt, weil es immer an der Tagesordnung war, dass Patienten meinen, es besser als der Arzt wissen zu müssen.
„Wenn es Ihnen in zwei Tagen wieder besser geht, können sie ihr Kind sehen. Keine Sorge, ihr Kind ist bei uns wirklich in den besten Händen.“ Nach diesen beruhigenden Worten schlief sie sofort ein.
Tatsächlich ging ihr nach zwei Tagen besser. Und sie ging zusammen mit einer Krankenschwester, die sie etwas stützte, ans Fenster in denen die Säuglingen lagen, schrieen oder schliefen.
„Wo ist meins“ fragte sie der Schwester ohne sich zu vergewissern ob sie sie auch verstehen würde. In der Tat machte die Krankenschwester einen fragenden Eindruck. Dann versuchte sie es mit Handzeichen, indem sie auf die Babys zeigte und dann auf sich selbst. Diesmal nickte sie und lächelte und zeigte deutlich das vierte Baby von links in der zweiten Reihe. Und da war Astrid selig, so glücklich, als sie das schlafende Baby erblickte.
Sie wollte wieder nach der Krankenschwester rufen, die sich noch um eine andere Frau kümmerte, aber kam nicht weit, weil sie mit einem Mann, der neben ihr stand, zusammen stieß. „Entschuldigung“ stammelte sie, wieder auf Deutsch ohne nachzudenken, ob der Mann sie verstünde.
„Macht nichts, ich hätte nicht so nah daneben stehen müssen“ lachte der Mann auf Deutsch. Astrid erschrak. „Sie können Deutsch“ wunderte sich Astrid.
„Ja, ich bin Kaufmann, habe in Stuttgart einen Laden gehabt und habe so die Sprache gelernt“. Zwar hatte er den typischen Akzent, aber sprach dennoch im ordentlichen Deutsch. Sie sah ihn an, er sah eigentlich wie jeder hier aussah und schätzte ihn gegen 30.
„Sie sind gerade Vater geworden?“ fragte sie.
„Ja“ antwortete dieser mit Stolz, er liegt da, fünfte von links fünften, zweite Reihe.“
„Oh, links daneben liegt mein Mädchen. Sie heißt übrigens Nicole“.
„Und meiner Oktay, das heißt tapferer Mond. Interessant, wir stehen nebeneinander und die Babys sind es auch“. Nach einem kurzen lächeln fragte der Mann, wo eigentlich der Vater des Kindes sei?
„Er ist gestorben, hier bei einem Autounfall“.
„Dort oben bei den Bergen?“
„Woher wissen Sie das?“ Astrid machte einen äußerst erstaunten Eindruck
„Ja, mein Cousin ist bei der Gendarmerie und hat mir von dem Unfall erzählt und auch von einer schwangeren Frau, die gerettet wurde, aber nicht der Fahrer. Er wurde bei dem Unfall zerquetscht und…“ .
„Bitte sprechen Sie nicht, weiter, mir ist plötzlich nicht mehr gut“.
Sofort hob der Fremde seine Hände. „Das tut mir, ich hätte wissen sollen“.
„Schon gut, es geht schon wieder“. Sie fing an dann, auch zu schluchzen, er nahm sie in den Arm und fragte, ob er ihr irgendwie helfen könnte.
„Mein Mann ist tot“ schluchzte sie „und ich hab eigentlich gar nichts, bin allein mit dem Kind und weiß nicht, wie es weiter gehen soll.“
„Das kommen Sie zu uns für einige Zeit, ich werde mit den Behörden reden, damit sie für eine Weile bei mir wohnen können, bis sie in der Lage sind, wieder heimzukehren.“
„Das kann ich nicht annehmen.“ Sie machte eine ablehnende Handbewegung.
„Das müssen Sie sogar, denn sie sind schon gesundheitlich nicht in der Lage heimzufahren. Keine Sorge, es wird Ihnen gut gehen, meine Frau kocht sehr gut und es wird Ihnen, so weit wie sie wollen, auch helfen mit dem Baby.“ Er zeigte dann auf sein Baby. „Übrigens, ist dieses hier schon mein Drittes“.
„Warum machen sie das eigentlich, diese ganze Mühe?“
„Bei uns wie generell in der Türkei wird Gastfreundschaft groß geschrieben, schließlich wird uns schon in der Türkei gesagt, dass man Menschen, die schlechter dran sind als selbst mehr geholfen werden muss“.
„Ich weiß nicht, bin alleine, bei Fremden, in einem fremden Land, anderen Kultur und kenne nicht einmal Ihren Namen“.
„Oh, das ist unverzeihlich von mir. Natürlich, ich heiße Orkan Gündemir“.
„Mein Name ist Astrid Schäffer und…“ hier dachte sie an ihren toten Mann „Astrid Walter“.
„Sehr erfreut“ antwortete dieser „und was sagen Sie zu meinem Angebot?“ Astrid nickte, insgeheim war sie froh, jemanden bei sich zu haben. Obwohl sie ihn sonst überhaupt nicht kannte und nur sehr wenig von der türkischen Kultur wusste, spürte sie sofort, dass es ihr gut gehen würde. Trotzdem jammerte sie „Warum hat Gott mich mit dem Unfall so bestraft, warum nahm er mir meinen Mann weg, jetzt, wo ich ihn am meisten gebraucht hätte. Was habe ich bloß böses getan?“. Ihr kamen wieder Tränen über ihre Wangen.
„Ich kenne mich nicht in Ihrer Religion so aus, aber ich sage Ihnen folgendes. Allah hat ihr Leben und das des Kindes verschont, weil er was Besonderes mit Ihnen und dem Kind vorhat. Denn Allah ist groß und gerecht“.
Sie nickte und beide blicken nach Ihren Babys. Beide Babys waren wach sahen sich wohl an. Man könnte meinen, dass sie sich anlächelten.
„Sehen Sie die beiden? Ich glaube, dass sie sich verstehen. Wenn das kein Zeichen ist“
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2009
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