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Die ersten 17 Tage

 

 

Ich habe keine Ahnung, an welchem Tag ich geboren wurde. Ehrlich gesagt, ist mir das auch ziemlich egal, weil das für meine Spezies nicht die geringste Rolle spielt. Ich kann mich nur erinnern, dass es angenehm warm war, was mir sehr entgegenkam, da ich 60 Tage in einer überaus wohligen, wenn auch verdammt engen Behausung zugebracht hatte. Die Platznot erklärt sich damit, dass außer mir auch noch fünf weitere Kreaturen die Räumlichkeit bewohnten. Auf die hätte ich gerne verzichtet, doch, wie häufig später in meinem Leben, hatte mich keiner vorher um meine Meinung gefragt, was ich als gehörige Ungezogenheit empfand. Selbst, wenn ich heute an diese Zeit denke, muss ich feststellen, dass die gesamte Einrichtung eine komplette Fehlkonstruktion war. Offensichtlich hatte der Erfinder noch nie etwas von Einzelzimmern gehört. Leider konnte ich mich auch nicht bemerkbar machen, um auf diese mangelhaften Umstände hinzuweisen. Immerhin gelang es mir, als Zweites der anwesenden Subjekte den eben erwähnten Aufenthaltsraum zu verlassen, was nur dem Umstand geschuldet war, dass ich mich erst quer stellte, um die anderen am Austritt zu hindern und dann meinen Hintern nach hinten richtete und so die Mitbewohner durch die Inbetriebnahme meiner Abgasvorrichtung mit meiner körpereigenen Duftnote, die noch heute mein ganzer Stolz ist, auf respektvollem Abstand halten konnte. Nachdem das erfolgreich geschafft war, nahm ich Anlauf, auf jeden Fall bildete ich mir das ein und flutschte auf einer Art Rutschbahn nach außen.

Prompt landete ich auf meinem Vorgänger, was ich zwar nicht sehen konnte, aber ein leises ‚Quieck’ ließ in mir die Vermutung aufsteigen, dass die relativ weiche Landung dem Umstand zu verdanken war, dass der Blödmann vor mir als Prellbock fungiert hatte. Ich bemühte mich, möglichst schnell den Weg zu räumen, da mir klar war, dass die Nachfolgenden mich ebenfalls als Auffangkissen benutzen würden, wozu ich absolut keine Lust hatte. Allerdings funktionierte die Koordination meiner Gelenke noch nicht so richtig und so sehr ich mich auch bemühte, ich kam keinen Zentimeter vorwärts. Sehen und hören konnte ich ebenfalls nichts, weil alles irgendwie verklebt war.

 

„Was ist denn das für ein Mist hier?“, schrie ich. „Kann mir mal jemand sagen, was das eigentlich soll? Ich will diesen Glibber augenblicklich loswerden! Was soll diese Sauerei überhaupt?“

 

Zu meinem großen Erstaunen mündete mein Geschrei in einem kläglichen Fiepsen, was ich allerdings nur innerlich wahrnahm, da ich mit totaler Taubheit geschlagen war und gar nichts hören konnte. Erneut eine Fehlkonstruktion! Trotzdem blieb mir das Los eines Prellbocks erspart. Plötzlich packte mich etwas an meinem Genick und legte mich behutsam zur Seite. Was dann kam, ließ mich regelrecht erschaudern; ein rauer, sabbernder Waschlappen fuhr über meinen gesamten Luxuskörper und schabte an mir auf und ab. Einfach widerlich!

 

„Hallo, Moment mal! Aufhören, sofort aufhören damit! Ich bin nicht schmutzig! Ich war 60 Tage im Badewasser! Da gibt es nichts zu putzen!“

 

Niemand lauschte meinem Protest. Ganz im Gegenteil wurde das Geschabe jetzt noch heftiger. Andererseits, das muss ich zugeben, übte der Waschlappen auch eine gewisse massierende Wirkung aus, was mich dazu brachte, dem Gerubbel etwas wohlwollender gegenüber zu stehen. Mir selbst wurde augenblicklich bewusst, dass ich einen sehr milden und gnädigen Charakter besitzen musste, wenn ich diese Behandlung so großzügig und selbstlos über mich ergehen ließ.

 

Irgendwann kamen auch die anderen nach und wurden, wieder, ohne meine Meinung zu konsultieren, neben mich gelegt. Immerhin war nun mehr Platz vorhanden und das Gedränge hatte ein Ende. Das glaubte ich zumindest, bis sich etwas rührte, das sich später als Hungergefühl entpuppte. Dummerweise besaßen auch die übrigen Geschöpfe diese Eigenschaft, was rasch in einer erneuten Drängelei ausartete. Ich habe keine Ahnung, woher wir wussten, in welche Richtung wir uns zu bewegen hatten, um an die Örtlichkeit der Nahrungsmittelversorgung zu gelangen. Vielleicht war es der Geruch, denn Sehen und Hören war uns ja noch versagt. Vielleicht hatte uns unsere Mutter stumm darauf hingewiesen, wo die Verköstigung in den nächsten Wochen stattfinden würde. Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern. Auf alle Fälle krabbelten wir alle mit tollpatschigen Bewegungen in die gleiche Richtung, was beim ersten Mal zu einem ziemlichen Wirrwarr führte. An dem Automaten, der offensichtlich meiner Mutter gehörte, waren acht Röhren angebracht, aus denen irgendeine Nährflüssigkeit heraus sickerte. Allerdings kam die nicht automatisch, sondern man musste daran saugen, was ganz schön anstrengend war. Doch zurück zur Platzverteilung: Als ich eine dieser Versorgungsleitungen erreicht hatte, versuchte ein anderes Subjekt, mich zur Seite zu drücken, was ich mit einem so heftigen Strampeln beantwortete, dass es sich schleunigst an eine andere Saugleitung bequemte.

 

Ach ja, ich habe ganz vergessen, zu erklären, wer ich überhaupt bin. Nun, ich bin ein Hund. Böse Zungen behaupteten später, ich sei ein Straßenhund aus einer rumänischen Stadt. Das ist natürlich völliger Quatsch. Meine Mutter hatte sich für die Geburt im Hintergarten eines verfallenen Hauses das Mülltonnenhäuschen ausgesucht, in dem sogar einige alte Matratzen lagen. Dadurch war es warm und weich und da das Häuschen der Wetterseite abgewendet stand, bot es auch bei Regen ein trockenes Plätzchen. Ich muss noch einmal auf den ‚Straßenhund’ zu sprechen kommen. Wie kann ein Tier, das im Tonnenhäuschen eines Hintergartens auf  die Welt kam, ein Straßenhund sein? Wer nur einigermaßen Hirn besitzt, erkennt doch bereits an dem Wort ‚Straße’, dass diese Bezeichnung auf mich keinesfalls angewendet werden kann. Wenn überhaupt, bin ich ein Tonnenhund, wobei ich meine, dass der Begriff 'Gartenhund', alleine schon wegen meines ästhetischen, optischen Erscheinungsbildes wesentlich zutreffender ist. Ich gebe zu, dass ich nicht das Privileg besaß, in einem schönen Haus oder in einer dieser Zuchtanstalten geboren worden zu sein, aber unsere damalige Bleibe in dem herrlich verwilderten Garten möchte ich niemals missen. Meine Kollegen, die auf einer Hundedecke oder einer mit Stroh ausgelegten Holzkiste das Licht der Welt erblickten, können da einfach nicht mitreden.

 

Die Herkunft meines Vaters blieb immer im Verborgenen. Der hatte sich, nachdem die mühselige und schweißtreibende Aufgabe der Zeugung erledigt war, einfach aus dem Staub gemacht und war nie wieder aufgetaucht. Meine Mutter war daher allein erziehend und das mit immerhin sechs Kindern. So weit ich mich erinnere, war sie eine äußerst attraktive Dame, die man aus einem Spaniel und einer Tibet Terrier Hündin zusammengesetzt hatte. Das entnahm ich späteren Erzählungen von jemandem, der sich 'Tierpfleger' nannte. Ich frage mich bis heute, wie eine Tibet Terrianerin nach Rumänien gekommen sein soll? War meine Großmutter etwa Asylantin aus Tibet? Dieses Rätsel hat sich nie aufgeklärt. Von den anderen, die mit mir 60 Tage in dem Badewasser lagen, war einer, wie ich selbst ein Rüde, also ein richtiger Hund, die anderen waren Hündinnen. Meine Mutter hatte sich für uns ein sehr variantenreiches Farbkonzept ausgewählt: Zwei hatten beiges Fell, zwei braunes und mein männlicher Bruder schwarzes. Ich nehme an, man sagt ‚männlicher Bruder’? Oder reicht ‚Bruder’? Egal, ihr wisst schon, was ich meine. Kommen wir nun zum Entscheidenden, nämlich zu meiner Farbe. Mein halblanges, leicht gekräuseltes Fell wies ein edles Silbergrau auf, was sich naturgemäß erst zu einem späteren Zeitpunkt zu seiner vollen Pracht entwickelte. Ich hatte also eine Sonderfarbe erhalten. Warum nur ich? Nun Sonderfarben sind ja gewöhnlich etwas teurer und aufwendiger in der Herstellung, so dass sie nicht an jeden vergeben werden können. Dass ich damit ausgestattet worden war, macht deutlich, dass man dem Erfinder meines Designs eine gewisse Intelligenz nicht absprechen kann. Form und Farbe waren bei mir also eine beeindruckende Symbiose eingegangen.

 

Jetzt zurück zur dieser Nahrungsvorrichtung. Insgesamt, das merkte ich erst, als ich endlich nach 17 Tagen etwas sehen konnte, war meine Mutter mit acht Rohrleitungen ausgestattet, wobei ich immer die unten links auswählte. Irgendwann hatten auch die anderen begriffen, dass es sich hier um meinen ganz persönlichen Versorgungskanal handelte, und keiner machte mir mehr diesen Platz streitig. Die Flüssigkeit, die ich daraus erhielt …., na ja, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber was anderes gab es momentan nicht. Am dritten Tag hatte ich mich daran gewöhnt, wobei mir eine Abwechslung im Geschmack schon sehr recht gewesen wäre.

 

Als wir uns an die Umgebung und den Tagesablauf etwas gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass meine Mutter zwischendurch immer wieder einmal für eine geraume Zeit verschwand. Das machte mich neugierig.

 

„He, wisst ihr, wohin sich unsere Mama dauernd wegschleicht?“, fragte ich die anderen.

 

Ich fragte das selbstverständlich auf ‚Hündisch’. Das ist übrigens eine Weltsprache, die fast jeder Hund auf der Erde versteht, wenn er sich mit der Kultur der Hunde auseinandergesetzt hat. Leider machen das nicht alle, aber sehr viele. Das könnt ihr nicht! Ihr seid eben leider nur menschlich, habt absolut keine Ahnung von Hündisch und kapiert, wenn ihr in ein anderes Land kommt, nichts von dem, was der andere sagt. Gut, einige von euch haben eine andere Sprache gelernt, weil sie nicht ganz blöd sein wollen, aber zu einem weltweit einheitlichen Verständigungssystem habt ihr es bedauerlicherweise nicht geschafft. Das ist der Grund, weshalb ihr auch oft so viele Probleme miteinander habt. Da sind wir euch haushoch überlegen und ich bin froh, dass ich nicht menschlich bin. Allerdings muss ich zugeben, dass ‚Hündisch’ immer weniger gebellt wird, da in vielen Ländern der Lokalpatriotismus zunimmt und man sich vermehrt dem Landeshündisch hingibt.

 

Auf meine Frage erntete ich lediglich geschäftiges Getuschel. Das waren meine Schwestern. Typische Frauen eben, die ständig miteinander tratschten, ohne dass eine vernünftige Äußerung ihre Schnauze verließ.

 

„Vielleicht muss sie noch anderen Hunden ihre Versorgungsleitungen anbieten“, mutmaßte mein Bruder.

 

„Ihr seid doof“, mischte sich eine meiner Schwestern ein. „Auch eine Mutter braucht einmal was zu essen. Die hat genauso Hunger wie wir. Die wird sich irgendwo etwas suchen, das sie zu sich nehmen kann.“

 

‚Das sie zu sich nehmen kann’? Was redete die denn so geschwollen daher? Andererseits: Obwohl nur Hündin, diesen Gesichtspunkt konnte man nach reiflicher Überlegung nicht ganz außer Acht lassen.

 

Ihr werdet euch sicher fragen, weshalb wir in der Lage waren, uns zu unterhalten, wenn wir doch noch gar nicht hören konnten? Das ist ein Geheimnis, das wir Hunde euch niemals preisgeben werden. Sogar die Hündinnen halten dicht, obwohl das eigentlich nicht zu ihren vornehmsten Charaktereigenschaften gehört.

 

Ein Wort noch zu meinen Geschwistern: Grundsätzlich waren alle ganz in Ordnung. Nach anfänglichen Problemen während der Mahlzeiten hatten wir uns stillschweigend bezüglich der Platzordnung geeinigt, wodurch dieser Teil unseres kurzen Daseins ziemlich reibungslos ablief. Ebenso funktionierte die Raumordnung während der Schlafenszeiten schnell recht unproblematisch. Ab und zu bekam ich zwar eine Pfote meines Bruders ins Gesicht gestreckt, was ich ihm aber verzieh, da er etwas ungelenk war. Die Feinmotorik ließ bei ihm noch einige Wünsche offen, was vermutlich daran lag, dass er weniger Gene von unserem Vater und mehr von der Tibet Terrianerin erhalten hatte, die in den unzulänglichen Regionen ihrer Geburtstätte eine etwas gröbere Motorik benötigte, um gegen die Gewalten der Natur erfolgreich anzukämpfen. Darüber hinaus war er ein echter Kumpel, und ich war froh, ihn als männliche Unterstützung bei mir zu wissen. Alleine hätten mich die Hündinnen vermutlich untergebuttert. Ich muss sagen, dass meine Präsenz und die meines Bruders dem gesamten Haufen auch eine gewisse Würde verlieh, was in einem reinen Weiberhaufen niemals der Fall gewesen wäre. Diesbezüglich waren mein Bruder und ich völlig einer Meinung, wobei wir uns hüteten, das den Hündinnen kundzutun. Vermeintlich hätten sie das auch gar nicht kapiert. Alles in allem kamen wir miteinander gut zurecht, was nicht verwunderlich war, da unsere hauptsächliche Aufgabe aus Fressen und Schlafen bestand.

 

Unglücklicherweise hatten wir noch eine weitere Aufgabe zu erfüllen. Genau genommen nicht wir selbst, sondern unsere Därme und Blasen. Es ist mir etwas peinlich, das zu erzählen, aber die Entsorgung konnten wir alle nicht brauchbar koordinieren. Wieder etwas, das der Konstrukteur unserer Spezies außerordentlich schlampig ausgeführt hatte. Gleich am zweiten Tag pinkelte ich einer meiner Schwestern auf etwas, das ich nicht kannte, welches sich aber in der Folgezeit als ‚Schwanz’ herausstellen sollte. Auf das Thema ‚Schwanz’ gehe ich noch einmal zu einem anderen Zeitpunkt genauer ein. Besagter Schwanz wurde durch meine Blasenschwäche ein wenig eingenässt und meine Schwester, die sehr penibel war, beseitigte das Nässegefühl mit einem heftigen Wedeln, wobei sie nicht darauf achtete, dass sich mein Gesicht im Weg befand. Ich sage euch, das war wirklich widerwärtig und ich bemühte mich fortan, meinen Absonderungen eine andere Zielrichtung zu verleihen.

 

Unsere Mutter war sehr bestrebt, unseren Aufenthalts- und Schlafplatz so sauber und trocken wie möglich zu halten, doch gelang ihr das nicht immer. Nach der Essensausgabe packte sie uns sanft am Genick und trug uns vor das Tonnenhäuschen, wo sie geduldig wartete, bis unsere Därme und Blasen ihre Schuldigkeit getan hatten. Dennoch begriffen diese blöden Organe nicht immer, was sie was zu tun und zu unterlassen hatten. Und reden konnte man mit diesen Mistdingern nicht. Auf jeden Fall waren die Matratzen, die unsere Behausung zierten, nach einigen Tagen beträchtlich durchnässt und mit kleinen Häufchen versehen, was augenscheinlich den hygienischen Vorstellungen unserer Mutter restlos widersprach.

 

Wie sie es geschafft hat, weiß ich nicht, doch eines Tages wurden wir vor das Häuschen gelegt, dann hörte ich ein Scharren und Kratzen und eine halbe Stunde danach lagen wir alle wieder auf einer trockenen Unterlage. Irgendwann, nachdem sich unsere Augen dazu entschlossen hatten, das Sehen aufzunehmen, begriff ich, was sie getan hatte. Meine Mutter muss eine verdammt schlaue und geschickte Hündin gewesen sein und ich prägte mir sehr genau ein, wie sie die Instandsetzung unserer Residenz bewerkstelligte. Man konnte ja nie wissen, wie man sich solche Kenntnisse später einmal zu Nutze machen konnte. Sie kratzte unsere Häufchen mit den Pfoten nach außen, zog anschließend mit den Zähnen die Matratze aus unserer Behausung, dreht sie auf dem Rasen um und zerrte sie danach wieder in das Innere. Ich muss einräumen, für einen Hund eine akrobatische Meisterleistung und für eine Hündin ganz besonders.

 

Es waren exakt 17 Tage, dass ich auf der Rutschbahn nach außen gelangt war, als ich aufwachte und schemenhaft meine Umwelt wahrnahm. Genauso hatte sich offensichtlich mein Gehör dazu entschlossen, mir die Geräusche meiner näheren Umwelt zu vermitteln. Zum ersten Mal sah ich meine Geschwister und bedauerlicherweise hörte ich sie auch. Alle meine Schwestern vibrierten mit undefinierbaren Klängen genüsslich vor sich hin und selbst unsere Mama gab Töne von sich, die ich in meinem weiteren Leben in dieser Lautstärke nur noch von Menschen zu Gehör bekam. Mein Bruder lag neben mir und hatte offenkundig die gleiche Eingebung der Sinne erhalten wie ich. Er richtete minutenlang den Blick auf mich, wischte mit seinen Vorderpfoten mehrmals über das Gesicht, um dann zu äußern:

 

„Ich sehe dich. Du bist ja ganz schön silbrig.“

 

„Und du bist ganz schön schwarz. Willst du mal Schornsteinfeger werden?“

 

Woher kannte ich das Wort ‚Schornsteinfeger’? Ich wusste nicht mal, was das bedeutete. War ich vielleicht in einem früheren Leben ein Mensch, ein schornsteinfegender Mensch? Ich erschrak heftig bei dem Gedanken, menschliche Gene in mir zu tragen.

 

„Wie sehe ich sonst aus?“, fragte ich ängstlich meinen Bruder.

 

„Nun, ganz ordentlich, soweit ich das beurteilen kann. Grundsätzlich siehst du so aus wie ich, nur silbrig. Was ist übrigens ein Schornsteinfeger?“

 

Ach du liebe  Güte! Was sollte ich denn antworten, hatte ich doch selbst keine Ahnung, was das bedeuten sollte.

 

„Das kann ich dir auch nicht erklären“, musste ich zugeben. „Ich habe keinen Schimmer, wie mir das Wort eingefallen ist. Daran sind einzig und allein meine Gene schuld. Die haben mir das Wort eingeflüstert.“

 

„Du musst ja merkwürdige Gene besitzen. Meine sagen mir nur, dass ich Hunger habe, aber die Essensausgabe ist wohl noch nicht geöffnet. Was sind denn das übrigens für merkwürdige Geräusche?“

 

„Die produzieren unsere Schwestern und unsere Mutter. Möglicherweise verständigen sich Hündinnen auf diese Weise.“

 

„Dann bin ich aber froh, dass ich nicht als Hündin konstruiert worden bin. Denkst du, dass das bei Hündinnen ein Konstruktionsfehler ist?“

 

Das war eine gute Frage.

 

„Durchaus möglich“, antwortete ich. „Sieh dich mal an, was da zwischen deinen Hinterbeinen baumelt, und dann betrachte unsere Schwestern. Denen fehlt das und dies deutet unmissverständlich auf einen Fabrikationsmangel hin. Die können einem wirklich leid tun. Die sind tatsächlich als Krüppel auf die Welt gekommen. Wir sollten zukünftig sehr zuvorkommend mit ihnen umgehen und ihnen  über ihren Mangel hinweghelfen.“

 

Zu weiteren Erörterungen kamen wir nicht, da zwei unserer Schwestern ihre Geräusche, die wir später als ’Schnarchen’ kennen lernten, einstellten und erstaunt in den Tag hineinblickten. Auch sie hatten über Nacht ihre Sehfähigkeit und ihr Gehör erhalten, wobei man genau merkte, dass sie trotzdem keinerlei Durchblick besaßen.

 

„Oh, wir können sehen und hören“, meinte die eine zur anderen. „Sieh mal, da sind unsere Brüder.“

 

Woher wusste die denn, dass wir die Brüder waren? Ach so, ja natürlich, das Gehänge zwischen unseren Beinen. Die hatte sofort erkannt, dass wir ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal besaßen. Das arme Ding! Ich versuchte, sie augenblicklich zu trösten.

 

„Ihr seid aber beide trotzdem schön“, befleißigte ich mich, zu bestätigen.

 

„Was heißt denn da ‚trotzdem’? Wie soll ich das verstehen?“

 

Ach du liebe Güte! Die Arme hatte noch gar nicht bemerkt, dass bei beiden die Evolution oder die Konstruktion kläglich versagt hatte. Ich suchte verzweifelt nach einer Ausrede. Sie würden bald selbst entdecken, dass ihr Körperbau einen erheblichen Mangel aufwies.

 

„Ich meinte nur, dass ihr, obwohl ihr nach uns auf die Welt gekommen seid, dennoch eine regelrecht auffällige, natürliche Schönheit besitzt.“

 

„Oh, glaubst du tatsächlich?“, säuselte sie geschmeichelt. „Ihr seht aber beide auch ganz passabel aus.“

 

Hatte ich richtig gehört? Hatte die echt ‚passabel’ gesagt? Vermutlich wusste sie nicht, was ‚passabel’ bedeutete und war der Ansicht, dass dies etwas Besonderes sei. Na ja, die Kleine war eine beigefarbige Hündin, also eigentlich blond. Da musste man ihr Vieles nachsehen.

 

In den nächsten Tagen lernten unsere Augen besser zu sehen und unsere Ohren besser zu hören. So konnten wir auch zum ersten Mal unsere Mutter näher betrachten. Sie hatte kurzes, glattes, braunes Fell, ein längliches, sehr edles Gesicht und Schlappohren. Sie gefiel mir ausgesprochen gut und ich fand, dass ich eine gute Wahl getroffen hatte, sie mir als Mutter auszusuchen.

 

Wie Augen und Ohren kamen auch unsere Nasen ihrer Pflicht nach und bemühten sich, Gerüche deutlicher wahrzunehmen. Wenn ihr meine Meinung wissen wollt: Das hätte noch etwas Zeit gehabt, denn nicht alles, was meine Geschwister von sich gaben, roch gut. Aber wie so oft wurden meine Entwicklungsschritte nicht mit mir abgesprochen.

Von Spitzohr- und Stacheltieren

 

Nachdem nun unsere Gelenke ebenso ein wenig besser ausgebildet waren, begannen wir alle, mit, wie ich zugeben muss, leicht unbeholfenen Bewegungen, das Tonnenhäuschen zu verlassen und die Wiesenfläche, die sich davor befand, ein wenig zu erkunden. Merkwürdige Tiere lernten wir da kennen. Die einen krabbelten auf den Grashalmen herum, die anderen flogen aufgeregt durch die Gegend und nervten uns ganz gewaltig, vor allem, wenn sie sich ohne Erlaubnis auf unsere Nasenspitzen setzten. Aufregend war die Begegnung mit einer Kreatur, die wie wir, vier Beine hatte, einen entsetzlich schleichenden Gang und ein Gesicht, welches mit scheußlichen Spitzohren bestückt war. Die Laute, die dieses Vieh von sich gab, klangen zutiefst unzivilisiert und wurden von uns allen als so etwas wie ‚Miau’ wahrgenommen. Außerdem musste das Tier einen gewaltigen Dachschaden haben, denn es rannte völlig ziellos die Baumstämme hinauf. Womöglich konnte dieses Ding aufgrund irgendeines Erbfehlers nicht um die Stämme herumgehen und musste daher auf der einen Seite den Stamm hinauf und auf der anderen wieder heruntergehen. Ich weiß nicht weshalb, doch blitzartig kam in mir der Drang hoch, dieses Individuum zu jagen. Unglücklicherweise machten meine Beine bei diesem Vorhaben noch nicht mit und so blieb es bei einem kläglichen Gestolpere, das von dem Spitzohr mit einem mitleidigen ‚Miau’ bedacht wurde. Gottlob hatte unsere Mutter das Individuum ebenfalls entdeckt. Mit einem Riesensprung fuhr sie aus dem Tonnenhäuschen und rannte mit großen Sprüngen auf das missratene Tier zu. Diesem blieb das bescheuerte ’Miau’ im Halse stecken und mit einem gewaltigen Satz flüchtete es über einen Zaun ins benachbarte Grundstück. Zufrieden kehrte unsere Mutter zurück, wobei sie grummelnde Laute von sich gab.

 

„Was war denn das für ein komisches Wesen?“, fragte mich eine meiner Schwestern.

 

„Keine Ahnung“, antwortete ich. „Vielleicht war das eine Kreuzung aus Hund und Vogel, weil es halb gehen und halb fliegen kann. Um derart verunglückte Geschöpfe sollten wir uns gar nicht kümmern.“

 

Wir mochten vielleicht vier, fünf Wochen alt gewesen sein, als unsere Mutter von einem ihrer Ausflüge, die uns immer noch ein Rätsel waren, zurückkam und einen uns fremden Lappen mitbrachte, den sie vor uns auf den Boden legte. So sonderbar das Gebilde auch aussah, es hatte einen angenehmen, verführerischen Geruch, der uns alle sofort animierte, mit unseren gerade erschienenen Milchzähnchen daran rumzuknabbern. Das Zeug schmeckte wirklich gut und wie sich später herausstellte, wurde der Lappen als 'Fleisch' bezeichnet. Von diesem Tag an waren wir alle darauf erpicht, möglichst viele von diesen Lappen zu erhalten und weniger die Saugrohre zu benützen.

 

„Wo sie das wohl her hat?“, rätselte mein Bruder.

 

„Das würde mich auch interessieren“, gab ich zur Antwort. „Aus ihren Versorgungsleitungen kommt das sicherlich nicht. Das hätten wir doch alle bemerkt.“

 

Dass unsere Mama einen mitleidigen Metzger gefunden hatte, der sie mit Abfallfleisch versorgte, sollten wir erst später erfahren.

 

Eben zu dieser Zeit, ich lag gerade friedlich im Gras und ließ meine Blicke über meinen aparten Körper schweifen, entdeckte ich etwas, das an mein Hinterteil angewachsen war und leise vor sich hin wedelte.

 

„Nanu“, dachte ich, „was ist denn das? Das ist mir vorher noch gar nicht aufgefallen.“

 

Heimlich kontrollierte ich den Körperbau meiner Geschwister und stellte fest, dass wir alle mit diesem Wedel ausgerüstet waren. Gehörte der wirklich zu mir und wozu brauchte man so ein Ding überhaupt? Um diese ganze Angelegenheit erst einmal  näher zu überprüfen, wendete ich meinen Kopf nach hinten, so dass ich dieses Anhängsel mit der Schnauze erreichen konnte und biss kräftig hinein.

 

Autsch! Verdammt, das tut weh! Dieses wackelnde Gerät gehörte also wirklich zu mir.

 

„Hast du schon einmal dieses längliche Teil an deinem Hintern bemerkt?“, forschte ich bei meinem Bruder nach.

 

„Welches längliche Teil meinst du denn?“, fragte er mich, woraus ich schloss, dass auch er total ahnungslos diese höchst verdächtige Erweiterung unseres Körpers mit sich herum trug.

 

Unsere Schwestern hatten unsere Unterhaltung mitgehört und begannen alle, ihre Gestalt zu betrachten.

 

„Hilfe!“, schrie eine gleich los. „Irgendjemand hat hinten bei mir eine Schlange befestigt!“

 

Woher wusste die denn, was eine Schlange ist? Die gebrauchte das Wort nur wieder aus lauter Angeberei.

 

„Beißt bloß nicht rein!“, warnte ich. „Das tut verdammt weh!“

 

Aber Hündinnen sind wie die Frauen bei euch Menschen. Wenn man sie vor etwas warnt, machen sie es erst recht. So erfuhren alle ganz schnell, dass Schwänze, wie diese Dinger genannt wurden, tatsächlich zu Hunden gehören und nicht dafür gedacht sind, als Beißutensil zu fungieren. Als ich älter wurde, merkte ich, dass dieses Körperteil hilft, die Balance zur halten, besonders beim Springen und beim Schwimmen eine gewisse Ruderfunktion ausüben kann. Das natürlich nur, wenn man Wasser und Schwimmen mag.

 

Unsere Mutter lag in der wärmenden Sonne und beobachtet unser Treiben. Wenn ich mich nicht getäuscht hatte, glaubte ich ein schadenfrohes Grinsen in ihrem Gesicht gesehen zu haben, was ich als restlos überflüssig und unangebracht empfand. Trotzdem spielten wir in den nächsten Tagen häufiger mit unseren Wedeln, wobei wir alle peinlichst darauf achteten, dort keine festeren Bisse anzubringen. Genau gesehen, war das doch ein schönes Spielzeug, wenn man verstand, richtig  damit umzugehen. Ihr Menschen könnt da nicht mitreden, weil ihr eben leider eine fehlerhafte organische Ausbildung habt und schwanzlos durch die Gegend rennen müsst.

 

Es war früher Abend und ein schummeriges Dämmerlicht legte sich über unseren Garten, als wir alle ein deutliches Rascheln und Husten vernahmen. Gespannt lauschten und blickten wir in die Richtung, aus der diese nicht zuordenbaren Laute stammten. Nach wenigen Minuten sichteten wir ein Tier, das sich, leicht rundlich und überall mit Stacheln bewaffnet, seinen Weg durch das Gras bahnte. Dass diese fremdartige Verkleidung Stacheln waren, wussten wir allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nun, Welpen sind grundsätzlich neugierig, wobei diese Eigenschaft bei den weiblichen Welpen wesentlich ausgeprägter ist als bei den männlichen. Mein Bruder und ich ließen daher auch unseren Schwestern den Vortritt. Eine der beigefarbigen näherte sich vorsichtig dem Getier, reckte die Schnauze nach unten und wollte mit ihrer vorwitzigen Nase daran schnüffeln.

 

„Aua!“, schrie sie erschrocken. „Das Vieh sticht!“

 

Besagtes Vieh hatte inzwischen die Form einer Kugel angenommen und Gesicht und Beine waren komplett in dieser Kugel verschwunden.

 

„Wo sind denn bei dem der Kopf und die Beine geblieben“, staunte die Blondine. Ich meine selbstredend die beigefarbige Schwester.

 

„Vielleicht kann dieses Tier seine Körperteile unsichtbar machen“, mutmaßte eine andere meiner Schwestern.

 

„Schade, so ein schöner runder Ball, und wir können nicht damit spielen, weil es ein Stachelball ist“, stellte die nächste enttäuscht fest.

 

Unsere Mutter gesellte sich dazu.

 

„Dieses Tier heißt Igel und hat Flöhe. Es macht sich kugelrund, wenn es sich schützen will, so dass man Kopf und Füße nicht mehr sieht. Leider können die Flöhe auch auf uns Hunde übertragen werden. Die beißen euch und der Biss juckt fürchterlich. Also haltet euch fern von allen Igeln!“

 

„Du liebe Güte!“, schrie ich entsetzt. „Ist das ansteckend?“

 

„Flöhe haben kein Benehmen und hüpfen daher von einem zum anderen. Wir alle können Flöhe bekommen.“

 

„Wir alle?“, brüllte mein Bruder fast hysterisch. „Ich auch?“

 

„Du auch! Ich sagte ja: Jeder Hund kann von Flöhen befallen werden.“

 

„Ich will ab sofort kein Hund mehr sein!“

 

„So, so, was möchtest du denn sonst sein?“

 

„Vielleicht dieses Ungetüm, das dauernd ‚Miau’ schreit und auf den Bäumen spazieren geht?“

 

„Du meinst eine Katze. Die bekommen auch Flöhe.“

 

„Dann bleibe ich lieber Hund. Aber meine Schwester soll sich ferne von mir halten.“

 

„Keine Angst. Die ist ja schleunigst wieder zurückgesprungen, als sie gemerkt hat, dass ein Igel Stacheln hat. Die war schneller als jeder Floh.“

 

Ich habe keine Ahnung, ob unsere Mutter das aus Überzeugung sagte oder nur, um uns zu beruhigen, doch sie behielt Recht. Keiner von uns wurde durch Flohbisse geplagt. Zukünftig würden wir alle einen großen Bogen um diese Igel machen. Wozu auch sich näher mit solch einem Stachelvieh beschäftigen? Das konnte ja nicht einmal hündisch sprechen. Diese Spezies musste zu einer ziemlich unterentwickelten Gattung gehören, wie, das muss ich bedauerlicherweise sagen, ihr Menschen eben auch. Allerdings: Vielleicht wird aus euch im Laufe  der Zeit noch etwas. Man soll die Hoffnung niemals aufgeben.

 

Kurz nach der fünften Woche unseres Daseins geschah etwas, das uns in Angst und Schrecken versetzte. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf und es begann zu regnen. Dass diese Erscheinungen ‚Wolken’ hießen, hatte uns die Mutter zwischenzeitlich erklärt, genauso wie das grelle, gelbliche Gebilde ‚Sonne’ genannt wurde. Sogar, dass manche Wolken pinkeln können, hatten wir schon erfahren. Doch dass Wolken auch Durchfall bekommen können und laut pupsen, das wussten wir nicht. Vor allem nicht, dass sie das mit einem so ohrenbetäubenden Krachen machen können, wobei, das muss man zu ihrer Entschuldigung sagen, sie dies stets durch ein helles Warnblinken ankündigten. Später lernten wir, dass man das Warnblinken ‚Blitz’ nennt und das Pupsen ‚Donner’. Das Wasser fiel wie ein Fluss vom Himmel und nach wenigen Minuten ergossen sich Bäche an unserem Tonnenhäuschen vorbei. Am schlimmsten jedoch waren die Blitze und der Donner. Beides versetzte uns in Angst und Schrecken und ich gebe zu, dass wir Welpen alle so schnell zitterten, dass wir fast außer Atem gerieten, und alle hatten wir unsere Schwänze eingezogen. Hier muss ich gleich etwas richtig stellen: Wenn wir den Schwanz einziehen, geschieht das nicht aus Angst, wie ihr Menschen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.05.2018
ISBN: 978-3-7438-7011-6

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