Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist eine ziemlich vertrackte Sache, die Geschichte, die ich erzählen möchte. Das Beste ist, ich beginne bei meinem Namen.
Also, ich heiße Phil. Eigentlich heiße ich ja Philipp, aber so hat mich keiner genannt. Bereits meine Eltern haben mich immer nur Phil gerufen. Lediglich der Pfarrer bei der Taufe meinte eigensinnigerweise:
„Ich taufe dich auf den Namen ‚Philipp Hubert’“.
Dabei schüttete er mir eiskaltes Wasser über das Hirn und lächelte salbungsvoll dazu, was ich mit einem lauten Geschrei kommentierte. Dieser Trottel! Hätte doch Wein nehmen können; der hätte wenigstens nach etwas geschmeckt. Aber nein, eiskaltes Wasser musste es sein. Noch nicht einmal Mineralwasser, sondern ganz gewöhnliches aus der Leitung. Gut, es war gesegnet, doch den Wein hätte er ja auch segnen können. Den hat er dann lieber selber gesoffen. Egal, lassen wir das. Es genügt zu wissen, dass ich niemals 'Philipp Hubert', sondern immer nur Phil genannt wurde. Ich habe keine Ahnung, was meine Eltern dazu getrieben hat, mir noch zusätzlich den bescheuerten Namen ‚Hubert’ zu geben. Ich bin mir sicher, dass sie an diesem Tag nicht ganz zurechungsfähig waren. Schon alleine die Kombination: Philipp Hubert! Als sei der Philipp Hubert eine bekannte Persönlichkeit gewesen. Ich kenne noch nicht einmal einen Hubert, geschweige denn einen Philipp Hubert. Meine Eltern haben darüber auch nie ein Wort verloren. Ich glaube, sie haben später selbst eingesehen, dass das ein völliger Missgriff war. Einen Nachnamen hatte ich auch, nämlich den seltenen Namen Maier. Zumindest schrieb sich der Maier mit ‚ai’, war also wenigstens ein bayerischer Maier, was aber auch nicht zur Optimierung des Huberts beisteuerte.
Sehr zum Wohlgefallen meiner Eltern, sämtlicher Omas, Opas, Tanten und Onkel, gedieh ich prächtig und war natürlich das schönste Baby, das man sich nur vorstellen konnte. Logisch. Wie hätte das bei einem Philipp Hubert auch anders sein sollen!
Als ich mich entschlossen hatte, dem Windelalter zu entsagen und stattdessen erfolgreich und zuverlässig das Töpfchen für meine Hinterlassenschaften zu nutzen, kam ich in den Kindergarten. So weit ich mich erinnere, war ich da gerade drei Jahre alt. Gleich am ersten Tag meiner Kindergarten-Karriere lernte ich sie kennen: Lydia, ein Mädchen mit lockigen blonden Haaren, die ebenso kompromisslos den Topf in Einsatz brachte und mit mir darum wetteiferte, wer von uns beiden das Volumen dieses Behältnisses am intensivsten befüllen konnte. Wir kamen uns sozusagen zum ersten Mal beim Verrichten unserer Darm- und Blasengeschäfte näher, was unsere unverbrüchliche Freundschaft begründete, die sich darin äußerte, dass wir zu einem eingeschworenen Team zusammenwuchsen, das sich gegen jeden, unserer Ansicht nach ungerechtfertigten Eingriff von anderer Seite, aufs heftigste zur Wehr setzte. Verlangte die Erzieherin etwas, was einem von uns beiden nicht behagte und drückte sich dies in lautstarkem Geschrei aus, brüllte der andere auf der Stelle mit, was den Geräuschpegel augenblicklich verdoppelte. Ähnlich verfuhren wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Kindergarten-Gruppe, wobei wir hier unsere Hände und Füße in Form von Püffen, Zwicken, Haareziehen und Tritten äußerst ersprießlich und nutzbringend einsetzten. Kurz: Ging es darum, etwas zu verteidigen oder durchzusetzen, verteidigte der andere sofort mit. Wir bekamen sehr schnell heraus, dass bei den Erzieherinnen das Brüll-Konzept chancenreich war, bei den anderen Kindern die hand- oder fußgreifliche Methode und setzten beides rigoros ein, so dass wir letztlich immer unseren Willen behaupteten. Insofern war der Kindergarten für uns ein Paradies, da wir innerhalb kürzester Zeit alles für uns so geregelt hatten, wie wir es für uns als gut erachteten.
Unsere Zusammenarbeit war aber nicht nur auf den Kindergarten beschränkt, sondern erstreckte sich, da Lydias Eltern sich als Domizil ausgerechnet das Nachbarhaus für ihre Bleibe ausgewählt hatten, auch auf die übrige Freizeit. Zu unser beider Entschuldigung muss ich allerdings sagen, dass es zu Hause kaum Notwendigkeiten zum Einsatz unserer Durchsetzungsstrategieen gab. Ganz im Gegenteil: Unsere Eltern waren froh, dass wir uns so gut verstanden und uns stundenlang mit uns selbst beschäftigen konnten, ohne dass ein Einschreiten der Alten erforderlich gewesen wäre.
„Ich verstehe nicht, dass sich Kinder in diesem Alter schon so gut mit sich selbst beschäftigen können, ohne dass sie sich ein einziges Mal streiten“, gaben unsere Mütter gegenüber anderen an, wobei sie deutlich heraushängen ließen, dass eindeutig ihre herausragenden Erziehungsmethoden der Grund dieses Erfolgs sein mussten und andere nur zu blöd seien, ihre Kinder dementsprechend großzuziehen. Unsere Väter waren offensichtlich anderer Meinung. Als sie einmal im Garten zusammensaßen und Bier tranken, hörte ich Lydias Papa sagen:
„Das liegt eindeutig an unseren väterlichen Genen, die voll und ganz durchgeschlagen haben.“
Dabei lächelte er selbstzufrieden und mein Vater bestätigte ihn. Ich hatte keine Ahnung was Gene sind und fragte Lydia.
„Weiß auch nicht, was das ist. Muss aber gut sein, weil es beide Papas haben. Wahrscheinlich ein Geheimnis. Dürfen die Mamas nicht wissen.“
Dabei ließen wir es bewenden und freuten uns, was für tolle Sachen wir von unseren Vätern erhalten hatten, die es augenscheinlich bei anderen Kindern nicht gab. Lydias Mutter war Italienerin und hatte noch viele Verwandte in Florenz. So war es fast selbstverständlich, dass auch wir von Zeit zu Zeit mit nach Italien fuhren. Als wir das erste Mal die Verwandten kennen lernten, fummelten sie ständig an mir herum, strichen mir über den Kopf und nannten mich immer nur: 'Bel bambino'. Später, nachdem ich älter geworden war, war ich plötzlich der ‚bel ragazzo’. Auf alle Fälle blieb ich ‚bel’, was Lydia damit kommentierte, dass ich froh sein solle, dass ich kein Bello sei.
Als wir eingeschult wurden, kamen wir in die gleiche Klasse und konnten dadurch unser Erfolgsrezept des Kindergartens weiterführen. Es bei den Klassenkameraden durchzusetzen war nicht schwer, da über 50 Prozent in der ersten Klasse aus unserem Kindergarten stammten und wussten, wie sorgsam man mit uns verfahren musste. Die anderen 50 Prozent hatten das innerhalb einer Woche begriffen.
Von Anfang an lernten wir nach der Schule zusammen und machten auch gemeinsam unsere Hausaufgaben. Da wir uns gegenseitig helfen konnten, war die Grundschule für uns kein Problem. Nach der vierten Klasse wechselten wir ins Gymnasium. Wieder hatten wir das Glück, derselben Klasse zugeteilt zu werden, und noch immer war das gegenseitige Verständnis so, wie in den Kindergartentagen.
Lydia war in den sprachlichen und sozialwissenschaftlichen Fächern besser, ich in den mathematischen und naturwissenschaftlichen. Erneut ergänzten und vervollständigten wir uns. Was der eine nicht verstand, wusste der andere, was dazu führte, dass wir in allen Fächern gute bis sehr gute Ergebnisse erzielten. Da wir weiterhin als schlagende Einheit auftraten, wurden wir gleich als Klassensprecher gewählt. Auf diese Weise konnten wir vom ersten Tag an die ganze Klasse so steuern, wie wir es für gut erachteten. Dass dies nicht immer mit den Ansichten unserer Lehrer übereinstimmte, betrachteten wir nicht als unser Problem. Des Öfteren wurde beide Elternpaare eingeladen und mussten sich anhören, dass wir ab und zu etwas renitent seien und die gesamte Klasse aufwiegeln würden. Die ernsthaften Ermahnungen unserer Eltern nahmen wir wohlwollend zur Kenntnis, was an der Sachlage absolut nicht änderte. Im Laufe der Zeit hatten sich alle an unser Vorgehen gewöhnt und ließen uns ungeschoren. Lehrer wie auch unsere Eltern.
Irgendwann begann die Zeit der ersten Parties und jeder fing an, sich in irgendjemanden zu verlieben. Wir auch, wobei es bei uns einfach war, da wir uns ja schon seit den frühesten Kindertagen liebten. Der einzige Unterschied war, dass unsere Kinderliebe in eine Jugendliebe wechselte. Das tat aber unserer Verbundenheit keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil wurde sie dadurch noch intensiver. Für alle, besonders für Lydias italienische Verwandte, stand es außer Frage, dass wir eines Tages heiraten würden.
So lief es weiter, bis wir in die 12. Klasse kamen, und dann trat mit widerwärtiger Heimtücke über Nacht das Unerwartete ein: Lydias Vater arbeitete in Pullach beim Bundesnachrichtendienst. Aus organisatorischen Gründen wurde seiner gesamten Abteilung plötzlich der Standort Berlin zugewiesen. Die Nachricht traf im Januar ein. Innerhalb von vier Wochen zog Lydia mit ihren Eltern in die Hauptstadt. Ich glaube, für uns beide war der Schock so groß, dass wir dieses einschneidende Ereignis erst begriffen, als wir endgültig getrennt waren. Wir telefonierten täglich miteinander, doch war das Leben nicht mehr so wie vorher. Es war, als hätte man mir einen Arm oder ein Bein abgehackt, und ihr ging es ganz ähnlich. Berlin wurde für mich zum Sinnbild einer herz- und seelenlosen Maschinerie, die rücksichtslos auf den Gefühlen der Menschen herumtrampelte. Am liebsten hätte ich Berlin und den gesamten BND in die Luft gesprengt. Kaum kamen die Osterferien, machte ich mich trotzdem sofort auf den Weg, um Lydia endlich wieder zu sehen. Sofort war wieder das alte Verbundenheitsgefühl vorhanden und wir schmiedeten Pläne, nach dem Abitur gemeinsam in München zu studieren. Doch wieder sollte alles anders kommen. Lydia hatte sich entschieden, Architekturdesign zu studieren. Eine der bekanntesten Universitäten dafür war eine private Elitehochschule in Florenz, und Lydias Vater bestand darauf, dass sie, nachdem sie im Abitur einen Notendurchschnitt von 1,2 erzielt hatte, sich unbedingt dort einzuschreiben habe. Italienisch war für sie, nachdem ihre Mutter ja Italienerin war, kein Problem, und darüber hinaus wohnten die meisten Verwandten ohnehin in Florenz, so dass es auch wohnungsmäßig keinerlei Probleme gab. Ich selbst wollte mich der Astro- und Plasmaphysik widmen und konnte damit in München bleiben, wo sich für diese Thematik einer der bekanntesten Lehrstühle befand.
Im August trafen wir uns noch einmal für ein Woche, dann musste Lydia nach Italien reisen, um ihren Umzug und die Notwendigkeiten des Auslandstudiums vorzubereiten. Die Anrufe und Treffen wurden immer weniger, bis sie nach zwei Jahren schließlich ganz einschliefen. Dabei ging sie mir nicht aus dem Kopf und ich weiß heute, dass sie ähnlich empfand. Kurz vor meinem Diplom erhielt ich einen Brief mit der Einladung zu ihrer Hochzeit.
„Ich liebe dich noch immer und du wirst stets in meinen Gedanken sein“, schrieb sie. „Trotzdem heirate ich Emilio. Er hat hier ein großes Architekturbüro und ich habe mehrmals bei ihm ein Praktikum absolviert. Verzeih mir!“
'Na, was sie da praktiziert hat, kann ich mir lebhaft vorstellen', dachte ich bei mir. Ich fühlte mich regelrecht gedemütigt und hintergangen. Wie hatte sie sich dazu hinreißen lassen können, einen Italiener zu heiraten? Sofort begann ich, alles Negative an ihr zu suchen, um mich zu beruhigen und mir einzureden, dass ich Glück gehabt hatte, sie nicht als Ehefrau heimzuführen. Ich fand aber nichts Negatives an ihr, so sehr ich mich auch anstrengte. Also hielt ich mich an diesen idiotischen Emilio. Sie hatte ein Bild von ihm beigelegt, das ich eingehend studierte. Ein völlig nichtssagendes Gesicht mit einem bigotten, scheinheiligen Priesterlächeln. Und das sollte ihr zukünftiger Mann sein? War sie kurzsichtig geworden? Der Typ sah ja aus wie ein Pfarrerlehrling, zumindest jedoch wie der Sohn eines Bischofs, wenn ich auch nie einen Sohn eines katholischen Geistlichen gesehen hatte. Aber so und nicht anders musste ein solches Geschöpf aussehen. Und der war tatsächlich Inhaber eines großen Architekturbüros? Vermutlich baute der öffentliche Toiletten und designte die passenden Pissoirs dazu. Zu was anderem war dieser Kerl doch nicht fähig! ‚Pissfratze’ brüllte ich das Foto an, was meinen Zorn nicht eindämmte, sondern noch um ein Vielfaches erhöhte.
Zwei Tage grollte ich vor mich hin, wobei ich gedanklich den armen Emilio mehrfach verprügelte, ihn in die Jauchengrube steckte und öffentlich als Frauenschänder anprangerte, was in meinen Augen auch beinahe zutraf, da es eine Schande war, dass so ein Nichtsnutz sich erdreistete, meine Lydia zu heiraten. Nach einer Woche war ich dann wenigstens in der Lage zu schreiben, dass ich leider nicht zu ihrer Hochzeit kommen könnte, wobei ich ihr nicht verschwieg, dass ich dies seelisch nicht verkraften würde. Auf diesen Brief habe ich nie eine Antwort erhalten.
Mehr aus Verzweiflung denn aus Eifer stürzte ich mich in meine Studien, reichte ein Jahr nach meinem Diplom meine Doktorarbeit ein und hatte ein weiteres Jahr später habilitiert. Kurz darauf erhielt ich einen Job beim Max-Planck Institut für Plasmaforschung in München Garching. Immer wieder dachte ich zwischendurch an Lydia, mittlerweile aber ohne Zorn. Der Ärger über Emilio war aber immer noch nicht verflogen. Der Kerl hatte nur Glück, dass er in Italien lebte und sich in München nicht blicken ließ.
Natürlich hatte ich irgendwann Mädchenbekanntschaften. Teilweise sehr schöne sogar, aber eine festere Bindung hatte sich nie daraus entwickelt. Momentan war ich auch viel zu sehr damit beschäftigt, mich in meiner Arbeitswelt zurecht zu finden und hatte daher kaum Zeit, mich intensiver um Bekanntschaften, geschweige denn Freundschaften zu kümmern. Meine Mutter war der Ansicht, ich würde immer noch zu sehr an Lydia denken und wäre aus diesem Grund gar nicht zu einer Bindung fähig. Vielleicht hatte sie Recht, ich vermag das nicht zu beurteilen.
Dann kam mein dreißigster Geburtstag. Eine große Feier sollte stattfinden, wodurch ich gezwungen war, mir endlich vernünftige Kleidung zuzulegen, denn die Modewelt hatte ich in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt, was diese Welt, vor allem aber meine Mutter, in heftigsten Aufruhr versetzte.
„In diesen Lumpen nimmst du nicht an deiner Feier teil. Die sind uralt und ziemlich verschlissen“, stellte sie rücksichtslos angesichts meiner Garderobe fest, die ich immer noch relativ tragbar fand.
Ehrlich gesagt, ich fand mein Outfit eigentlich völlig in Ordnung und hatte partout nichts daran auszusetzen, beugte mich aber der niederträchtigen Unnachgiebigkeit meiner Mutter, da nicht einmal mein Vater gegen ihre dreisten Argumente einschritt. Zusätzlich erhielt ich auch noch die Anweisung, in welchem Geschäft ich einzukaufen hätte. Völlig demoralisiert begab ich mich also in dieses Etablissement, das in der Fußgängerzone in München lag. Leicht verunsichert und in Gedanken bei einem plasmaphysikalischen Problem, das ich zu lösen hatte, trat ich durch die breite Glastüre, die den Raum in die Schöpfungen der Modewelt öffnete und wäre fast mit einer jungen Frau zusammen gestoßen, die gerade das Geschäft verlassen wollte. Die Entschuldigung blieb mir im Hals stecken, und ich starrte bestimmt eine Minute in das Gesicht meines Gegenübers, ohne einen Ton heraus zu bekommen. Erst als andere Kunden darum baten, doch etwas zur Seite zu treten, da wir beide den Zugang versperrten, fand ich meine Sprache wieder.
„Lydia!“, schrie ich so laut, dass sich alle Leute nach mir umsahen, „was machst du denn hier?“
Mir vis-à-vis stand allen Ernstes Lydia, die genauso perplex war, wie ich. Erstaunt fixierte sie mich, ohne dass sich irgendein Ausdruck in ihrem Mienenspiel gezeigt hätte. Ganz im Gegenteil sprach aus ihrem Gesicht völliges Unverständnis ob des unverschämten Menschen, der sie einfach ‚Lydia’ genannt hatte. Ein peinlicher Moment, von dem ich mich mit einer umständlichen Entschuldigung aus der Affäre ziehen wollte.
„Verzeihung, ich habe Sie mit jemandem verwechselt.“
In diesem Augenblick legten sich zwei Arme um meinen Hals und meine Lippen erhielten einen dicken Kuss.
„Du hast mich nicht verwechselt. Ich bin’s wirklich. Ich war nur so überrascht, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.“
„Na und ich bin erst überrascht. Warum hast du denn nicht geschrieben, dass du in München bist?“
Sie sah mich lange an, und ich glaubte in ihren Augen eine gewisse Traurigkeit wahrzunehmen.
„Das ist eine etwas längere Geschichte“, antwortete sie. „Wenn du Zeit hast, gehen wir in ein Cafe und ich werde dir das gerne erklären.“
Im Nu war mein Einkaufseifer, wenn er überhaupt bestanden hatte, verschwunden.
„Natürlich habe ich Zeit. Jede Menge sogar. Eigentlich weiß ich gar nicht was ich mit meiner Zeit anfangen soll. Ich bin nur rein zufällig hier.“
Mir war überhaupt nicht bewusst, was für einen Unsinn ich redete. Ich fühlte nur, dass sich in meinem Inneren etwas löste und das alte vertraute Gefühl sofort wieder vorhanden war.
„Du hast wirklich Zeit?“, zweifelte Lydia. „Musst du nicht zur Arbeit?“
„Heute nicht. Ich habe mir einen Tag Urlaub genommen. Also habe ich den ganzen Tag Zeit.“
Ich sah ihr an, dass sie mir kein Wort glaubte, und mit dem ihr eigenen Lächeln, aus dem hervorging, dass sie genau wusste, was ich vorgehabt hatte, nahm sie mich an der Hand und zog mich mit sich fort.
„Na, dann komm! Hier um die Ecke ist ein kleines nettes Cafe, da können wir uns unterhalten.“
Da schönes Wetter herrschte und die Temperaturen angenehm waren, setzten wir uns im Außenbereich an einen kleinen Tisch, der etwas abseits von den anderen stand, so dass wir uns in Ruhe unterhalten konnten.
„Wie lange bist du denn schon in München?“, begann ich mit einer unverfänglichen Frage, in dem sicheren Glauben, sie sei erst vor kurzer Zeit hier eingetroffen.
„Jetzt ist es bald ein halbes Jahr“, antwortete sie, als sei das ganz normal.
„Was, ein halbes Jahr?“, rief ich und bemühte mich dabei höchstes Entsetzen in die Betonung zu legen, was mir auch gut gelang und durchaus ehrlich gemeint war. „Ein halbes Jahr und du hast dich nicht bei mir gemeldet? Warum nicht?“
Wieder legte sich ein etwas trauriger Ausdruck auf ihr Gesicht.
„Ich habe mich nicht getraut“, brachte sie schließlich hervor.
„Nicht getraut? Weshalb das denn?“
Sie zupfte an ihren Fingern herum und man merkte, dass es ihr schwer fiel, den Anfang für eine Erklärung zu finden.
„Ich wollte nicht, dass du meinst, jetzt, wo mein Mann tot ist, dass ich mich nur melde, weil ich wieder alleine bin und nun wieder Anschluss an dich suche.“
„Dein Mann ist tot?“, wiederholte ich erregt und fast stotternd fragend ihre Antwort. Alles hatte ich erwartet, nur das nicht. „Seit wann denn schon?“
In diesem Augenblick, war mir Emilio plötzlich unheimlich sympathisch. Lydia setzte sich in eine bequemere Position.
„Er starb bereits ein halbes Jahr, nachdem wir geheiratet hatten. Ich bin also schon fast zwei Jahre Witwe.“
„Und du hast mir nie ein Sterbenswörtchen erzählt.“
„Ich sagte dir bereits: Ich habe mich nicht getraut und ich habe mich auch ein wenig geschämt. Schon bald nach unserer Hochzeit stellte sich heraus, dass mein Mann sich lieber anderen Männern als zu mir, seiner Frau, zuwendet. Unsere Ehe war mehr oder weniger gleich von Beginn an gescheitert. Er hatte mich nur geheiratet, um den Schein nach außen zu wahren, was insbesondere mit dem Bekanntheitsgrad seines Architekturbüros zusammenhing. Das Büro war vor allem im exklusiven Objektbau tätig und erhielt daher sehr viele Aufträge von städtischen und staatlichen Institutionen. Italien ist in manchen Dingen noch sehr konservativ. Wenn bekannt geworden wäre, dass er schwul ist, hätte die Presse, das sofort aufgegriffen, und dann wäre es aus gewesen mit den lukrativen Aufträgen. Natürlich hätte ich mich scheiden lassen können, als ich seine Neigungen bemerkte. Doch auch das hätte natürlich nach so kurzer Zeit ein Aufsehen erregt, das ihn ruiniert hätte. So kamen wir überein, drei Jahre unsere Ehe aufrecht zu erhalten, um dann die Trennung zu vollziehen. Meinen Eltern und meinen italienischen Verwandten konnte ich nichts erzählen. Meine Verwandten hätten ihn totgeschlagen und meine Eltern wären in der Lage gewesen, sofort alles öffentlich zu machen. Wir haben also einfach 'heile Welt' gespielt, obwohl wir niemals eine Ehe geführt haben. Das Einzige, was mich tröstete, war die Arbeit, denn er hatte wirklich tolle Aufträge, in die ich mich einbringen konnte und die mir auch Freude bereiteten. Das war allerdings die einzige Freude, die ich während unserer kurzen Ehe hatte. Verstehst du: Ich hatte einen Schwulen geheiratet. Wem hätte ich das beichten sollen? Aber das Schicksal hat manchmal ein Einsehen. Während einer Besprechung bei einer Behörde fiel er ein halbes Jahr nach unserer Hochzeit vom Stuhl und war tot. Er hatte, wie man später feststellte, einen Gehirnschlag erlitten.“
Lydia machte eine Pause und putzte sich die Nase.
Aha, dachte ich, dieser scheinheilige, gesichtsmäßige Priesterlehrling war also ein schwuler Priesterlehrling. Trotzdem wurde mir Emilio immer sympathischer und die Kunde seines Ablebens hatte etwas Versöhnliches, wenn nicht sogar Erfreuliches. Lydia hatte ihre Nasenpflege beendet und sah mich an. Offensichtlich erwartete sie jetzt eine Reaktion von mir. Ich konnte ihr aber schlecht sagen, wie sehr es mich freute, dass dieser italienische Klohäuschenkonstrukteur nicht mehr unter den Lebenden weilte. Ich kratzte mich an der Stirn und blickte ihr vielsagend in die Augen.
„Das ist ja fürchterlich und tut mir entsetzlich Leid für dich.“
Mehr als diesen banalen Quatsch brachte ich nicht zu Wege, und ich merkte sehr wohl, dass dies ziemlicher Unsinn war und natürlich fiel Lydia auch auf, dass mir der Tod von Emilio überhaupt nichts ausmachte. Gott sei Dank wurden wir von einem Spatz abgelenkt, der sich frech auf unserem Tisch niederließ und die Krümel von Lydias Teller pickte. Ich suchte dringend nach einem anderen Gesprächsthema.
„Was hast du denn mit dem Architekturbüro gemacht? Nachdem du schon ein halbes Jahr in München bist, nehme ich an, dass es nicht mehr in deinem Besitz ist.“
„Das war das nächste Problem. Ursprünglich wollte ich es behalten und weiterführen. Immerhin hingen über 60 Arbeitsplätze daran. Aber für eine Frau, noch dazu eine gebürtige Deutsche ist das nicht einfach. So entschloss ich mich, den Laden zu verkaufen. Interessenten gab es in rauen Mengen. Sehr schnell tauchten allerdings einige Herren in schwarzen Anzügen auf, die mir deutlich zu verstehen gaben, dass nur sie als Käufer in Frage kämen. Weißt du, durch die Kontakte zu den vielen staatlichen Institutionen war das selbstverständlich für jeden, auch für zwielichtige Organisationen, interessant.“
„Was! Du hast das Büro an die Mafia verkauft?“
„Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte lediglich, dass sie das wollten. Ich überlegte, wer noch als Käufer infrage käme, ohne dass sie mir oder dem potentiellen Erwerber etwas antun konnten, und ich habe tatsächlich einen gefunden. Ich habe das Büro an die Kirche verkauft.“
„An die Kirche? Was wollen denn die damit?“
„Der Vatikan besitzt doch alles Mögliche oder ist zumindest daran beteiligt: Banken, Müllbeseitigungs-Unternehmen und was weiß ich noch. Jetzt haben sie eben noch eines der bekanntesten Architektur-Büros. Außerdem haben sie sehr gut bezahlt. Mehr als ich erwartet hatte.“
„Interessant, und was willst du jetzt machen?“
„Das weiß ich auch noch nicht. Vielleicht mache ich mich hier in München selbständig oder kaufe mich irgendwo ein, vielleicht mache ich auch einfach gar nichts. Finanziell gesehen, müsste ich mein ganzes Leben nicht mehr arbeiten. Geld habe ich durch den Verkauf genug.“
Also wenigstens Geld war aus dieser unglücklichen Verbindung hervor gegangen.
„Und weshalb bist du nicht nach Berlin gegangen? Deine Eltern leben doch noch dort.“
„Erstens habe ich zu Berlin kaum eine Bindung. Ich bin ja gleich nach dem Abitur nach Florenz gegangen. Zweitens habe ich mich in dieser Stadt überhaupt nie wohl gefühlt, und drittens ist mein Vater jetzt in Rente gegangen und meine Eltern planen, auch wieder zurück in diese Gegend zu ziehen.“
„Wo wohnst du eigentlich?“
„Ich habe eine kleine, möblierte Wohnung am Stadtrand, in Solln, gemietet, bis mir klar ist, was ich eigentlich will.“
„Das hast du in dem letzten halben Jahr nicht geschafft?“
„Ganz ehrlich, ich habe noch nicht einmal fünf Minuten darüber nachgedacht. Ich habe einfach nur so in den Tag hinein gelebt, habe überflüssige Dinge eingekauft, habe stundenlang an einem See die Enten beobachtet oder der Müllabfuhr beim Leeren der Tonnen zugesehen.“
„Das sind natürlich höchst interessante Sachen“, bestätigte ich, und machte dabei eine wichtige Miene, die die Bedeutung ihrer Unternehmungen unterstreichen sollte, ohne dass ich das wirklich ernst meinte.
„Vor allem die Müllabfuhr zu beobachten, ist schon etwas, das einem im Leben riesige Schritte nach vorwärts bringt.“
„Alter Spötter“, antwortete Lydia, ohne beleidigt zu sein. „Es war einfach für mich keine Notwendigkeit vorhanden, schnelle Entscheidungen zu treffen.“
„Meinst du, du bist jetzt in der Lage, eine schnelle Entscheidung zu treffen?“
„Kommt darauf auf welche.“
Ich verlasse nun erst einmal unsere Zusammenkunft, da das weitere Gespräch mit dem Verlauf des Folgenden nicht direkt etwas zu tun hat. Es war nur notwendig, darzustellen, dass ich Lydia wieder getroffen hatte. Was das für uns beide bedeutete, werden wir später erfahren.
Es war bereits acht Uhr abends, als ich nach Hause zurückkehrte. Lasst mich hier weiter erzählen.
„Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr“, empfing mich meine Mutter mit einem deutlich vorwurfsvollen Ton.
„Du hast mich doch geschickt, mich neu einzukleiden“, verteidigte ich mich.“
„Und das dauert so lange? Hoffentlich hast du auch was Vernünftiges gekauft. Lass mich mal sehen!“
Ungeniert griff sie zu den Tüten, mit denen ich immer noch ziemlich hilflos in der Küche stand, wo meine Mutter eifrig in der Salatschüssel rührte. Sie breitete die Klamotten mitten auf dem Küchentisch aus, ohne den Salzbehälter, den sie offensichtlich noch für die Salatsoße benötigte, aus der Hand zu legen. Kopfschüttelnd begutachtete sie fachmännisch die Hemden, Hosen und Pullover, die ich erstanden hatte und blickte fast vorwurfsvoll zu meinem Vater, der am Küchenschrank lehnte und genüsslich an einem Glas Rotwein nippte. Irgendetwas schien sie zu beunruhigen.
„Das hast du niemals selbst ausgesucht. So einen tollen Geschmack hast du nicht. Scheinbar hast du einen Berater erwischt, der tatsächlich herausgefunden hat, was dir am besten steht.“
Ich fand diese Bemerkung mehr als beleidigend, vor allem hinsichtlich der Tatsache, dass sie mir nicht zutraute, selbständig etwas zu erwerben, das meinen Körper ansehnlich erscheinen ließ. Obwohl ich mich ärgerte, gab ich freimütig zu:
„Ich gebe zu, dass ich wirklich kompetente Hilfe hatte.“
Noch immer fingerte meine Mutter mit dem Salz herum und stand mehrfach in der Gefahr, den gesamten Inhalt des kleinen Behälters debattierend der armen Salatsoße zu übergeben.
„Ich habe ja gleich gesagt: Man muss eben in ein gutes Bekleidungsgeschäft gehen, wenn man gut beraten sein will. War es ein Verkäufer oder eine Verkäuferin?“
Wieder drohte das Salzfass der Salatsoße.
„Weder noch.“
„Was heißt da weder noch? Entweder war es ein Mann oder eine Frau.“
Allmählich fing das Verhör an, mir Spaß zu machen. Auch mein Vater schien immer mehr Wohlwollen an der strengen Befragung zu finden. Ich erkannte das daran, dass er die Augenbrauen in die Höhe zog, was er stets machte, wenn er irgendeiner Sache mit Aufmerksamkeit folgte.
„Es war eine Frau“, gab ich unumwunden zu, „aber keine Verkäuferin.“
„Aha!“
Hinter diesem ‚Aha’ versteckten sich so viele unausgesprochene Fragen, die mit Sicherheit gleich in erbarmungsloser Vehemenz auf mich niederprasseln würden, so dass ich augenblicklich ergänzte:
„Ich traf eine gute Bekannte, eigentlich eine Freundin, die mir geholfen hat.“
„Aha!“
O je. Schon wieder dieses ‚Aha’, dem unmissverständlich zu entnehmen war, dass meine Antwort alles andere als zufriedenstellend war. Ich befleißigte mich, sofort nähere Auskünfte zu erteilen, kam aber erst nicht dazu.
„Darf man erfahren, wie diese Freundin heißt oder ist das ein Geheimnis?“
„Natürlich dürft ihr erfahren, wer das ist. Sie heißt Lydia.“
„Ly….., Ly….. Lydia?“
Platsch machte es und das Salzfässchen war endgültig in der Salatsoße gelandet, und zwar mit der Öffnung nach unten, wodurch die Salzindustrie ihren Umsatz enorm steigerte. Meinem Vater fiel vor Schreck das Weinglas aus der Hand und steuerte zielstrebig den Küchenfliesen entgegen, wo es zersplitternd den gesamten Inhalt über den Boden ergoss.
„Welche Lydia?“, brachte meine Mutter schließlich immer noch stotternd hervor. „Unsere Lydia?“
„Nein“, grinste ich. „Meine Lydia.“
Wir können jetzt wieder einiges überspringen, da es nichts damit zu tun hat, was für die spätere Handlung erwähnt werden muss. Wichtig ist, dass ich bald in Lydias kleine Wohnung einzog und wir uns ein halbes Jahr danach entschlossen, das endgültig zu besiegeln, was wir von Anfang an hätten machen sollen. Wir entschieden, da sehr schnell die alte Vertrautheit und Gemeinsamkeit wieder hergestellt war und um uns nicht wieder aus den Augen zu verlieren, zu heiraten. Da wir keinerlei Feierlichkeiten wollten, hielten wir das geheim. Lediglich eine alte Freundin von Lydia und ein Kollege von mir, mit dem ich intensiveren Kontakt pflegte, waren eingeweiht, da sie die Trauzeugen spielen mussten. Dann kam endlich der Tag der Trauung. Obwohl wir beide in der Regel die öffentlichen Verkehrsmittel nutzten, entschieden wir uns an diesem Tag, mit meinem Auto zum Standesamt zu fahren. Damit nahm die merkwürdige Geschichte, die den weiteren Verlauf unseres Lebens bestimmen sollte, ihren Anfang. Ich war schon früh wach, machte uns noch ein kleines Frühstück und wartete. Der Termin im Standesamt war für 10.00 Uhr angesetzt. Um 9.00 Uhr holte ich den Wagen aus der Garage. Lydia hatte ein dunkelblaues Kostüm angezogen und kam mit trippelnden Schritten aus dem Haus.
„Na, dann kann es ja losgehen“, meinte sie, nachdem sie Platz genommen hatte. Wir hatten ein Standesamt in der Innenstadt gewählt, da wir nach der Trauung mit unseren Freunden dort in der Nähe in ein Restaurant gehen wollten. Der Verkehr lief einigermaßen flüssig, so dass klar war, dass wir viel zu früh eintreffen würden. Als ich gerade eine Kreuzung überqueren wollte, schrie Lydia auf einmal panisch auf:
„Reiß das Lenkrad nach rechts, sofort!“
Doch es war bereits zu spät. Ich sah noch mit rasanter Geschwindigkeit eine Straßenbahn auf uns zukommen und dachte bei mir: ’Wieso fährt die auf der Straße und nicht auf ihren Schienen?’
Das nächste, was ich wahrnahm, war das Schleudern des Triebwagens, dass Lydia an meinen Arm fasste und dann das Krachen, als die Straßenbahn ungebremst in die Vorderfront unseres Wagens pralle. Danach wurde es dunkel und still.
Ich hörte das Gemurmel mehrerer Stimmen. Sie klangen alle dumpf und hohl.
„Jetzt geht es los! Kräftig pressen, immer kräftig pressen!“
Was sollte denn das? Diese Stimme war mir völlig unbekannt. Eine Frauenstimme ganz eindeutig. Ich fand sie auf Anhieb unsympathisch. Und überhaupt: Dieser Befehlston! Pressen! Meint die etwa mich? Was soll ich denn pressen? Ist doch sowieso verdammt eng hier drinnen. Ich komme mir schon vor wie eine Presswurst. Wo bin ich eigentlich? Alles dunkel, aber nicht so, dass man sich fürchtet. Ganz im Gegenteil: Es ist zwar nicht gerade geräumig, aber man kann sich einigermaßen wohl fühlen. Gut, am Anfang hatte ich zugegebenermaßen mehr Platz. Da hätte man bequem Fußball spielen können. Aber mit wem? Außer mir war ja keiner da. Mit der Zeit wurde es immer enger, doch habe ich mich mit den Platzverhältnissen arrangiert. Auf einmal fing ich an, ohne mein Dazutun zu gleiten. Er fühlte sich an, als würde ich von einem Sog hinweg gerissen.
„Hoppla! Moment! Aufhören! Ich fange an, zu rutschen! So ein Mist! Gibt es hier den keinen Haltegriff, an dem man sich festhalten kann? Was ist denn das für eine Fehlkonstruktion?“
„Pressen! Ein letztes Mal pressen! Ich sehe schon den Kopf.“
‚So eine blöde Kuh! Je mehr die ‚pressen’ schreit, desto schneller rutsche ich. Will die mich umbringen? Ich würde je gerne zurück krabbeln, aber irgendwie sind meine Beine oben statt unten. Hilfe, ihr Idioten! Hört mich denn keiner? Ich flutsche hier durch irgendeinen Kanal.’
Aber mich hörte wirklich keiner oder sie wollten mich einfach nicht hören. Mann, wo bin ich hier reingeraten? Das ist eine Verschwörung!
„Gleich ist es da. Der Kopf ist schon voll draußen!“
Mir wurde immer bewusster, dass die meinen Kopf meinte. Ich öffnete meine Augen und nahm eine unangenehme Helligkeit war. Dann zog etwas an mir. Ich war mir sicher, dass dies nur dieses Weib mit der Press-Stimme sein konnte. Sehen konnte ich leider nichts. Mein Blick war ziemlich getrübt, obwohl ich absolut nichts getrunken hatte.
„Mein Gott“, schrie die Press-Stimme ganz begeistert, „es ist ein Junge. Durchlaucht, es ist ein Junge! Seine Hoheit wird beglückt sein!“
Ich bekam kaum noch Luft, fühlte mich plötzlich an den Beinen gepackt und wurde, mit dem Kopf nach unten, auf den Rücken geschlagen.
‚Na warte, du dumme Ziege! Das bekommst du zurück. Ich weiß ganz genau, wer das war. Das wirst du mir büßen! Was prügelst du fremde Knaben? Noch dazu so erlesene wie mich?’
Ich brüllte aus Leibeskräften, hörte zu meinem eigenen Erstaunen aber lediglich ein mühseliges ‚BähBäh’, was sich eher nach dem Krähen eines Hahns anhörte. Du lieber Himmel! War das wirklich meine Stimme? Wer hatte aus mir einen Hahn gemacht? Und was hatte die gesagt? Durchlaucht? Was sollte denn das nun wieder? Ich mag keinen Lauch! Auch, wenn er schön gar und durch ist. Und einen Durchlaucht mag ich schon dreimal nicht!
„Lege ihn mir auf den Bauch und sage der Hoheit Bescheid.“
Diese Stimme kannte ich. Die hatte ich in den vergangenen neun Monaten öfters gehört. Zwar immer etwas dumpf, aber sie war mir bekannt. Die war nicht unsympathisch und klang einigermaßen vertrauenerweckend. Doch warum wollte die mich auf dem Bauch haben? War sie vielleicht Bauchrednerin?
‚He du! Mit mir kannst du ganz normal reden! Ich verstehe alles! Hörst du? Alles! Wir brauchen deinen Bauch nicht!’
Erneut kam aus meinem Mund nur dieses bescheuerte ‚Bäh’. Hier war eindeutig etwas falsch gelaufen. Dann vernahm ich plötzlich eine männliche Stimme.
„Oh Regina, wie hast du mich glücklich gemacht! Du hast mir einen Sohn geboren.“
„Ja Otto“, antwortete das Wesen, auf dessen Bauch ich mittlerweile lag, obwohl ich gar nicht mitbekommen hatte, wie ich dorthin geraten war, „ich habe dir einen Thronfolger geschenkt. Nun ist alles geregelt.“
‚Was heißt hier ‚geregelt’? Nichts ist geregelt! Apropos Thron. Ich müsste mal auf den Topf und zwar dringend! Je, hallo! Ich muss mal!’
Doch keiner reagierte.
‚In Ordnung, wenn ihr nicht wollt, ich kann das nicht mehr halten.’
„Otto, sieh doch mal! Er hat schon etwas gemacht.“
„Das ist das Kindspech“, mischte sich die Press-Stimme ein. Ich werde euch sofort neue Kleidung bringen lassen.“
‚Was heißt hier ‚Kindspech’? Ich habe einfach gekackt. Das erste Mal und ich schwöre euch, beim zweiten Mal wird’s mehr. Übrigens, warum darf ich eigentlich nicht aufs Klo? Ich habe rechtzeitig geäußert, dass ich auf den Thron muss. Jetzt habt ihr den Salat.’
„Und du“, sagte die Frau, die ich von Anfang an nicht leiden konnte, „du wirst jetzt erst einmal gewaschen und dann bekommst du eine Windel an.“
‚Was? Eine Windel? Seid ihr wahnsinnig? Gebt mir was Ordentliches anzuziehen. Dieser Windelkram ist doch nur etwas für Babys!’
Erneut bemühte ich mich, meinem Unwillen mit deutlicher Akustik Ausdruck zu verleihen, was ein weiteres Mal in diesem bescheuerten „Bäh“ endete, das ich, ich konnte das noch viele Jahre später bezeugen, niemals von mir gegeben hatte. Irgendjemand oder irgendetwas hatte sich meiner Stimme und meiner wohl gewählten Ausdrucksformen bemächtigt und gab alle meine kostbaren Gedanken in einem kläglichen ‚Bäh’ wieder. Wenn es mir nur möglich gewesen wäre, etwas zu sehen. Doch außer Licht und Schatten, konnte ich nichts unterscheiden. Momentan gelang es mir nicht festzustellen, ob mich jemand anblickte oder nicht. Dann hätte ich zumindest mit einer bösartigen Miene verdeutlichen können, wie widerwärtig ich diese unwürdige Behandlung fand.
Ich grübelte noch nach, wie ich meine Lage verbessern könnte, als ich einen Lappen mit nassem Wasser auf meinem Körper spürte. Der Schock saß so tief, dass mir in diesem Augenblick sogar das ‚Bäh’ im Halse stecken blieb. Es war mir völlig klar, dass für diese Misshandlung nur dieses unsympathische Weibsbild verantwortlich sein konnte, was sich auch gleich bewahrheitete.
„So du kleiner Mann. Jetzt machen wir rasch ‚Wasche Wasche’, legen dir die Windel an, und dann darfst du wieder zu deiner Mama.“
‚Aha! Wasche Wasche nennt die diese unwürdige Prozedur. Warte nur ab, wenn ich groß bin: Dann mache ich Patsche Patsche bei dir. Dann wird dir dein blödes Wasche Wasche schnell vergehen.’
Plötzlich fühlte ich mich in meinen edelsten Regionen in irgendein kratziges Textil eingepfercht, was sie mit folgendem Kommentar begleitete:
„Siehst du, schon haben wir die Windel angezogen.“
‚Also erstens sehe ich nichts, du ignoranter Trampel und zweitens haben nicht wir etwas angezogen, sondern ausschließlich du! Und dieses Dreckszeug am Po und am Schniedel wollte ich gar nicht. Gibt’s denn hier keine ordentliche Kleidung? Du lieber Gott! In welchen sozialen Abgrund bin ich denn hier reingeraten?’
„Nun schnell noch ein Jäckchen und ein Höschen und schon sind wir fertig.“
‚Weshalb redet die ständig im Plural? Oder sind es am Ende mehrere Personen, die an mir herumfingern?’
„Darf ich ihn mal auf den Arm nehmen?“, bat das männliche Organ, das bereits längere Zeit nichts mehr von sich gegeben hatte.
„Selbstverständlich Hoheit, aber bitte den Kopf mit dem Arm abstützen.“
Ich fühlte mich hoch gehoben, landete in einer kräftigen Armbeuge und wurde hin- und hergeschaukelt.
„Sieh nur Regina, ich glaube er sieht mir ähnlich, meinst du nicht auch?“
„Ich habe ihn noch gar nicht richtig zu Gesicht bekommen, mein Otto. Tritt einmal näher zu mir!“
Das war die sympathische Stimme, wenngleich, das musste ich zugeben, die männliche, die offensichtlich einem Otto gehörte, der eine Hoheit war, auch einigermaßen in Ordnung war. Auch diese Stimme hatte ich in den vergangenen Monaten öfter gehört. Ich glaube, er hat mich auch von Zeit zu Zeit besucht. Also genau genommen nicht er komplett, sondern nur sein Schniedelwutz, der in der Tür immer mal wieder auftauchte. Aber er benahm sich ganz ordentlich, das muss man sagen. Also ich hatte nichts an ihm auszusetzen. Er ließ mir auch immer genügend Platz und hat mich nicht herumgeschubst. Was er dort eigentlich gemacht hat, weiß ich allerdings nicht zu sagen. Wenn ich eines Tages außer diesem ‚Bäh’ auch noch was anderes sagen kann, werde ich ihn bestimmt danach fragen.
Inzwischen war ich wieder auf dem Bauch dieser Regina gelandet, die mir sanft über den Rücken streichelte. Die wusste wenigstens, wie man mit mir umzugehen hatte.
„Er hat wirklich Ähnlichkeit mit dir“, bestätigte sie die Behauptung von Otto. „Die Nase und die Ohren könnten nach dir kommen, aber die Lippen sind eindeutig von mir.“
‚Wenn ich doch nur etwas sehen könnte. Das hätte mich auch interessiert.’
„Durchlaucht, ist die Milch schon eingeschossen.“
‚Wie? Hier wird mit Milch geschossen? Wer macht den so was? Ist Regina vielleicht eine Kuh?’
„Ich glaube schon“, grübelte die weibliche Durchlaucht.
„Dann sollten Sie den Knaben einmal anlegen.“
Das war die Unsympathin, die den merkwürdigen Ratschlag erteilte. Dann fügte sie noch hinzu:
„Ab morgen wird die Amme alles übernehmen. Dann wird es für euch leichter.“
‚Habe ich richtig gehört? Amme? Was für eine Amme? Und was soll die übernehmen? Ich bin strikt dagegen, dass irgendeiner irgendetwas übernimmt. Da muss ich doch gefragt werden, das fordert schon der Anstand. Schließlich geht es hier um mich!’
„Ich lege eurer Durchlaucht einmal das Kindchen an.“
Ich wurde an etwas Weiches gepresst und man steckte mir so etwas wie ein Fahrradventil in den Mund. Unwillkürlich begann ich zu saugen. Ich hatte ehrlich gesagt auch einen mächtigen Brand und hatte einen völlig ausgetrockneten Mund. Mein ganzer Körper fühlte sich an, wie nach einer Sauftour. Außerdem gingen mir diese Umgebung und das Getue gehörig auf die Nerven. Das konnte man eigentlich nur in besoffenem Zustand ertragen. Das Gesöff, das man mir zum Trinken offerierte, hatte allerdings einen sehr ungewöhnlichen Geschmack und war weit entfernt von einem alkoholischen Getränk. Nach den jetzigen Erfahrungen, die ich gemacht hatte, verwunderte mich das auch nicht. Was kann man von jemandem erwarten, der mit Milch schießt? Der Durst trieb es rein, und so langsam fand ich es gar nicht einmal so schlecht.
„Alles bestens“, meldete sich die Press-Stimme angesichts meiner Anstrengungen, dem Fahrradventil Flüssigkeit zu entlocken. “Das wird bestimmt ein strammer Knabe. Eure Hoheit werden viel Freude an ihm haben.“
Das hatte ich inzwischen begriffen, dass ‚Eure Hoheit’ eigentlich Otto hieß. Weshalb sie ihn nicht bei seinem Namen nannte, war mir schleierhaft.
„Regina, meine Teure, wie wird sich unser Volk freuen, wenn ich ihm verkünde, dass wir einen Thronfolger haben. Ich werde eine Feier anordnen. Alle sollen glücklich sein!“
‚Moment mal! Das kannst du schnell bleiben lassen! So lange ich nicht weiß, was hier los ist, folge ich niemandem, auch keinem Thron.’
Unglücklicher Weise äußerste sich mein berechtigter Protest wieder nur in dem mir nun bereits vertrauten ‚Bäh’.“
„Durchlaucht sollten die Brust wechseln. Er hat bestimmt noch Hunger.“
‚Natürlich habe ich Hunger’, schrie ich, ‚aber nicht nach diesem Zeug. Wie wär’s denn mit Rostbratwürstchen oder Schweinebraten mit Knödel? Das geht auch ganz ohne Fahrradventil.’
Keiner hörte auf mich, und mein Mund endete erneut an diesem weichen Ding. Sogar an dem zweiten befand sich ein Ventil. Ausgestattet waren sie wirklich gut, das musste man ihnen lassen. Scheinbar gab es alles doppelt. Vermutlich hatten sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht und hatten von jedem Stück eines in Reserve. Allerdings, als mich früher dieser Otto besuchte, war es immer der gleiche Schniedelwutz. Der musste sich seiner Sache sehr sicher sein, dass er mit nur einem zurechtkam. Wahrscheinlich hatte er sein Ding einem Dauertest unterzogen und jahrelang erprobt.
„So, nun reicht es erst einmal“, bestimmte die missratene weibliche Stimme. „Sonst bekommt er noch Bauchweh.“
Das Fahrradventil wurde aus meinem Mund entfernt und irgendjemand fuhr mit einem Lappen über meine Lippen. Ich wollte zwar zu diesem Thema noch etwas sagen, doch überkam mich eine plötzliche Müdigkeit und mir fielen die Augen zu. Mir war das auch ziemlich egal, da ich im Schlaf endlich vor dieser dämlichen Press-Stimme befreit wurde.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fielen mir als erstes die Rostbratwürste und der Schweinebraten mit Semmelknödel ein. Woher wusste ich eigentlich von der Existenz der Bratwürste und des Schweinebratens? Vor allem aber von der Existenz von Knödeln? Nicht Klöße, sondern Knödel, also etwas typisch Bayerisches! Trotz meiner mangelhaften Ausdrucksweise, die immer in diesem kläglichen ‚Bäh’ endete, war ich geistig, zumindest was das Kulinarische anbelangte, völlig auf der Höhe. Dennoch kam mir diese Kenntnis äußerst merkwürdig vor, ich fand aber keinerlei Erklärung dafür. Kaum stieg vor meinem geistigen Auge das Gespenst gegrillter Rostbratwürste und eines dampfenden Schweinebratens auf, überkam mich ein mordsmäßiger Hunger. Mein kleines Organ machte sich lautstark mit mehreren, hintereinander folgenden ‚Bähs’, die die Bedeutung meiner Hungersnot unmissverständlich verdeutlichen sollte, bemerkbar. Auf meinen Nahrungshinweis hörte ich augenblicklich eine Antwort, die wahrscheinlich beruhigend wirken sollte.
„Da ist er ja schon aufgewacht, der kleine Lumpi. Dann wollen wir mal schnell zum ersten richtigen Mahl schreiten.“
Wie hatte die mich genannt? Lumpi? Die hat wohl einen Stich in der Birne! Ich bin doch kein Dackel. Außerdem: Wer verbarg sich denn hinter dieser Sprecherin? Diese Stimme war mir restlos unbekannt. Die Press-Tante von gestern war das auf jeden Fall nicht. Irgendwie hatte die Stimme etwas Fettes an sich, sehen konnte ich ja immer noch nicht weit. Ich war mir allerdings sicher: Mit dieser Tonlage konnte nur eine fette Frau behaftet sein. Zeit zu weiteren Überlegungen bekam ich jedoch nicht.
„So du kleiner Wurm, dann leg man los!“
Das wurde ja immer besser: Erst Lumpi und jetzt Wurm. Mit dieser Frau würde ich ganz gewiss einmal ein ernstes Wörtchen zu reden haben. Zunächst wurde mir, wie am Tag zuvor, wieder so ein Weichteil mit Ventil ins Gesicht gedrückt. Es war, das merkte ich gleich, nicht das von dieser Regina. Das hier roch ganz anders und war erheblich größer. Einige Jahre später erfuhr ich, dass es sich dabei um einen Hängebusen handelte, und zwar um einen ganz gewaltigen. Obwohl ich das alles widerlich fand, begannen meine Lippen selbsttätig zu saugen. Ich hatte sie absolut nicht unter Kontrolle
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2016
ISBN: 978-3-7396-7136-9
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