Karl Raff war einer der erfolgreichsten Unternehmer Europas, wenn nicht sogar der Welt. Er war weit über die Grenzen des Landes bekannt, aber keinesfalls beliebt. Weder bei den so genannten oberen Zehntausend, noch bei den Mitarbeitern seines Firmenimperiums, das in den Bereichen Chemie und Pharmazie zu den größten der Welt zählte. Alle waren auf die eine oder andere Weise gezwungen, ihn stillschweigend zu ertragen: Die oberen Zehntausend, da er große Aufträge zu vergeben hatte, auf die keiner verzichten wollte, die Mitarbeiter, da sie auf ihre Arbeitsplätze angewiesen waren. Beides war ihm wohl bewusst, und er nutzte diese Situation schamlos aus. Er war herrisch, kaltherzig, ja teilweise brutal und war bei allen, die mit ihm geschäftlich zu tun hatten, gefürchtet. Am häufigsten zu spüren bekamen das die Direktoren seiner verschiedenen Werke, an denen er stets seine Launen ausließ und die nie davon ausgehen konnten, dass er ihnen am nächsten Tag nicht kündigen würde. Oft genug war dies bereits geschehen, und meist erfuhren sie von der Kündigung erst dann, wenn sie in ihr Büro kamen und keinen Schreibtisch mehr vorfanden. Dass er häufiger saftige Abfindungen zahlen musste, war ihm dabei völlig gleichgültig. Das Unternehmen warf Gewinne ab, die ihn zum mehrfachen Milliardär gemacht hatten. Da spielten selbst Abfindungen in Millionenhöhe keinerlei Rolle.
Seinen Bruder Hans, mit dem zusammen ihm das Erbe der Unternehmensgruppe zugefallen war, hatte er schon kurz nach dem Tod seines Vaters aus der Firma herausgedrängt. Sein Bruder war der geniale Erfinder und Forscher, er der kühle und sachliche Betriebswirt. Mit gefälschten Bilanzen konnte er ihm damals glaubhaft nachweisen, dass das Unternehmen knapp vor der Pleite stand. Mit der lächerlichen Summe von fünf Millionen Euro überschrieb sein Bruder gutgläubig sämtliche Anteile an ihn und zog sich aus dem Geschäftsleben zurück. Irgendwann kam der Betrug dann doch ans Tageslicht. Als er das bemerkte und Karl Raff verklagen wollte, machte dieser kurzen Prozess und organisierte einen erfahrenen Berufskiller, der seinen Bruder beseitigen sollte.
Nicht jeder Killer ist eine eiskalte Tötungsmaschine, sondern manche haben wunderliche Gewohnheiten, um nicht zu sagen Marotten, nach denen sie vorgehen. So war es auch bei Philipp Marot. Er war immer darauf bedacht, sich erst das Vertrauen seiner Zielpersonen zu erwerben. Diese Methode wählte er ebenfalls bei Hans Raff. Er wies sich bei ihm als ehemaliger Direktor der Raff-Gruppe aus, der nach einem heftigen Streit mit Karl Raff seines Postens enthoben wurde und aus diesem Grunde mit ihm noch etwas zu begleichen hatte. Die erforderlichen Interna, mit denen er das glaubhaft machen konnte, erhielt er von Karl. Damit gelang es ihm tatsächlich, sich das Vertrauen von Hans zu erschleichen und ihn bald als Freund zu gewinnen, mit dem man gemeinsam gegen den rücksichtslosen und hinterhältigen Unternehmer vorgehen konnte.
Bei einem gemeinsamen Segelausflug explodierte die Jacht von Hans Raff in der Nähe der Hafeneinfahrt von Limenas auf Thassos. Da der Killer nie öffentlich in Erscheinung getreten war und jemals zusammen mit Hans gesehen worden war, ging man davon aus, dass sich Hans Raff alleine auf dem Boot befunden hatte. Außer Trümmern fand man nur einige klägliche Überreste, die auf ein Lebewesen hindeuteten. Bei der Beerdigung hielt Karl einen herzzerreißenden Nachruf auf den geliebten und so tragisch ums Leben gekommenen Bruder. Die fünf Millionen, die er ihm für seinen Firmenausstieg gezahlt hatte, blieben allerdings unauffindbar.
Seit dieser Zeit war Karl Raff der unbestrittene alleinige Besitzer des riesigen Firmenimperiums. Von seinem Betrug am Bruder und dessen geplanter Anzeige hatte niemals jemand etwas erfahren. Die Schiffexplosion wertete man als terroristischen Anschlag, nachdem gut geschmierte griechische Polizisten einen entsprechenden Drohbrief in seinem Zimmer platziert hatten. Dass sich nie eine Gruppe zu diesem Anschlag bekannte, blieb unberücksichtigt. Man ließ es darauf beruhen, zumal von Seiten der Politik auf Betreiben von Karl darauf gedrängt wurde, den Fall zu den Akten zu legen.
Karl Raff war, wie sein Bruder, unverheiratet. Er wohnte in einer exklusiven Villa am Starnberger See und wurde von seinem Diener Hubert und seiner Haushälterin Marta versorgt. Beide hatten eine Wohnung in einem Nebengebäude und waren die einzigen, die von ihm anständig, ja sogar freundschaftlich behandelt wurden. Dies machte er ganz bewusst, so dass für alle außer Frage stand, dass er beruflich zwar ein Kotzbrocken war, privat aber ein netter Mensch. Hätte jemand nachgefragt, hätten die beiden nur das Beste von ihm erzählen können. Und da er keinerlei private Kontakte pflegte, konnte man sich stets nur auf die Aussagen seines Dieners und seiner Haushälterin stützen. Marta war gerade 32 Jahre alt, eine bildhübsche Person und geschickt und fleißig.
„Ich bin schon im Büro mit allem Möglichen Schlechtem und Hässlichem umgeben“, pflegte er zu sagen, „darum brauche ich in meinem Haus Gutes und Schönes um mich.“
Er war Marta, die ihn verehrte und heimlich abgöttisch liebte, nicht abgetan. Doch eine Beziehung zur ihr war nie zustande gekommen, obwohl sie alles dafür tat, den 38jährigen Karl auf sich aufmerksam zu machen. Sie rannte in kurzen Röcken und tief ausgeschnittenen Blusen durch das Haus, was ihn aber, bis auf interessierte Blicke, zu keinen weiteren Emotionen hinriss.
Hubert, sein Diener oder besser gesagt Butler, denn als solcher trat er auf, stand bereits bei seinem Vater in Diensten. Er war etwas über 60 und kannte Karl, seitdem er gerade eingeschult worden war. So war Hubert für Karl fast ein Vaterersatz, der interessanterweise von ihm auch so behandelt wurde. Außerdem war er einer der wenigen, die ihn mit dem vertrauten ‚Du’ ansprechen durften.
Beide, Marta und Hubert, prägten also sein gesamtes Privatleben und bekamen von den Launen und Machenschaften selten etwas mit. Es war für sie unvorstellbar, dass er im Berufsleben einen völlig anderen Charakter zeigte.
Jeden Montag mussten die Geschäftsführer aller Werke in der Zentrale in München zum Rapport erscheinen. Den Beginn machte stets das kleinste Werk, den Abschluss bildete das größte, das sich aus Kostengründen seit einigen Jahren in Polen befand.
„Also, welchen Schwachsinn muss ich mir heute wieder anhören?“, eröffnete er die Sitzung am ersten Montag im Mai.
Hafrath, der für das kleinste Werk in Domfurt verantwortlich war, wo spezielle Herz-Kreislauf-Präparate hergestellt wurden, wackelte nervös auf seinem Stuhl hin- und her. Nachdem er nicht augenblicklich reagierte, ging das Theater schon los.
„Nun Hafrath“, fuhr ihn Raff schroff an, „ich warte auf die vermutlich nichtsnutzigen Aussagen eines nichtsnutzigen Geschäftsführers!“
Hafrath rutschte das Herz in die Hose, und alle anderen blickten peinlich berührt stumm vor sich hin.
„Es ist so, Herr Raff“, begann er endlich, wobei man ihm deutlich ansah, wie er das, was er zu sagen hatte, möglichst so formulieren wollte, dass es nicht zu negativ rüberkam.
„Jetzt fangen Sie endlich an, Sie Null!“, brüllte Raff los, als ihm alles zu lange dauerte. „Wir sind alle auf ihren Mist, den Sie zu berichten haben, schon sehr gespannt. Ist es nicht so meine Herren?“
Die Angesprochenen wagten nicht, dem armen Hafrath irgendwie zur Seite zu springen und murmelten zustimmend, in der Hoffnung, nicht ebenso das Opfer der Wutausbrüche zu werden.
„Es läuft eigentlich sehr gut. Die Umsätze der vergangenen Woche übertreffen die Prognosen um 11 Prozent.“
Raff war gewohnt, auf das kleinste Detail zu hören und alles daran aufzuhängen.
„Was heißt hier ‚eigentlich’? Das ‚eigentlich’ interessiert mich nicht! Was ist das ‚Uneigentlich’?“
Hafrath stotterte nur noch.
„Wir, ich meine das Werk, also die Mitarbeiter, sie wollen streiken. Sie bestehen auf besseren Arbeitsbedingungen und mehr Lohn.“
Raff brach in ein krächzendes, Unheil verkündendes Gelächter aus. Dann sprang er von seinem Stuhl hoch, so dass dieser polternd nach hinten krachte und deutete drohend mit dem Finger auf seinen stammelnden Geschäftsführer.
„So, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn wollen sie? Ich wusste, dass Sie zu dumm sind, um solches Ansinnen bereits im Keim zu ersticken. Was erlaubt sich dieses Pack, derartig freche Forderungen zu stellen? Dumm und frech! Damit meine ich nicht nur Sie, sondern jeden einzelnen Mitarbeiter im Werk Domfurth. Sie müssen sich aber nicht mehr weiter bemühen. Ich werde Sie von allen Mühen entlasten. Das Werk wird in fünf Monaten geschlossen! Dachten Sie ernsthaft, ich würde die Stimmungen in diesem Saustall, den Sie leiten, nicht mitbekommen, nur weil ich in München sitze? Sie wollen mich wohl für blöd verkaufen? Ihre Unfähigkeit ist mir schon lange bewusst! Daher habe ich Vorkehrungen getroffen und mit der griechischen Regierung ein Abkommen geschlossen. Die ist in ihrer derzeitigen Situation für jeden Euro und jeden Arbeitsplatz dankbar. Wir bauen dort ein neues Werk. Es liegt in der Nähe von Athen und ist in vier Monaten fertig gestellt. Dann wird dort produziert. Haben Sie verstanden? Domfurt gehört demnächst der Vergangenheit an!“
Hafrath war völlig konsterniert.
"Aber, aber die vielen Arbeitsplätze“, versuchte er zu argumentieren.
Ein hämisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht von Raff breit.
„Daran habe ich natürlich gedacht. Es geht kein einziger Arbeitsplatz verloren. Jeder ist herzlich eingeladen, in Griechenland seine Arbeit fortzusetzen. Ein entsprechendes Schreiben ist heute Morgen an alle Mitarbeiter rausgegangen. Wer nicht will, muss bis Ende nächster Woche gekündigt haben bzw. einfach auf das Schreiben nicht antworten. Meine Anwälte haben das so formuliert, dass jeder, der nicht bis zum 12. Mai reagiert hat, damit automatisch seine Kündigung ausspricht. Da staunen Sie, was?“
„Aber was sollen die Leute in Griechenland? Sie sind doch irgendwie alle an Domfurt gebunden! Keiner wird mitgehen wollen.“
„Das ist doch nicht mein Problem! Ich kann nur versprechen: Jeder Arbeitsplatz bleibt erhalten. Griechenland ist ein schönes Land; sonst würden nicht so viele dorthin in Urlaub fahren. Wer nicht will, muss sich eben eine neue Arbeitsstelle suchen. Sie, Hafrath, sollten übrigens gleich damit beginnen! Sie werden als einziger eine offizielle Kündigung erhalten! Wenn Sie nach Hause kommen, liegt sie wahrscheinlich schon auf ihrem Tisch. Wie finden Sie das?“
„Ich habe doch eine sechsmonatige Kündigungsfrist“, versuchte Hafrath, der aschfahl geworden war, einzuwenden.
Erneut grinste Raff zufrieden mit sich selbst.
„Ich habe ihnen aus diesem Grund auch erst zum Oktober gekündigt. Den einen Monat mehr, den ich ihnen dann noch zahlen muss, verbuche ich unter Spesen. Das ist sogar absetzbar.“
„Zusätzlich verlange ich eine Abfindung“, brüllte nun der Direktor wutentbrannt.
„Nachlässig, wie Sie sind, haben Sie offensichtlich ihren Vertrag nicht richtig gelesen. Das wundert mich nicht. Eine Abfindung steht ihnen erst nach zweijähriger Betriebszugehörigkeit zu. Im Oktober sind aber erst ein Jahr und 11 Monate bei uns. Eine Abfindung können Sie sich also sonst wo hinschreiben.“
„Sie Schwein!“, rief Hafrath aufgebracht. "Sie elendes Schwein! Ich wünsche ihnen die Pest an den Hals!“
Raff zog Unheil verkündend die Augenbrauen zusammen und wandte sich den anderen Geschäftsführern zu.
„Haben Sie gehört, meine Herren? Ich wurde gerade als elendes Schwein bezeichnet. Sie alle sind Zeuge. Hafrath, Sie werden diesbezüglich von meinen Anwälten hören. Das kommt Sie teuer zu stehen! Und jetzt verlassen Sie augenblicklich diesen Raum!“
Hafrath, sichtlich überfordert von den Vorgängen, packte seine Sachen und schlich wortlos mit zitternden Knien aus dem Zimmer hinaus. Einen Tag später war er tot. Er war mit seinem Wagen in einen Brückenpfeiler gerast und verstarb noch, bevor der Notarzt eintraf. Ob es Selbstmord oder ein Fahrfehler war, konnte nie geklärt werden. Raff zahlte großzügig das Begräbnis, was kein Problem war, da er durch das unerwartete Ableben sechs Monatsgehälter eingespart hatte. Insgesamt hatte er dadurch eine unerwartete Menge Geld erwirtschaftet, was ihn fürchterlich freute.
An diesem Montag ließ er die anderen Geschäftsführer weitgehend unbeschadet und jeder war froh, ungeschoren davongekommen zu sein. Doch bereits am folgenden Tag musste der Direktor des Werkes Ulm noch einmal antreten, da diesem bei den Umsatzzahlen, die sie am Montag besprochen hatten, ein Fehler unterlaufen war, was Raff am Nachmittag bemerkt hatte.
„Waren Sie mal in der Schule?“, fragte er unverfänglich.
„Selbstverständlich, sonst hätte ich ja nicht studieren können.“
„Dann haben Sie bei sämtlichen Mathematikstunden gefehlt. Ein Sonderschüler würde mir besseres Material liefern. Die Umsatzzahlen sind alle falsch! Ich habe inzwischen ihren Stellvertreter gebeten, mir die richtigen Zahlen vorzulegen. Wie ich mich überzeugen musste, sind Sie dazu leider nicht in der Lage.“
Der angesprochene Direktor sah sich die Listen noch einmal durch und wurde krebsrot im Gesicht. Tatsächlich gab es einen Zahlendreher, der die gesamte nachfolgende Statistik verfälscht hatte. Glücklicherweise verschoben sich die Umsätze dadurch nicht nach unten, sondern viel weiter nach oben.
„Hier gibt es wahrhaftig einen Zahlendreher“, entschuldigte er sich. „Das hat wohl der Finanzleiter übersehen.“
„Was interessiert mich der Finanzleiter?“, schnauzte ihn Raff an. „Sie sind mir verantwortlich für die Zahlen, sonst bräuchte ich ja keinen Geschäftsführer. Mal wieder zu faul gewesen, selbst noch nachzuprüfen? Und wenn Sie unfähig sind, ihren Finanzheini zu kontrollieren, dann lassen Sie es mich wissen! Es gibt genügend andere, die ihr Amt gerne übernehmen würden.“
„Aber, aber die Umsätze sind doch jetzt noch höher“, versuchte der Direktor einzuwenden.
„Mir geht es nicht um niedriger oder höher, mit geht es ausschließlich um falsch oder richtig. Und der Schund, den ich von ihnen erhalten habe, ist definitiv falsch. Daher erhalten Sie nun von mir auch ein falsches Lob, nämlich eine Abmahnung. Vielleicht kapieren Sie dann, was ich erwarte. Und jetzt raus hier und sehen Sie zu, dass Sie das kleine Einmaleins nachlernen! Ich werde Sie nächsten Montag abfragen!“
Raff stand auf und verschwand im Vorzimmer, ohne sich weiter um den Mann zu kümmern.
„Der liefert garantiert keine falschen Zahlen mehr“, erklärte er seiner Sekretärin. „Ich bin überwiegend von Idioten umgeben.“
Roswita, seine Vorzimmer-Dame äußerte sich nicht dazu, da sie ahnte, dass er auch sie zu diesem Kreis zählte. Immerhin ging er mit ihr relativ neutral um, was schon fast einer Ehre gleichkam. Sie war auch eine der wenigen, die ihm ab und zu mal etwas sagen konnte, ohne dass er dabei gleich in einen Wutanfall ausbrach. Heute allerdings hatte sie eine ausgesprochen gute Nachricht für ihn, die sie auch genüsslich vortrug.
„Herr Raff, die Chemiker des Forschungslabors bitten Sie, bei ihnen vorbei zu kommen.“
„Was wollen denn die von mir? Haben die vielleicht auch Mist gebaut?“
Seine Sekretärin lächelte ihm freundlich zu.
„Weshalb lachen Sie so einfältig? Das verbitte ich mir!“
„Sie werden auch gleich lachen, denn es ist ein Grund zur Freude.“
„Das wäre allerdings etwas Seltenes. Raus mit der Sprache, wenn es schon einmal was Positives zu vermelden gibt!“
„Sie haben ein neues Medikament entwickelt, das offensichtlich in der Lage ist, jede Form eines Gehirntumors zu heilen. Die Testreihen, die sie bei Ratten, Kaninchen und Schweinen durchgeführt haben, sind durchwegs alle positiv ausgefallen.“
„Ernsthaft?“
Mehr brachte Raff vor Erstaunen nicht hervor. Sie arbeiteten schon lange daran, und nun plötzlich der Durchbruch? Das war schwer zu glauben.
„Ja ernsthaft“, bestätigte Roswita. „Sie haben die Testreihen vor ihnen geheim gehalten, weil sie sicher gehen wollten und wussten, dass man Sie nur mit positiven Ergebnissen behelligen darf.“
„Na endlich mal Leute, die denken und auch noch richtig denken. Was für eine Seltenheit!“
Sollte das, was ihm Roswita gerade vermittelt hatte, der Wahrheit entsprechen, so würde das bedeuten, dass die Raff-Pharma bei der Heilung von Gehirntumoren weltweit eine Monopolstellung innehaben würde. Er rannte zum Forschungslabor, das einige Bauten auf dem weiten Firmengelände abseits lag, um genauere Erkundigungen einzuziehen. Das Labor war aus Geheimhaltungsgründen hermetisch abgeriegelt und konnte nur durch Türen erreicht werden, von denen jede durch einen Zugangscode gesichert war, der jede Woche geändert wurde.
Als Raff eintrat, waren alle Chemiker über einen Tisch gebeugt und blickten auf einen Bildschirm, der komplett mit chemischen Formeln gefüllt war. Nur selten hatte Raff das Labor betreten. Das letzte Mal war dies vor über einem Jahr. Daher hatte er den neuen Chefchemiker, der vom Personaldirektor des Unternehmens eingestellt worden war, noch nie zu Gesicht bekommen. Als er die Türe schloss, drehten sich alle Köpfe zu ihm.
„Sie haben mir durch meine Sekretärin ausrichten lassen, dass Sie mich sprechen wollen?’“
„Das ist richtig“, antwortete ein Mann, der Raff irgendwie bekannt vorkam.
„Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?“
„Ich bin Thomas Ruhner, ihr Chefchemiker. Leider hatten wir noch nicht das Vergnügen.“
Er ging auf Raff zu und streckte ihm die Hand entgegen. Dieser erwiderte den Händedruck, was er nur selten tat und einer Auszeichnung gleich kam.
„Ich hörte, dass Sie mir etwas Positives zu berichten haben?“
„Das stimmt! Sehr positiv sogar! Uns scheint endlich der Durchbruch bei dem Tumor-Medikament gelungen zu sein.“
„Was heißt: Scheint?“
Raff bekam einen lauernden Blick.
„Ich sage deshalb scheint, da wir das Medikament noch nicht bei Menschen erproben konnten. Die Versuchsreihen bei Tieren, verliefen alle positiv. Ich hoffe, wir erhalten bald die Genehmigung, das Präparat auch bei Menschen testen zu dürfen. Dann haben wir vollkommene Sicherheit.“
„Auf eine Genehmigung pfeife ich! Das dauert mir viel zu lange! Wir werden uns selbst Probanden suchen. Wenn wir sie fürstlich entlohnen, sollten sie schnell zu finden sein. Gerade bei hoffnungslosen Fällen, dürfte es nicht schwer fallen, jemanden aufzutreiben. Die klammern sich doch alle an den Strohhalm, der sie retten könnte.“
Thomas Ruhner sah ihm erschrocken in die Augen.
„Aber wir können das Genehmigungsverfahren doch nicht einfach umgehen! Damit machen wir uns strafbar! Außerdem benötigen wir nicht nur Tumor-Erkrankte, sondern auch gesunde Probanden, um besser eventuelle Nebenwirkungen heraus zu finden.“
„Wir werden das Verfahren auch nicht umgehen. Doch parallel zu dieser idiotischen Prozedur beginnen wir bereits heimlich mit Tests. Ich übernehme voll und ganz die Verantwortung. Und wenn es an gesunden Testpersonen mangeln sollte und Sie unbedingt noch eine brauchen, so stelle ich mich gerne selbst zur Verfügung.“
„Wie stellen Sie sich denn vor, überhaupt an Probanden zu kommen?“
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich kenne genügend Chefärzte, die dementsprechende Patienten haben. Von meinen Anwälten lasse ich Verträge ausarbeiten, die uns frei von jedem Fehlverhalten machen. Stellen Sie sich vor: Wir können Menschen heilen, die ohne unsere Hilfe in kürzester Zeit sterben würden! Und da sie ohnehin sterben würden, ist es völliger Quatsch, erst lange auf die Genehmigung zu warten. Wir tun nichts Unrechtes. Wir ermöglichen todgeweihten Menschen die Chance, ihr Leben zu erhalten.“
Ruhner konnte nicht umhin, ihm in gewisser Weise Recht zu geben.
„Sie möchten das Medikament nur an Todeskandidaten ausprobieren?“
„Genau. Erstens machen die gerne alle mit und zweitens müssten die auch verrecken, selbst wenn unser Präparat erfolglos wäre. Doch davon gehe ich, bei allem was Sie ermittelt haben, nicht aus. Wie lange hat es bei den Schweinen gedauert, bis sich eine Wirkung gezeigt hat?“
„Das ist ja das Erstaunliche: Schon nach einer Woche waren die Tumore deutlich geschrumpft. Nach vier Wochen waren sie komplett verschwunden.“
„Mensch Ruhner, wissen Sie, was das bedeutet? Die Krankenkassen würden Tausende für eine solche Behandlung zahlen. Alles billiger als das, wofür sie jetzt einstehen müssen. Sie und ihr Team haben gute Arbeit geleistet. Ich werde das für alle mit einer Sondervergütung belohnen.“
Das war etwas, dass es, seitdem Karl Raff alleiniger Eigentümer der Unternehmensgruppe war, noch nie gegeben hatte. Diejenigen, die schon länger hier arbeiteten, standen ungläubig staunend da. Es dauerte keine zwei Tage, und es hatte sich innerhalb der Raff-Gruppe herumgesprochen, dass das Forschungslabor irgendetwas ganz Außergewöhnliches vollbracht hatte. Alle waren neugierig, doch konnte niemand auch nur den kleinsten Anhaltspunkt finden.
Wie Raff angekündigt hatte, nahm er mit fünf Chefärzten aus verschiedenen Spezialkliniken Kontakt auf und erhielt Zusagen von insgesamt 35 Testpersonen. Die Anwälte hatten Verträge ausgearbeitet, die diese Leute zu absolutem Stillschweigen verpflichteten. Problematisch allerdings gestaltete sich die Suche nach gesunden Probanden. Lediglich zwei Penner, die unter einer der Isarbrücken ihr Domizil hatten, wollten sich angesichts der gewaltigen Summe von 100.000 Euro, die sie erhalten sollten, dafür hergeben.
Raff, der mittlerweile die Ergebnisse aus den Tierversuchs-Reihen ausgiebig studiert hatte, war sich nun restlos sicher, dass es weder bei den Erkrankten, noch bei den Gesunden zu irgendwelchen Nebenwirkungen kommen würde. Daher erneuerte er sein Angebot, sich selbst als Versuchsperson zur Verfügung zu stellen. Widerwillig ging Ruhner letztlich darauf ein und nahm die Offerte an.
Es wurde vereinbart, zunächst zwei Wochen lang die an Gehirntumor Erkrankten mit dem Medikament, das aus einfachen Tabletten bestand, zu behandeln und dann zeitversetzt mit den Gesunden zu beginnen. Ein kleines Problem gab es jedoch: Bei der Einnahme der ersten Tablette war eine leichte Narkose erforderlich, da binnen weniger Minuten im Körper biochemische Prozesse freigesetzt wurden, die unerträgliche Magenschmerzen bereiteten, innerhalb von 30 Minuten jedoch vorüber waren. Ab der zweiten Tablette war das nicht mehr nötig, da sich der Körper dann an die Substanzen gewöhnt hatte und keinerlei Schmerzen mehr entstehen würden. Angesichts dessen, was das Präparat bewirkte, war dies problemlos in Kauf zu nehmen.
„Und die Schmerzen entstehen wirklich nur nach der Einnahme der ersten Tablette?“, wollte Karl Raff von Ruhner wissen. "Kann ich mich darauf verlassen?“
„Darauf können Sie sich vollauf verlassen. Deshalb brauchen die Patienten auch nur die erste Tablette unter Narkose zu sich zu nehmen. Alle weiteren können sie bequem zu Hause oder sonst wo schlucken.“
„Gut. Für die Erkrankten werde ich ihnen in einer Klinik zwei Zimmer reservieren lassen. Um einen Arzt, der die Narkose ausführt, werde ich mich kümmern. Der sollte nicht schwer zu finden sein.“
„Das ist gar nicht notwendig.“
„Aha und wieso nicht?“
„Bevor ich Chemie studiert habe, hatte ich bereits den Doktor in Medizin erworben. Es handelt sich auch nicht um eine echte Narkose, sondern um eine stärkere Beruhigungsspritze, die lediglich einen kurzen Schlaf bewirkt. Ich kann das daher alles alleine bewerkstelligen. Wir brauchen keinen weiteren Arzt.“
„Ruhner, Sie gefallen mir immer besser! Dann benötigen wir also lediglich die Behandlungszimmer?“
„Richtig! Und wo sollen die beiden Gesunden, die Sie gefunden haben, behandelt werden?“
„Die beiden Penner bringen wir ins Vorzimmer des Konferenzraumes. Dort wird sie keiner sehen, da dieser Raum nur mir zugänglich ist. Mich behandeln Sie in meiner Villa am Starnberger See! Sie kommen am besten nachts. Da halten sich meine Haushälterin und mein Diener in ihren Wohnungen im Nebengebäude auf. Ich möchte nicht, dass sie etwas mitbekommen.“
Man vereinbarte noch einen exakten Termin und verabschiedete sich. Am Abend ging Raff in Freizeitkleidung zur Isarbrücke und überreichte den beiden Obdachlosen einen kleinen Vorschuss.
„Wissen Sie“, meinte der eine, „wenn ich von ihnen den gesamten Betrag erhalten habe, suche ich mir eine einfache Arbeit und miete eine kleine Wohnung. Es ist höchste Zeit, dass ich wieder aus diesem Schlamassel herauskomme.“
„Denken Sie, Sie schaffen das?“
„Ich glaube schon. Die Summe, die ich bekomme, ist ein guter Grundstock für einen neuen Anfang, und einen Grundstock hatte ich seit Jahren nicht mehr.“
Raff sagte nichts dazu und war sich sicher, dass er den Typen spätestens in zwei Monaten wieder unter der Isarbrücke finden würde. Dann erklärte er beiden, dass sie sich neue Kleidung anschaffen sollten und wo sie sich in zwei Wochen einfinden müssten. Es selbst wollte sie an einem Nebeneingang des Werkes abholen, so dass niemand ihren Aufenthalt bemerkte.
Zwei Tage später reiste Karl Raff nach Athen ab, um sich vom Baufortschritt seines neuen Werkes zu überzeugen. Alles lief nach Plan, woran der Architekt großen Anteil hatte, was Raff allerdings als eine Selbstverständlichkeit ansah. Anschließend traf er sich mit Regierungsvertretern, die ihm einen Anschluss an die Autobahn sowie einen Privatflugplatz zusagten, so dass er zukünftig mit seinem Jet direkt vor dem Werk landen konnte. Er versprach die Finanzierung selbst in die Hand zu nehmen, da die griechische Regierung ohnehin pleite war. Dafür erhielt er das Land zu einem noch günstigeren Preis als ursprünglich ausgehandelt und für die ersten fünf Jahre einen verbilligten Gewerbesteuersatz. Insgesamt sollten 800 Mitarbeiter eingestellt werden, was für den Ort und den Landkreis die Arbeitslosigkeit in dieser Region um ein Vielfaches sinken lassen würde. Dementsprechend wurde er fast als Heiliger behandelt, zumal er schriftlich zusicherte, in den nächsten zwei Jahren Arbeiterwohnungen zu errichten, was für die Baufirma und viele Handwerker für diesen Zeitraum eine komplette Auslastung bedeutete. Als der griechische Innenminister davon erfuhr, kam er eigens angereist, um persönlich seinen Dank auszudrücken. Was Raff noch nicht preisgab, war sein Plan, hier nicht nur das Herz-Kreislauf-Präparat aus Domfurt zu produzieren, sondern auch das neue Tumor-Medikament, das, da war er sicher, innerhalb weniger Jahre so viele Milliarden Euro einfahren würde, dass die gesamte Baufinanzierung dagegen ein lächerlicher Betrag sein würde. Zufrieden reiste er wieder nach Deutschland zurück in der Gewissheit, in Zukunft in griechischen Regierungskreisen Partner gefunden zu haben, mit denen er später einmal alle möglichen krummen Dinger drehen konnte. Dafür waren die Griechen ja berüchtigt.
Zehn Tage nach seiner Rückkehr begann Ruhner mit der Behandlung der ersten Tumor-Patienten. Und das Erstaunliche trat ein: Wie bei den Versuchstieren, war bei allen Erkrankten schon nach der ersten Woche eine deutliche Schrumpfung des Tumors festzustellen, der nach der zweiten Woche nur noch die Hälfte seines ursprünglichen Umfangs aufzeigte. Raff war begeistert und sehnte den Tag herbei, an dem er diesen Erfolg öffentlich machen konnte.
Dann kamen die zwei Penner und er selbst an die Reihe. Zunächst wartete er aber die Wirkung bei den Obdachlosen ab. Wie sie ihm versicherten, hatten beide nach der Einnahme der zweiten Tablette nicht den geringsten Schmerz verspürt. Ruhner hatte also nicht gelogen und phantastische Arbeit abgeliefert. Der Tag, an dem er selbst die erste Tablette erhalten sollte, war ein Tag, der alle in Erstaunen versetzte. Raff nahm sich einen Tag frei und blieb zu Hause. An so etwas konnte sich von den vergangenen Jahren keiner erinnern. Weder seine Sekretärin, noch Marta, die Haushälterin und Hubert, sein Diener. Alle vermuteten eine Erkrankung und Marta und Huber schlichen mit besorgter Miene um ihn herum.
„Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen“, versicherte er. „Mir geht es bestens. Ich habe nur in den letzten Monaten sehr viel gearbeitet und brauche daher mal einen Tag Ruhe. Außerdem erwarte ich heute Abend noch Besuch, dem ich einfach völlig entspannt entgegen treten möchte.“
„Besuch?“, riefen Marta und Hubert fast gleichzeitig total überrascht.
Den letzten Besuch gab es, konnte sich Hubert erinnern, als der Vater von Karl Raff noch lebte. Und der war bereits seit über 15 Jahren tot. Marta konnte sich überhaupt nicht entsinnen, dass jemals ein Besucher im Haus gewesen wäre. Das Erstaunen der beiden war daher verständlich. Es musste etwas ganz Außerordentliches vorliegen, dass er heute einen Gast empfangen wollte.
„Ja, Besuch“, antwortete Raff. „Und ich möchte nicht gestört werden. Von keinem von euch! Das Beste ist, ihr seid ab 19.00 Uhr in euren Wohnungen.“
„Soll ich denn nichts zum Essen vorbereiten?’“, fragte Marta ziemlich verunsichert.
„Weder etwas zum Essen noch etwas zum Trinken. Mein Besuch wird höchstens eine Stunde hier sein. Danach ist er wieder verschwunden. Wenn er etwas trinken will, werde ich das besorgen.“
Doch Karl Raff hatte gar nicht die Absicht, dem Chefchemiker irgendetwas anzubieten. Schließlich empfing er keine wichtige Persönlichkeit, sondern nur einen der vielen Mitarbeiter. Er sollte ihm die Schlafspritze, wie er das nannte, geben sowie die Tablette und nach seinem Aufwachen möglichst schnell wieder das Haus verlassen. Ein Plauderstündchen war nicht vorgesehen.
Die Haushälterin und der Butler sahen sich an, und es war deutlich, dass beide nicht wussten, was sie von dem Ganzen halten sollten. Doch schwiegen sie, da klar war, dass sie nichts aus Raff heraus bekommen würden. Allerdings nahm sich Marta vor, alles genau zu beobachten. Denn merkwürdig genug war dieser Besuch allemal.
Kurz vor acht Uhr erschien Ruhner und wurde von Raff gleich ins Arbeitszimmer geleitet, in dem sich auch eine bequeme Liege befand. Ruhner zog eine Spritze auf, die er intravenös verabreichte, wodurch sein Patient zehn Minuten später in einem tiefen Schlummer lag. Zuvor hatte er ihm die Tablette zu schlucken gegeben. Ein unscheinbares Ding, so wie viele Pillen, die man zu sich nahm. Dann zog Ruhner einen Glasbehälter aus der Tasche und wartete.
Als sie eine Gestalt im Haus eintreten sah, war Marta wenig danach aus ihrer Wohnung auf die Einfahrt gerannt und hatte sich das Autokennzeichen des Besuchers notiert.
‚Mal sehen, ob wir das nicht noch einmal brauchen können’, meinte sie zu sich selbst.
In der Tat verließ der Gast nach kaum mehr als einer Stunde die Villa, setzte sich in seinen Wagen und fuhr weg.
Als Raff wieder aufgewacht war, spürte er weder einen Schmerz, noch bemerkte er sonst eine Veränderung. Alles war so, wie es Ruhner beschrieben hatte. Bevor er gegangen war, hatten sie für den nächsten Vormittag einen Termin vereinbart, da Raff zu diesem Zeitpunkt die zweite Tablette eingenommen haben sollte und die Absicht hatte, Ruhner über die Wirkung zu informieren.
Er hatte hervorragend geschlafen, wachte aber dennoch mit einem Gefühl der Unausgeruhtheit auf. Relativ emotionslos blickte er, nachdem er die Vorhänge im Schlafzimmer zurück gezogen hatte, in den Sonnenschein des frühen Morgens und stolperte auf dem Weg ins Badezimmer über seine eigenen Schuhe, die er mitten im Zimmer abgestellt hatte. Normalerweise wäre dies ein Anlass für den ersten Wutausbruch des Tages gewesen. Heute ließ ihn das völlig kalt. Er sah auf seine Schuhe hinunter und zuckte nur mit den Schultern.
Als er ins Speisezimmer trat, sah er den schön mit Blumen verzierten Frühstückstisch. Raff liebte Blumen und gab denen den Vorzug, die besonders stark dufteten. Marta wusste das und bemühte sich, das Haus täglich mit frischen Blumen aus dem Garten zu versorgen, wofür sie eigens wunderschöne Beete angelegt hatte. An diesem Morgen waren ihm die Blumen völlig gleichgültig und der herrliche Duft, den er wahrnahm, war ihm ebenso egal.
Marta hantierte noch in der Küche, während Hubert in der Garage die Scheiben seines Maybachs polierte. Als die Haushälterin mit einem Tablett in der Hand aus der Küche trat, trug sie einen auffällig kurzen Rock und eine fast durchsichtige Bluse, die noch dazu einen extremen Ausschnitt aufwies. Sie kannte die Wirkung, die eine derartige Mode auf Karl Raff ausübte, der sie jedes Mal mit Blicken verschlang und sich gar nicht satt sehen konnte. Heute war alles anders.
„Morgen“, sagte er und wandte sich seinem Kaffee zu, ohne sie länger zu betrachten. Sie hatte das Gefühl, dass er sie gar nicht richtig wahrnahm. Eine derartige Interesselosigkeit an ihrer Gestalt gab es selten.
„Die Blumen im Garten wachsen dieses Jahr besonders gut“, sagte Marta und deutete auf den Tisch, nachdem er auf den Schmuck ganz gegen seine sonstige Gewohnheit nicht reagierte.
„Ist das so? Macht wahrscheinlich der neue Dünger, den wir entwickelt haben“, brummte Raff vor sich hin ohne aufzuschauen.
„Ich habe sie überhaupt nicht gedüngt“, stellte Marta richtig.
„Dann weiß ich auch nicht, weshalb sie so gut wachsen. Ist mir auch egal.“
Er kaute auf einem frischen Croissant herum, das er halb angebissen wieder auf den Teller zurücklegte.
„Schmeckt es nicht?“, wollte Marta wissen, wobei ihre Miene nun leichte Besorgnis ausdrückte.
„Doch, doch! Ich habe heute bloß noch keinen Hunger. Vielleicht kommt er später.“
In diesem Augenblick betrat Hubert das Zimmer.
„Oh, welch schöne Blumen!“, bemerkte er, als den geschmackvoll gedeckten Tisch sah.
„Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung wozu man Blumen braucht“, grummelte Raff. „Aber, wenn ihr Freude daran habt, mir soll es Recht sein.“
Hubert blickte auf Marta, die nur hilflos die Schultern hob.
„Die Scheiben sind sauber und blitzblank poliert“, fuhr der Diener fort.
„In Ordnung“, war die lapidare Antwort.
Wieder trafen sich die Blicke von Hubert und Marta. Was war heute Morgen los mit ihm? Dass etwas nicht stimmte, war offensichtlich. Nur was, war nicht heraus zu bekommen.
„Ich fürchte, der brütet eine Krankheit aus“, meinte Hubert zu Marta, nachdem Raff das Haus verlassen hatte. „Es soll ja eine Grippewelle geben. Vielleicht hat er sich schon irgendwo angesteckt.“
„Kann durchaus möglich sein“, antwortete Marta. „So einsilbig und emotionslos habe ich ihn noch nie erlebt.“
Wie immer traf Karl Raff kurz vor sieben in seinem Büro ein. Er liebte es, seine Sachen in diesen frühen Morgenstunden so zu ordnen, dass Roswita, seine Sekretärin, wenn sie eine halbe Stunde später erschien, ohne weiteres Nachfragen den Rest des Tages selbständig arbeiten konnte.
Um 9.00 Uhr machte er sich auf den Weg zum Labor, wo er sich mit Ruhner verabredet hatte. Die Tablette hatte er gleich nach dem Frühstück im Wagen zu sich genommen, ohne dass sich eine Nebenwirkung gezeigt hätte. Als er das Labor betrat, steckten alle Chemiker die Köpfe zusammen.
„Morgen!“, grüßte Raff, ging an ihnen vorbei und steuerte auf das Büro von Ruhner zu.
„Entschuldigung Herr Raff“. Einer der Chemiker trat noch vorne.
„Was ist? Ich habe keine Zeit! Ich bin mit Ruhner verabredet.“
„Das ist es ja, Ruhner ist nicht da.“
„Nicht da? Wo ist er denn?“
„Das wüssten wir auch gerne. Wir haben schon mehrfach bei ihm angerufen, aber er geht nicht ans Telefon.“
Alle erwarteten ein Donnerwetter und Wutausbrüche, die er an allen Anwesenden ausließ, doch nichts dergleichen geschah. Raff blickte mit starren Augen durch den Raum und meinte störrisch:
„Wir haben aber einen Besprechungstermin.“
„Ich kann es ja noch einmal versuchen. Ich probiere es auf seinem Handy.“
Der Mann ging ans Telefon und wählte die Mobilnummer von Ruhner. Vorhin kam lediglich die Ansage: ‚Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar'. Was er jetzt zu hören bekam, rief bei ihm höchstes Erstaunen hervor: ‚Kein Anschluss unter dieser Nummer’, teilte ihm eine weibliche Stimme kalt mit. Er versuchte es ein weiteres Mal mit dem gleichen Ergebnis. Er wagte es kaum, Karl Raff anzusehen.
„Nun, was ist?“, drängte dieser.
„Nichts. Er geht nicht ran. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.“
Dass die Rufnummer plötzlich gar nicht mehr existent war, verschwieg er geflissentlich.
„Geben Sie mal her!“, forderte Raff und nahm ihm das Telefon aus der Hand.
Er drückte die Wahlwiederholungstaste und wartete auf das Rufzeichen. Als er die Ansage hörte, schüttelte er verständnislos den Kopf.
„Sie haben einfach die falsche Nummer gewählt“, wandte er sich an den Chemiker. „Dann kann man ihn natürlich nicht erreichen.“
„Aber das ist die Nummer, die er uns gegeben hat. Ein ganzes Jahr lang hatten wir damit eine Verbindung. Ich verstehe das nicht.“
„Dann hat er wahrscheinlich den Anbieter gewechselt und vergessen, uns das mitzuteilen.“
Die Leute waren angenehm überrascht, dass Raff so gelassen blieb. Das war mehr als ungewöhnlich. Jede Reaktion hätten sie von ihm erwartet, doch ganz bestimmt nicht diese. Das setzte sie wesentlich mehr in Verwunderung, als die nicht mehr aktive Telefonnummer und das Fernbleiben von Ruhner. Mit Sicherheit gab es dafür eine logische Erklärung.
Raff hatte auf einem Stuhl Platz genommen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, wobei er sie dabei verträumt beobachtete und den Eindruck erweckte, er sei gedanklich ganz woanders. Nach einer Zeit sprang er abrupt auf und wandte sich zum Ausgang.
„Rufen Sie mich an, wenn er eingetroffen ist!“
Damit machte er sich auf den Rückweg in sein Büro. Doch Thomas Ruhner traf an diesem Tag nicht mehr ein. An diesem nicht und die nächsten folgenden Tage auch nicht. Schließlich informierte Raff die Vermisstenstelle des LKA. Hier fand man ziemlich schnell heraus, dass Ruhner vor sechs Wochen seine Wohnung fristgerecht gekündigt hatte und vor einigen Tagen unbekannt verzogen war. Damit hatten sie keinerlei Handhabe mehr, weiter das Verschwinden des Chefchemikers zu untersuchen. Der Mann hatte regulär alles aufgegeben, und es gab keinen Hinweis auf irgendeine Gewalttat, die ein notwendiges Nachforschen gerechtfertigt hätte. Raff beauftragte mehrere Privatdetektive, die alle ebenso erfolglos blieben. Es war, als hätte es einen Thomas Ruhner nie gegeben.
Die an Gehirntumor Erkrankten erholten sich mittlerweile prächtig, und nach vier Wochen konnte kein Arzt bei den Probanden die Existenz eines Tumors nachweisen. Alle verhielten sich zwar relativ unbeeindruckt, was ihre Genesung anbelangte, doch führten das die Mediziner auf eine vorüber gehende psychische Blockade zurück. Diese Menschen waren Todgeweihte gewesen, ohne die geringste Chance auf eine Heilung. Nun waren sie plötzlich völlig gesund. Das musste erst einmal begriffen und verdaut werden. Das Präparat hatte also auch beim Menschen exakt die Wirkung, die schon bei den Tierversuchen deutlich geworden war. Ruhner und sein Team hatten einen enormen Sieg davongetragen.
Dann allerdings trat ein Umstand ein, der bei allen helles Entsetzen auslöste. Raff wollte schon einmal eine kleine Charge des Medikaments vorproduzieren, was mit der Formel, die auf jeden Computer im Labor gespeichert war, problemlos bewerkstelligt werden konnte. Doch die Formel war von allen Computern verschwunden. Raff nahm diese Meldung hin, als hätte man ihm gerade erklärt, dass es ab morgen keinen Kaffee mehr geben würde. Es interessierte ihn nicht das Geringste, so wie er auch an allen anderen Forschungsvorgängen kein Interesse zu haben schien.
„Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen“, erklärte er dem Forschungsteam. „Wir haben ja noch den schriftlichen Ausdruck, der im Panzerschrank lagert, und den Zahlencode dafür habe nur ich. Kein anderer kann ihn jemals öffnen.“
Als er in den Keller ging, wo durch mehrfach abgesicherte Türen in einem kleinen Raum der Panzerschrank stand, fand er dort den braunen Umschlag, den er selbst in einem Fach deponiert hatte. Die Aufregung war also völlig umsonst. Siegessicher riss er den Umschlag auf und zog die Blätter hervor. Alle waren unbeschriftet, bis auf eines. Raff traute seinen Augen nicht, als er las:
‚Niemand wird jemals die Formel erhalten und das Medikament in Umlauf bringen. Weder die Raff-Pharma, noch irgendein anderes Unternehmen auf der Welt. Schöne Grüße, Thomas Ruhner.’
Karl Raff nahm diese niederschmetternde Information ohne eine Regung entgegen. Er setzte sich auf den Boden und überlegte, wie es Ruhner gelungen war, durch die Türen zu kommen und den Code des Panzerschranks zu knacken. Das war wirklich eine Meisterleistung und er hatte keine Idee, wie er das fertig gebracht hatte. Im Prinzip war das ausgeschlossen. Nur, es war tatsächlich passiert! Jetzt handelte es sich nicht mehr um das Verschwinden eines Mannes, sondern eindeutig um Wirtschaftskriminalität schlimmster Sorte.
Mit diesem neuen Ansatz setzte die Polizei nun national und international alle Hebel in Bewegung. Parallel dazu beauftragte Raff erneut die besten Privatdetektive des Landes. Irgendwann musste von diesem Ruhner einmal eine Spur auftauchen. Was ihn an sich selbst am meisten überraschte, war sein eigenes Verhalten. Es ärgerte ihn nicht, dass die Formel entwendet worden war und es machte ihn weder wütend, noch hilflos, noch traurig. Gefühlsmäßig war ihm diese Angelegenheit völlig egal. Nur hätte er gerne verstandesmäßig erfasst, weshalb Ruhner eine Produktion verhindern wollte und wie es ihm gelungen war, sämtliche Daten von den Computern und aus dem Panzerschrank verschwinden zu lassen, ohne dass es jemandem aufgefallen war. Karl Raff hatte einen brillanten Verstand, doch in diesem Fall musste er mit einer Erklärung einfach passen.
Was Marta und Hubert am meisten beunruhigte, war sein zunehmend seelischer Verfall und seine immer stärker werdende Teilnahmslosigkeit an allen Dingen.
„Ich glaube“, mutmaßte Marta, „er hat ein echtes psychisches Problem, und da ist es wirklich schwer, ihm zu helfen.“
„Zumal wir davon nicht die kleinste Ahnung haben“, bestätigte Hubert.
„Meinst du, ich soll ihn mal darauf ansprechen?“
„Ich denke nicht, dass das etwas bringt. Ich fürchte eher, das macht ihn noch verschlossener.“
Marta nickte traurig vor sich hin und dachte nach, wann das angefangen hatte.
„Weißt du, seit wann er sich so verändert hat?“
Der Diener überlegte, kam aber zu keinem schlüssigen Ergebnis.
„Ich kann es dir sagen: Seine Veränderung begann exakt an dem Tag, nachdem er am Abend diesen mysteriösen Besuch empfangen hatte, den wir nicht sehen durften. Mir kam das gleich komisch vor.“
„Du vermutest, dass es mit diesem Besuch zusammenhängt?“
„Ich stelle lediglich fest, dass seine psychische Verfassung seit diesem Tag immer schlechter wurde.
Hubert trat an die riesige Glastüre, die in den Garten führte und sah zu den Blumen, die mit prachtvollen Farben die Beete schmückten. Dann drehte er sich zu der Wirtschafterin um und gab ihr zustimmend einen Klaps auf die Schulter.
„Da hast völlig Recht. Seit dieser Zeit ist er anders. Trotzdem muss er selber auf uns zukommen, wenn er darüber reden will oder Hilfe braucht. Irgendwann wird das passieren, da bin ich mir sicher.“
Karl Raff fühlte sich von Tag zu Tag schlechter, obwohl er geistig und körperlich total fit war. Er konnte sich seinen Zustand selbst nicht erklären, unternahm aber auch nichts dagegen.
Nachdem Polizei und Detektive auch nach einer Woche nicht die kleinste Spur gefunden hatten, kam er auf die Idee, einmal die beiden Penner aufzusuchen, die ja ebenfalls Kontakt zu Thomas Ruhner gehabt hatten. Als er am Domizil der beiden unter einer der Isarbrücken angelangt war, fand er aber nur einen vor, der, von Schnaps- und Bierflaschen umgeben, einen ziemlich betrunkenen Eindruck machte. Aus dem war kaum ein vernünftiges Wort herauszubekommen.
„Wo ist eigentlich dein Kumpel?’“, wollte Raff von ihm erfahren.
„Ich habe keinen Kumpel mehr. Der hat tatsächlich seine Drohung wahr gemacht, sich eine kleine Wohnung genommen und Arbeit gesucht. So ein Idiot! Jetzt hat er jede Menge Geld und könnte sich ein schönes Leben machen. Stattdessen arbeitet er. Der muss den Verstand verloren haben, anders kann es nicht sein.“
„Weißt du, wo er wohnt?“
„Keine Ahnung; aber er arbeitet als Lagerist dort drüben in dem großen Supermarkt.“
Dabei deutete er mit der Hand auf ein Gebäude, das auf der gegenüberliegenden Seite der Isar stand.
„Vielen Dank! Dann werde ich dort mal mein Glück versuchen.“
Der andere nahm einen tiefen Schluck aus der Schnapsflasche und hob als Zeichen der Verabschiedung den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1319-2
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