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Aufbruch

Die Zeiten, in denen die Irenier jeden ersten Donnerstag im Monat Lebensmittel an die Goms übergeben mussten, waren zwar nicht vorüber, doch gab es keinen Zwang mehr, da sie durch die vernichtende Niederlage keinerlei Repressalien gegenüber den Ireniern in der Hand hatten. Zudem waren weit geringere Mengen erforderlich, da die Goms bei ihrem Überfall über 2000 Personen verloren hatten. Sie begannen, unter der Anleitung der Irenier Äcker anzulegen und waren froh, wenn sie Tilo, den sie fürchteten, nicht zu Gesicht bekamen. Doch dieser ließ es sich nicht nehmen, mindestens einmal wöchentlich unangemeldet die Arbeiten zu begutachten und dabei bewusst durch die Reihen der Goms zu schreiten, was sie jedes Mal zu größtem Eifer anspornte. Die Irenier stellten ihnen aus ihren Kompostieranlagen Naturdung zur Verfügung, um die jahrzehntelang brachliegenden Böden mit Nährstoffen anzureichern. Tulek, der als Anführer die Nachfolge Goraks angetreten hatte, bemühte sich redlich, die Forderungen der Irenier zur erfüllen. Nach einem Monat hatten sich die meisten Goms einigermaßen an die Arbeit gewöhnt, und einigen machte es so viel Spaß, dass sie gar nicht verstehen konnten, weshalb ihnen das viele Jahrhunderte verwehrt wurde. Dennoch blieb vor allem Tilo ihnen gegenüber skeptisch, da er nicht glauben konnte, dass sie auf Dauer diese Haltung beibehalten würden. Momentan war aber erst einmal alles in Ordnung, so dass er sich bald wieder anderen Dingen widmete.

 

Es war ein sonniger Nachmittag, an dem er zusammen mit Melana den alten Seher und Heiler Mirko besuchte, der, da er sich nicht mehr um die Ausbildung Tilos kümmern musste, sehr viel uneingeplante Freizeit hatte. Sie tranken Tee und aßen Kuchen und unterhielten sich über die Zukunft des irenischen Volkes.

 

„Wir können nicht auf Dauer alle Irenier zur Geburtenkontrolle zwingen“, sagte Mirko. „Doch ohne sie wäre unser Tal bald zu klein. Viele haben gar keine Kinder, aus Rücksicht, unser Bevölkerungswachstum nicht zu schnell ansteigen zu lassen. Andere wünschen sich mehr Kinder und müssen aus dem gleichen Grund darauf verzichten. Gleichzeitig haben wir keinen Einfluss auf die Entwicklung der Goms. Auch wenn sie jetzt dezimiert wurden, werden sie sich wieder vermehren, und das wesentlich schneller als wir, da es bei ihnen ja keine Verhütung gibt und sie diese auch strikt ablehnen. Ich habe allerdings nicht die geringste Idee, wie wir dieses Dilemma ändern können.“

 

Tilo überlegte, ohne seinerseits auf eine Lösung zu kommen. Doch er hatte eine Idee.

 

„Was liegt eigentlich hinter den Bergen, die euer Land begrenzen?“

 

„Das wissen wir nur aus Überlieferungen. Vor über 1000 Jahren haben einige unserer Vorfahren die Reise über die Berge angetreten. Das einzige, was sie am anderen Ende fanden, war eine riesige Wüste. Unwirtlich und unbewohnbar. Manche konnten das nicht glauben und entschlossen sich, diese Wüste zu erkunden. Es waren immer Gruppen von 10 Leuten, die diesen Versuch unternahmen. Keiner von ihnen ist wieder zurückgekehrt. Noch mehrmals wurde der Versuch gewagt, leider aber immer mit demselben Ergebnis. Insgesamt haben bei diesen Expeditionen über 100 Irenier ihr Leben gelassen. Danach wurde nie wieder eine derartige Forschungsreise unternommen, da es ohnehin keinen Sinn hat, in einer Wüste Ansiedlungen zu errichten.“

 

Tilo wollte noch mehr in Erfahrung bringen.

 

„Weshalb habt ihr nie probiert, mit Telekinese diese Wüste zu überwinden?“

 

„Das funktioniert eben nicht. Wir können immer nur Ziele erreichen, die wir sehen oder die wir genau kennen und uns daher vorstellen können. Denke daran, wie du zum ersten Mal alleine gereist bist. Du hast dich auf das Tor an der Mauer konzentriert, weil du das gekannt hast. Sonst wäre dir das nie gelungen. In der Wüste hätten wir nicht den geringsten Anhaltspunkt. Wir hätten keine Ahnung, wo wir uns hinwenden müssten. Unsere Vorfahren haben das vermutlich zu Fuß versucht, und daran sind sie gescheitert. Natürlich hätten sie mit ihren telekinetischen Fähigkeiten sofort zu uns zurückkehren können. Weshalb das nicht geschehen ist, konnten wir nie in Erfahrung bringen.“

 

„Ich möchte diese Wüste trotzdem einmal mit eigenen Augen sehen. Wir könnten doch über die Berge gehen. Die einzelnen Berggipfel kann man ja sehen. Das wäre doch möglich?“

 

„Möglich wäre das schon, was aber willst du in der Wüste?“

 

„Das weiß ich auch nicht. Mich interessiert einfach, wie die Landschaft dieser Berge bis hin zur Wüste beschaffen ist.“

 

Melana schüttelte leicht gequält den Kopf.

 

„Das sind gigantische Felsformationen, die sich mindestens über 400 Kilometer hinziehen. Mehr ist da nicht zu entdecken.“

 

„Das kann sein, dennoch möchte ich mir dieses Gebirgsmassiv betrachten.“

 

Am Abend besuchten sie zusammen mit Mirko Kirig, Melanas Vater, dem sie von Tilos Vorhaben berichteten. Auch er war der Meinung, dass dies nicht nur unnötig, sondern sogar gefährlich sein könnte und versuchte ihn davon abzubringen.

 

„Zu viele sind damals nie wieder zurückgekehrt. Irgendetwas scheint es dort zu geben, gegen das wir uns nicht wehren können. Begib dich nicht in Gefahr, wenn du nicht dazu gezwungen wirst! Und es besteht absolut kein Zwang, über die Berge zu einer Wüste zu reisen, die niemals bewohnbar sein wird!“

 

Aber Tilo ließ nicht mit sich reden. Ganz im Gegenteil: je mehr sie ihn abzubringen suchten, desto interessanter wurde für ihn die ganze Angelegenheit.

 

„Gut, wenn du unbedingt diese grässlichen Berge und die nutzlose Wüste sehen willst, dann komme ich auf jeden Fall mit!“, entschied Melana.

 

„Das kommt auf keinen Fall in Frage!“, schritt Tilo sofort ein. „Du hast doch sowohl von Mirko als auch von deinem Vater gehört, dass es gefährlich werden könnte.“

 

„Gerade deshalb werde ich mitgehen. Und glaube nicht, dass du mich davon abbringen kannst! Wenn du es nicht erlaubst, werde ich dir einfach, auch ohne deine Erlaubnis, hinterher reisen.“

 

„Ihr seid beide ziemliche Sturköpfe“, stellte Mirko fest. „Gut, du hast mit dem Sieg über die Goms bewiesen, dass du dich als einzelner gegen 2000 Menschen durchsetzen kannst. Doch in diesem Fall war dir das Risiko bekannt. In einem fremden Gebiet gibt es aber vielleicht Bedrohungen, die du gar nicht kennst und gegen die du nichts unternehmen kannst. Ich bin mir sicher, wenn wir die Ältesten einberufen und fragen würden, würden sie dir eine solche Reise untersagen.“

 

„Dann berufen wir sie eben nicht ein! Es besteht dazu auch keine Notwendigkeit. Ich mache nur eine Reise. Das ist keine Aufgabe für die Ältesten, darüber zu befinden!“

 

Mirko brummelte unzufrieden vor sich hin, als Zeichen, dass er sich mit den Plänen Tilos in keiner Weise einverstanden erklärte. Es war ihm allerdings klar, dass man Tilo davon nicht mehr abbringen konnte. So probierte er, wenigstens Melana zu überzeugen, von ihrer Begleitung abzusehen.

 

„Du solltest auf jeden Fall hier bleiben. Kirig kann mit Tilo gehen! Frauen haben früher nur an der letzten Expedition teilgenommen, und die ging, wie wir wissen, wohl auch daneben.“

 

„Na, dann wird es ja Zeit, dass endlich einmal eine Frau an der ersten neuen Expedition teilnimmt. Tilo ist mein Mann, und wenn er unbedingt in dieses Gebirge will, gehe ich mit!“

 

Der alte Mann musste einsehen, dass er weder bei Melana noch bei Tilo irgendetwas erreichen würde. Er war sich bewusst, dass es nicht nur um die Besichtigung fremder Berge ging. Irgendetwas führte Tilo im Schilde, von dem er keinem etwas erzählen wollte. So hatte er den jungen Mann jedenfalls kennen gelernt, und er war sich relativ sicher, dass es auch diesmal eine versteckte Idee gab, über die er nichts verlauten lassen wollte.

 

„Ich sehe, dass ich euch nicht abbringen kann, diesen Unsinn zu begehen. Ich gebe euch allerdings nicht mehr als vier Tage für diese Erkundung. Am fünften Tag seid ihr wieder hier!“

 

„Das reicht auch völlig aus“, versprach Tilo. „Wie gesagt, ich möchte mir nur einmal einen Eindruck verschaffen.“

 

Kirig gab überhaupt keinen Kommentar ab, da er genau wusste, dass es nichts gab, das beide von ihrer Meinung hätte abbringen können.

 

Der nächste Tag gehörte der Planung und dem Zusammenstellen der Lebensmittel, die sie mitnehmen wollten. Da Tilo die meisten Gebiete der Irenier noch nie gesehen hatte, wollte er die Gelegenheit nutzen, auf der Reise auch hiervon mehr kennen zu lernen. Daher ging er hinauf in das Zimmer mit der Glaskuppel, in der immer noch die im Quarz eingeschlossene Landkarte lag. Durch die exakte Wiedergabe war sie bestens geeignet, Tilo die sehenswerten Orte zu zeigen, die für ihn von Interesse waren. Vor allem der große See am Ende des Tales faszinierte ihn, da er fast bis an die schroff abfallenden Felswände hinanreichte und bestimmt ein beeindruckendes Naturschauspiel bot.

 

Während er studierend vor der dreidimensionalen Karte saß, begann diese plötzlich, wie schon einige Male, in einem grellen Licht aufzuleuchten. Tilo wartete gespannt, was nun passieren würde. Als hätte die Karte darauf gewartet, bis er sich aufmerksam auf die dargestellte Landschaft konzentrieren würde, erschien oberhalb des Sees neben einem Wasserfall mitten an einem Felsvorsprung, der von Büschen und niederen Bäumen bewachsen war, ein rot blinkendes Kreuz. Er erinnerte sich, würde er nun seine Gedanken laut äußern, würde die Karte, wie damals als sie ihn vor den Goms warnte, darauf reagieren.

 

„An dieser Stelle ist wohl etwas verborgen, das ich mir näher anschauen soll“, sprach er zu sich selbst.

 

Augenblicklich begann das Kreuz in Grün zu blinken. Er rief Melana, die dieses Gebiet ja kannte und zeigte auf die Karte.

 

„Kannst du damit etwas anfangen? Ist dir diese Felswand bekannt?“

 

„Bekannt ist sie mir, aber ich habe keine Ahnung, was an dieser Stelle des Felsens interessant sein soll. Als Kind war ich oft dort. Da gibt es nichts als Stein, die paar Büsche, die du siehst und diesen Wasserfall, der irgendwo aus der Felswand hervorbricht. Ansonsten handelt es sich um einen nahezu 3000 Meter hohen Berg, der fast senkrecht bis zum See abfällt. Mir ist völlig unerklärlich, was dort Besonderes sein soll.“

 

„Da gibt es etwas Außergewöhnliches“, behauptete Tilo. „Du weißt sehr wohl, dass ich von diesem Quarz hier immer wieder Hinweise erhalte. Du selbst hast ja gesagt, dass er deiner Vermutung nach ein Orakel ist. Wir werden uns diesen Punkt auf jeden Fall genauer betrachten. Ich bin schon sehr gespannt darauf, was wir dort entdecken werden.“

 

In dem Augenblick, in dem Tilo versprach, diesen Ort aufzusuchen, begann das geheimnisvolle Leuchten des Quarzquaders zu erlöschen. Melana blickte noch minutenlang verträumt auf die faszinierende Darstellung von Irenia.

 

„Diese Landkarte verzaubert mich immer wieder. Doch entschlüsseln wirst den Zauber und ihre Geheimnisse stets nur du. Ihr beide habt ein besonderes Verhältnis. Gottlob eines, auf das ich nicht eifersüchtig sein muss.“

 

„Hast du eine Ahnung, welche Mädchen mir hier dauernd offeriert werden!“, neckte er seine junge Frau. „Wenn du mal alleine in Urlaub bist, werde ich das schamlos ausnutzen!“

 

„Lügner!“, konterte sie. „Erstens werde ich nie alleine in Urlaub gehen, weil es so etwas bei uns gar nicht gibt und zweitens ist dies ein ehrenwertes Orakel. Ich denke kaum, dass es sich für Schweinereien hergeben wird.“

 

„Ach weißt, du, diese Lichtgestalt, die mir damals erschien, war auch ein Mann. Und wir führten ein Gespräch von Mann zu Mann, in der er mir einiges offenbarte.“

 

„Wenn ihr ein Gespräch von Mann zu Mann geführt habt“, grinste sie, „kann ja nichts Gescheites dabei herausgekommen sein. Da brauche ich keine Bedenken zu haben.“

 

Sie gab Tilo einen Kuss und zog ihn mit sich in das Wohnzimmer, wo sie die Lebensmittel aufgestapelt hatte, die sie für die viertägige Reise mitnehmen wollte.

 

„Da brauchen wir aber einen großen Rucksack“, stellte Tilo angesichts des überaus reichlichen Angebots fest. „Willst du Korpu mitnehmen? Der würde vor Freude strahlen, wenn er sehen könnte, was du alles an Essen geplant hast.“

 

Als hätte er gehört, dass man gerade von ihm sprach, klopfte es an der Haustür und Korpu trat ein.

 

„Sei gegrüßt, mein Sohn und du meine liebe Schwiegertochter ebenso!“

 

Seitdem ihn Tilo als seinen Ersatzvater auserkoren hatte, nahm der liebenswürdige Dicke diese Rolle so ernst, als sei er Tilos leiblicher Vater. Es war geradezu rührend, wie der sich immer wieder nach seinem Wohlbefinden erkundigte, wobei es ihm dabei vor allem um sein leibliches Wohl ging. Melana hatte inzwischen von Voluma über 50 Rezepte erhalten, nach deren Angaben sie auch gerne kochte, da Tilos Ersatzmutter wirklich sehr wohlschmeckende Speisen zubereitete.

 

„Ich bin hier“, fuhr Korpu fort, weil ich euch im Auftrag von Tarek und Bolan zu einem Fahrradrennen einladen soll. Sie haben mittlerweile 25 Fahrräder fertig gestellt und möchten in zwei Wochen ein Rennen veranstalten.“

 

Tilo war über den Eifer der Jugendlichen echt überrascht. Noch vor wenigen Tagen wussten sie nicht einmal, was ein Fahrrad ist und nun planten sie bereits das erste Rennen. Diese Jungs waren in ihrer Begeisterungsfreunde wirklich einmalig.

 

„Natürlich kommen wir. Ich freue mich schon darauf. Das wird wahrscheinlich auch das erste Mal sein, dass eine größere Menge der Irenier ein Fahrrad zu Gesicht bekommt.“

 

„Tarek und Bolan rechnen damit, dass aus den nächsten zwei umliegenden Dörfern fast alle erscheinen werden, da einige Freunde, die mitmachen, auch aus diesen Dörfern stammen. Das wird ein richtig kleines Fest. Ich lasse euch noch den genauen Termin und die Uhrzeit wissen.“

 

Korpu verabschiedete sich wieder und Tilo ging in den Keller, um sich zwei Elektroschocker samt Ersatzakkus und seine Signalpistole zu holen, die er auf die Reise unbedingt mitnehmen wollte. Außerdem steckte er sich noch einen Dolch ein, der stets für viele Dinge ein nützliches Werkzeug war. Selbst Melana nahm ein größeres Messer mit, in der Hoffnung, neue Pflanzen zu finden und damit ausgraben zu können.

 

Am Abend kam noch einmal Mirko vorbei, um ihnen für die Reise alles Gute zu wünschen und gut gemeinte Ratschläge zu erteilen. Er hatte immer noch große Bedenken und ihm war gar nicht wohl, dass er niemandem davon erzählen sollte. Erst als Tilo ihm von der leuchtenden Landkarte erzählte, war er etwas beruhigter. Allerdings konnte auch er sich nicht erklären, was das blinkende Kreuz bedeuten sollte.

 

„Ich kenne die Stelle zwar nicht genau, doch weiß ich, dass dort lediglich ein paar Büsche wachsen. Andererseits hatte das Leuchten bisher immer etwas zu bedeuten und es war stets zum Vorteil für uns.“

 

„Ich werde auf jeden Fall nachforschen, was dort zu sehen ist“, versprach Tilo.

 

Schon früh am Morgen begaben sich Tilo und Melana auf die Reise. Da Tilo noch nicht viele Orientierungspunkte kannte, waren sie gezwungen, sich so vorwärts zu bewegen, dass er sich optisch auf bestimmte Punkte konzentrieren konnte. Trotz allem hatten sie bereits in weniger als einer Stunde das Ufer des Sees erreicht, den Tilo unbedingt besichtigen wollte. Hier bot sich ein beeindruckendes Panorama. Auf der rechten Seite grenzte das Wasser fast an die Felswände des Gebirges, während der See links von Wäldern, Wiesen und Feldern eingesäumt wurde. Hier sah Tilo ein Dorf liegen, das, wie Melana erläuterte, die letzte Ansiedlung im Tal der Irenier war. Als sie an das Ufer des Sees traten, fiel sofort das kristallklare Wasser auf.

 

„Die Reinheit entsteht durch winzig kleine Krebse, die man mit bloßem Auge kaum erkennen kann und die sich durch Algen und Bakterien ernähren. Dabei filtern sie das Wasser, wodurch wir hier die Qualität von Quellwasser erreichen. Diese Krebschen arbeiten fast wie eine Kläranlage.“

 

„Gibt es Fische in diesem See?“, wollte Tilo wissen.

 

Melana lächelte etwas süffisant.

 

„Dieser See ist das fischreichste Gewässer des gesamten Tales und für unser Volk ein wichtiges Nahrungsmittelreservoir. Das haben die Goms allerdings nie mitbekommen. Sie wissen zwar von seiner Existenz, haben aber nie etwas von dem Fischreichtum erfahren. Wir haben das auch stets für uns behalten, so dass sie seit Jahrhunderten immer nur einen kleinen Bruchteil als Abgabe erhalten haben. Über 90 Prozent blieb den Ireniern.“

 

Jetzt kapierte Tilo ihr Schmunzeln.

 

„Ihr habt also die armen Goms immer betrogen.“

 

„Wir haben sie nicht betrogen, wir haben ihnen nur nicht alles erzählt. So haben sie auch nie Kenntnis darüber erhalten, dass wir jede Menge Honig produzieren. Bienen waren für die Goms immer nur Tiere, die stechen und lästig sind. Sie haben sie daher nicht beachtet und ich glaube, die wissen gar nicht, dass man durch sie Honig gewinnen kann. So blieb die gesamte Honigernte unser Eigentum“

 

„Welche Länge hat eigentlich dieser See?“, änderte Tilo das Thema.

 

„Er ist fast 20 Kilometer lang und bis zu acht Kilometer breit. Frisches Wasser erhält er überwiegend von dem riesigen Wasserfall, dessen Auslauf dann in den See fließt.“

 

„Das ist der Wasserfall, der in meiner Steinlandkarte zu sehen war. Das ist ja ein gigantisches Ding. Wie hoch ist er denn?“

 

„Exakt gemessen hat das noch keiner. Aber wir schätzen, dass es um die 400 Meter sind, die er herabfällt. Er quillt mitten aus dem Berg raus.“

 

„Neben dem Austritt müsste sich der Felsvorsprung befinden, den ich gesehen habe.“

 

Melana gab ihm ein Zeichen etwas weiter nach links zu treten.

 

„Dort links auf halber Höhe vom Wasserfall kannst du ihn sehen. Du erkennst ihn an den Büschen und Bäumen, die scheinbar aus dem Fels hervorwachsen.“

 

Tilo blickte in die angegebene Richtung und fand ein paar magere Bäume, die den größten Teil der Büsche verdeckten.

 

„Wie kommen wir denn da hoch. Funktioniert Telekinese auch in die Höhe?“

 

„Der Telekinese ist es egal, ob du dich horizontal oder vertikal bewegst. Es ist wie immer. Du musst nur den Punkt fixieren, zu dem du gelangen willst.“

 

Tilo richtete seinen Blick angestrengt auf den Felsvorsprung.

 

„Ich erkenne vor den Bäumen da oben ein kleines Plateau. Dorthin werden wir uns wenden, denn ich denke, dass wir dort bequem stehen können. Genaueres kann man von hier unten aus leider nicht ausmachen.“

 

Melana stimmte zu und ließ Tilo den Vortritt, da er erst einmal feststellen wollte, ob zwei Mann genügend Platz vorfinden würden, um sich dort aufzuhalten. Tilo konzentrierte sich kurz und erreichte nach wenigen Sekunden die Baumgruppe an dem Wasserfall, wo wesentlich mehr Raum vorhanden war, als man von unten vermuten konnte. Er gab Melana ein Zeichen, die gleich danach neben ihm auftauchte.

 

„Hier muss irgendetwas sein, dass wir beachten sollen“, erinnerte Tilo. „Das blinkende Kreuz bezeichnete eindeutig diese Stelle.“

 

So begannen Melana und Tilo alles nach einer Unregelmäßigkeit oder Besonderheit abzusuchen. Aber selbst nach mehrmaliger Überprüfung konnten sie nichts entdecken, was auf ein besonderes Merkmal hindeutete.

 

„Merkwürdig, dass mich die Karte hierher verwies“, überlegte Tilo. Es muss etwas geben, das wir nur noch nicht gefunden haben.“

 

Ein weiteres Mal schritten sie alles ab, mit exakt dem gleichen Ergebnis: Außer Büsche, Bäume und den Felsen fanden sie rein nichts. Tilo kam ziemlich ins Schwitzen, da heute ein ungewöhnlich heißer Tag war und jammerte daher leicht ungehalten vor sich hin.

 

„Die Hitze heute ist kaum zu ertragen! Und wir stöbern hier, wo die Felsen die Wärme noch zusätzlich abstrahlen, wie die Idioten herum.“

 

„Dann nimm doch ein Bad im Wasserfall“, schlug Melana vor. „Das bringt dir garantiert Abkühlung. Vielleicht verbessert sich dann sogar wieder deine Laune.“

 

In der Tat war Tilo frustriert, weil einfach nichts zu finden war. Melana hatte dies natürlich längst erkannt und hoffte, dass ihr Mann nach einer frischen Dusche, wieder seine alte Souveränität zurück gewinnen würde. Tilo war auch sofort begeistert von diesem Vorschlag.

 

„Das ist eine gute Idee. Es war doch sinnvoll, dass du mitgekommen bist. Manchmal können Frauen wirklich praktisch denken.“

 

„Wir denken nicht praktisch, wir denken logisch. Dir ist heiß und neben dir fließt Wasser, das dich abkühlen kann. Also ist es doch logisch, wenn du dich darunter stellst und deine Abkühlung findest.“

 

„Das ist nicht logisch, sondern zeigt, dass Frauen faul sind. Logisch wäre, wenn du mir das Wasser bringen und über mir ausschütten würdest.“

 

Melana lachte über die so gar nicht logische Antwort.

 

„Wenn ich das täte, hätte ich keinen Mann, sondern ein hilfloses Baby geheiratet. Und das wäre wiederum nicht logisch, da Frauen keine Babys heiraten.“

 

Tilo legte sich zurück auf das spärliche Gras, das den Boden bedeckte und meinte:

 

„Im Moment wäre ich gerne ein hilfloses Baby.“

 

„Mal sehen, wie lange du gerne hilflos bleiben willst.“

 

Melana stand auf, holte sich einen Becher aus ihrem Rucksack, ging zum Wasserfall, füllte ihn und goss das kalte Wasser über Tilos mittlerweile entblößten Bauch. Schreiend sprang er auf und flüchtete, allerdings genau in die falsche Richtung, nämlich genau unter den Wasserfall. Um sich gegenüber seiner jungen Frau keine Blöße zu geben, tat er so, als wäre dies mit voller Absicht geschehen und rief:

 

„Herrlich! Du solltest dich auch hier runter stellen. Dann werden dir deine blöden Argumente gleich ausgehen.“

 

Dabei sprang er, hin- und herhüpfend am Rande des Wasserfalls herum. Im Schwange seines Übermuts übersah er einen größeren Stein, den er voll und ganz mit einem Fuß erwischte, was einen kurzen, aber deutlichen Schmerz auslöste.

 

„Au, verdammt!“, schrie er und hüpfte einen Schritt zur Seite.

 

Auf diese Weise gelangte er hinter den Wasserfall, hinter dem sich ein Hohlraum befand, in den Tilo durch seine Unachtsamkeit unvermittelt hineinfiel. Er war in Sekundenschnelle den Blicken Melanas entschwunden.

 

„Tilo, wo bist du?“, rief sie ängstlich, nachdem sie ihren Mann nirgendwo mehr finden konnte.

 

Dieser musste sich erst einmal orientieren, bevor er zu einer Antwort fähig war.

 

„Ich stecke hier, hinter dem Wasserfall. Hier ist eine Höhle oder so etwas Ähnliches.“

 

Melana eilte hinzu und kam hinter dem Wasserfall zum Vorschein. Erstaunt nahm sie einen höhlenartigen Gang wahr, der in den Berg hineinführte.

 

„Das ist ja eigenartig. Niemand von uns hat diese Höhle jemals entdeckt. Sie liegt seit Jahrhunderten vor unserer Nase und keiner kennt sie.“

 

„Das ist keine Höhle, das ist eindeutig ein Gang, der hier tief in den Berg hineinführt. Dumm, dass wir keine Kerzen oder Fackeln bei uns haben. Dann wäre es uns möglich, weitere Nachforschungen anzustellen.“

 

„Die kann ich besorgen. Unten im Dorf werde ich bestimmt so etwas erhalten können.“

 

Sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort Tilos, sondern rannte augenblicklich aus dem Zugang hinaus und war innerhalb weniger Sekunden verschwunden. Eine viertel Stunde später traf sie wieder, mit einigen Fackeln und Kerzen bewaffnet, ein.

 

„Das ging aber schnell“, stellte Tilo überrascht fest. Woher hast du das denn alles?“

 

„Ganz einfach: Ich bin zur Dorfältesten gegangen und habe ihr erzählt, dass wir eine Wanderung machen und in freier Natur übernachten wollen, aber alles vergessen haben, womit wir uns etwas Licht machen können.“

 

„Na ja, das ist noch nicht einmal gelogen. Hat sie nicht gefragt, wo wir hin wollen?“

 

„Nein, nachdem ich ihr gesagt habe, dass du dabei bist, hat sie sich nicht mehr getraut, Fragen zu stellen.“

 

Tilo und Melana packten ihre Rucksäcke auf den Rücken und zündeten die erste Fackel an. Der Lichtschein war zwar nicht besonders hell, genügte aber, um 20 Meter auszuleuchten. Lediglich der Eingang ließ eine Höhle vermuten, setzte sich aber nach kurzer Zeit in einem fast drei Meter breiten Gang fort.

 

„Wo der wohl hinführen mag?“, überlegte Melana.

 

„Das werden wir bald wissen. Wir haben ausreichend Kerzen und Fackeln. Du hast ja so viel mitgenommen, dass wir für mindestens sechs Stunden Licht haben. Trotzdem sollten wir sparsam mit allem umgehen. Wir wissen ja nicht, wir lang dieser Tunnel ist.“

 

Ob es sich hier um einen von der Natur oder von Menschenhand erschaffenen Gang handelte, war nicht herauszufinden. Tilo tippte auf eine natürliche Ursache, da nirgendwo Bearbeitungsspuren an den Felsen zu finden waren. Nachdem der Gang etwa 300 Meter geradeaus und nahezu eben verlief, bog er dann in einer scharfen Rechtskurve ab und senkte sich deutlich nach unten. Inzwischen waren sie zwanzig Minuten unterwegs und es war kein Ende abzusehen. Die Luft war trotz allem frisch und beide spürten auch einen leichten Zug.

 

„Irgendwo muss es einen Ausgang geben“, stellte Tilo daraufhin fest. „Sonst wäre die Luft nicht so rein. Hier findet definitiv ein Luftaustausch statt.“

 

Nach weiteren fünf Minuten konnten sie vor sich einen schwachen Lichtschein erkennen. Der Gang verbreiterte sich und öffnete sich wieder zu einer Höhle, die den Blick nach außen freigab. Was sie hier sahen, ließ ihnen für einen Moment den Atem stocken. Vor ihnen lag ein Tal, das dem der Irenier sehr ähnlich war. Melana konnte es nicht fassen.

 

„Das sieht aus, wie Irenia. Nur kann ich kein einziges Dorf erblicken. Ob hier Menschen leben?“

 

„Das kann ich dir nicht sagen, aber es macht nicht den Eindruck. Ich finde hier nirgendwo Wege oder bebaute Felder. Wir müssen uns einen besseren Überblick verschaffen. Am besten wäre, wir würden auf einen der Berge gehen. Von dort oben kann man das genauer erfassen.“

 

Sie wählten einen Gipfel, der relativ abgeflacht aussah, so dass sie sicher sein konnten, hier einen gefahrlosen Standplatz zu finden. Oben angekommen, eröffnete sich ein Panorama mit einer faszinierenden Fernsicht. So weit das Auge reichte, waren Berggipfel zu erkennen, die sich über mehrere hundert Kilometer erstrecken mochten. Unten war das Tal auszumachen, das ungefähr halb so groß wie Irenia sein musste, aber ganz augenscheinlich völlig unbewohnt war.

 

„Sicherlich gibt es dort Tiere, aber ein Mensch hat dieses Gebiet noch nie betreten“, befand Tilo.

 

„Woher willst du das wissen?“  

 

„Wenn Menschen dort leben würden, müsste es irgendein Anzeichen dafür geben. Es ist genauso eingeschlossen, wie euer Tal, doch es gibt nicht die geringste Spur einer Zivilisation. Hätten es eure Vorfahren bereits gefunden, wüsstet ihr darüber Bescheid und sie hätten es bestimmt damals schon besiedelt. Allerdings frage ich mich, wie eure Ahnen das übersehen konnten.“

 

Melana hatte sofort eine passende Antwort.

 

„Vermutlich haben sie bei ihren Expeditionen die Berge an anderer Stelle überquert. Dieses Tal liegt so versteckt zwischen den Felswänden verborgen, dass man es nur finden kann, wenn man seine Lage exakt kennt. Von den Gipfeln, die in zehn Kilometer Entfernung stehen, kann es gar nicht wahrgenommen werden, da es von den anderen Bergen verdeckt wird. Wir haben es nur durch einen Zufall gefunden“

 

„Das war kein Zufall! Ich wurde durch das blinkende Kreuz ja fast mit der Nase darauf gestoßen. Jemand will, dass ihr dieses Land für euch nutzbar macht. Es ist ja in nächster Nähe von Irenia und ganz schnell zu erreichen. Wir haben für unser Volk ein neues Besiedlungsgebiet entdeckt.“

 

„Für die Irenier ist das kein Problem durch den verborgenen Eingang hinter dem Wasserfall hierher zu kommen. Doch wie sollen wir die Tiere an diesen Ort bringen?“

 

Dieser Einwand war leider nicht von der Hand zu weisen. Im Augenblick konnte Tilo allerdings auch keine Lösung anbieten.

 

„Das kann ich dir nicht sagen. Jetzt lass uns erst einmal wieder zu der Höhle zurückkehren. Es ist ziemlich frisch hier oben.“

 

In der Tat war durch die Höhe des Berges, auf dem sie sich befanden, die Temperatur deutlich geringer als im Tal, und beide begannen zu frösteln.

 

Unten wieder angekommen, schritt Tilo den gesamten höhlenartigen Ausgang ab, in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken, ohne zu wissen, nach was er eigentlich suchte. Melana bemerkte seine Unruhe.

 

„Nach was forschst du denn? Du rennst herum, als hättest du etwas verloren.“

 

„Ich suche nach einer Lösung, wie man einen freien Zugang hierher schaffen kann.“

 

„Und du glaubst, dass du eine findest, indem du einen Rundlauf in der Höhle machst? Gib dich doch mit dem zufrieden, was du ausgekundschaftet hast! Die Irenier können Schafe, Ziegen und Hühner ohne Probleme in dieses Land transportieren. Auf die größeren Tiere müssen sie halt verzichten, wenn sie hier leben wollen. Alleine die Entdeckung neuen Lebensraums ist eine Sensation.“

 

Aber Tilo wollte sich nicht zufrieden geben und war trotz dieser Einmaligkeit ein wenig traurig.

 

„Komm, lass uns runter bis an den Rand der Wiese gehen und uns ein bisschen ausruhen“, forderte er seine Frau auf.

 

Kaum hatten sie sich auf den Weg gemacht, löste sich aus dem Berg ein riesiger Fels, der krachend zu Tale polterte. Im letzten Augenblick schafften sie es noch, zur Seite zu springen, um von diesem Felsbrocken nicht getroffen zu werden.

 

„Gerade noch einmal gut gegangen“, war Melanas Kommentar zu dieser gefährlichen Situation.

 

Doch Tilo hatte seine Augen bereits woanders hin gerichtet und nahm ihre Worte gar nicht wahr. Etwa hundert Meter unterhalb der Höhle war der Stein, bevor er auf die Wiese rollte, noch auf dem unteren Rand der Felswand aufgeschlagen und hatte dort ein enormes Loch hinterlassen. Neugierig prüfte er den Aufschlagort und rief dann aufgeregt nach Melana.

 

„Das musst du dir ansehen! Es ist kaum zu glauben! Dieser herabstürzende Stein hat einen weiteren Zugang freigesprengt. Hier gibt es noch einen Eingang.“

 

Melana kam herbeigeeilt und war sprachlos.

 

„Das ist wirklich unglaublich! Dein Quarzquader mit der Landkarte muss ein Orakel sein. Eines, das es mit dir sehr gut meint. Es erschließt dir dauernd neue Wege.“

 

„Es ist so, wie es mir die Lichtgestalt damals vorausgesagt hat: Mir wird die Richtung vorgegeben, den Weg muss ich selber finden. Und ab und zu, wenn ich mich zu blöd anstelle, so hat es den Anschein, dann erhalte ich Hilfe, wie eben.“

 

Melana fand das erheiternd.

 

„Wenn das so ist, dann stelle dich bitte recht oft blöd an! Umso schneller kommen wir ans Ziel.“

 

„Ich glaube nur nicht, dass das auf Dauer funktioniert. Ich denke, das sind lediglich erste Hilfestellungen, die mir zeigen sollen, dass ich immer auf die Hinweise vertrauen darf. Jetzt lass uns mal sehen, was sich hinter diesem neuen Gang verbirgt.“

 

Sie zündeten wieder ihre Fackeln an und traten in den Gang hinein. Er war etwas breiter als der andere und auch in der Höhe wirkte er größer. Die Wände zeigten keinerlei Spur von Feuchtigkeit, obwohl kein Luftzug zu spüren war, der für eine Zirkulation gesorgt hätte.

 

„Dieser Gang war offensichtlich hermetisch abgeriegelt. Die Luft ist hier wesentlich schlechter und die trockenen Wände machen deutlich, dass keinerlei Feuchtigkeit eindringen konnte. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es einen zweiten Ausgang geben wird.“

 

Sie schritten weiter vorwärts, wobei der Weg nahezu kerzengerade und eben verlief. Nach zirka 15 Minuten endete der Gang an einer Felswand aus lockerem Gestein.

 

„Du hast Recht gehabt“, stimmte Melana ihrem Mann zu. Es gibt in der Tat keinen zweiten Ausgang.“

 

Tilo war bis zu der Steinbarriere nach vorne getreten und ging studierend mindestens ein halbe Stunde auf und ab. Dann schüttelte er nach eingehender Untersuchung den Kopf.

 

„Nein, ich habe Unrecht gehabt. Es gibt sehr wohl einen Ausgang.“

 

Melana blickte rundherum, ohne das geringste Anzeichen einer Öffnung zu entdecken.

 

„Wo soll der denn sein? Ich kann absolut nichts finden.“

 

„Das liegt daran, dass du einen Kopf zu kurz geraten bist“, lachte Tilo.

 

„Dann hebe mich mal hoch, statt blöde Bemerkungen zu machen!“, forderte sie ihn auf.

 

Tilo machte ihr die Freude und nahm sie auf die Schulter.

 

„Ich sehe selbst auf deiner Schulter nicht mehr wie vorher.“

 

„Dann pass mal auf!“

 

Tilo zog mitten aus dem Geröll einen Stein heraus, wodurch ein kleines Loch entstand, das einen freien Blick nach außen öffnete.

 

„Das ist ja Irenia“, schrie Melana voller Überraschung. „Ich kann den See und weiter hinten das Dorf erkennen. Wie ist denn das möglich?“

 

„Ich vermute, dass von außen nur das Geröll zu sehen ist, das sich an der Felswand aufgehäuft hat. Das ist aber ganz einfach zu entfernen. Wenn ich mit den Fuß dagegen treten würde, könnte ich mit Sicherheit sofort einen Ausgang schaffen.“

 

„Dann mache das doch!“, bettelte Melana.

 

„Erstens sitzt du immer noch auf meinen Schultern und zweitens haben wir dazu später noch genügend Zeit.“

 

Melana kletterte von ihm herunter.

 

„Weshalb willst du das nicht gleich machen? Das ist für die Irenier ein fast ebenerdiger Zugang in ein neues Gebiet. Unser Volk kann sich in ein neues Tal ausbreiten. Das wird Begeisterungsstürme auslösen. Damit hat niemand von uns gerechnet.“

 

„Davon bin ich überzeugt. Doch unsere eigentliche Reise soll ja zu der Wüste gehen. Weit sind wir bisher noch nicht gekommen. Und wir haben Mirko versprochen, dass wir nach vier Tagen wieder zurückkehren. Die Begeisterung wird auch in einigen Tagen noch groß sein. Außerdem möchte ich sehen, ob jemand diesen Zugang von außen entdeckt. Wir können sie damit noch mehr überraschen. Hier liegt ein Weg zu neuen Ländereien, und niemand hatte seit Jahrhunderten eine Ahnung davon, obwohl es bis zu dem anderen Tal lediglich ein Katzensprung ist. Du siehst: ein kleiner Stein kann oft Großes bewirken, indem man ihn aus seinem Steinhaufen heraus zieht.“

 

Gerne hätte Melana gewusst, wie sich der Geröllhaufen von der anderen Seite darstellt, doch genauso gerne wollte sie an der Überraschung mitwirken. Und  hätten sie den Zugang schon jetzt geöffnet, wäre das Aufsehen nur noch halb so groß gewesen. So gingen sie den Weg zurück, bis sie wieder auf der Wiese des neuen Tals standen.

 

Das Auffinden einer Region, die mit Leichtigkeit besiedelt werden konnte, musste für die Irenier einer Sensation gleichkommen. Und beide freuten sich darauf, nach ihrer Rückkehr besonders Mirko, der sich ja so vehement gegen ihre Reise ausgesprochen hatte, in Erstaunen zu versetzen.

Entführt

Tilo und Melana verließen das Tal und begaben sich wieder auf den Berg, von wo aus sie sich vorhin den Überblick verschafft hatten. Dank ihrer telekinetischen Fähigkeiten, war dies in wenigen Sekunden geschehen.

 

„Wohin sollen wir uns jetzt wenden?“, wollte Melana wissen.

 

Tilo ließ seine Blicke über die Berggipfel schweifen, die aber keinerlei Anhaltspunkt boten.

 

„Das ist schwer zu entscheiden. Außer Berge ist von hier wirklich nichts zu sehen. Du hast keine Ahnung, in welche Richtung sich damals eure Vorfahren gewandt haben?“

 

„Leider weiß das keiner von uns. Es gibt darüber überhaupt keine Aufzeichnungen.“

 

„Nun, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als einfach eine Richtung festzulegen und unser Glück zu versuchen.

 

Sie entschieden, sich nach Süden hin zu orientieren, und einfach zwei Tage lang in dieser Richtung weiter zu ziehen. Sie hatten dann wieder für die Rückkehr zwei Tage zu Verfügung und konnten zum versprochenen Zeitpunkt pünktlich in Irenia sein. Da sie beide noch niemals hier gewesen waren und sich gedanklich keinen Fixpunkt vorstellen konnten, waren sie gezwungen, sich sozusagen auf Sicht vorwärts zu bewegen. So durchquerten sie drei Stunden lang Gipfel für Gipfel das Bergland, ohne dass sie ein weiteres Tal entdeckt hätten. Zwar gab es zwischendrin Absenkungen, die jedoch in einer Höhe lagen, dass jede Art der Vegetation ausgeschlossen werden konnte.

 

Mittlerweile war es bereits Nachmittag und Melana, die trotz warmer Kleidung fürchterlich fror, mahnte, sich allmählich nach einem Rastplatz umzuschauen.

 

„Wir wissen nicht, wie schnell hier die Dunkelheit eintritt. Und wenn wir nichts mehr sehen können, müssten wir in dieser Kälte übernachten.“

 

Tilo hatte ein Einsehen, zumal ihm auch nicht besonders warm war.

 

„Wir werden noch zu dem hohen Berg dort hinten reisen“, und damit deutete er auf einen Berggipfel, der die anderen deutlich überragte, „dann können wir vielleicht mehr sehen. Zumindest haben wir von dort oben den größten Überblick.“

 

Ein paar Minuten später standen sie auf einem Berg, der durch nochmals niedrigere Temperaturen einen längeren Aufenthalt unmöglich machte. Doch kaum hatten sie diesen Gipfel erreicht, erblickten sie weit laufende Wälder und Wiesen, die sich über ein Tal erstreckten, dessen Ende mit dem bloßen Auge nicht auszumachen war.

 

Beide standen für einen Moment sprachlos nebeneinander. Zum zweiten Mal hatten sie heute eine Entdeckung gemacht, von der selbst in den alten Schriften der Irenier nie etwas erwähnt wurde.

 

„Eure Vorfahren sind bei ihren Erkundungen sehr nachlässig gewesen. So eine Ebene, wie die da unten kann man doch gar nicht übersehen!“

 

„Vielleicht war damals dieses Land noch nicht vorhanden“, versuchte Melana eine Entschuldigung zu finden.“

 

„Ist jetzt auch egal. Hauptsache ist, dass wir aus dieser Kälte heraus kommen. Dort in der Tiefe wird es wieder wesentlich wärmer sein. Lass uns schnell verschwinden!“

 

„Halt!“, rief Melana ängstlich. „Du weißt doch gar nicht, ob diese grüne Fläche zweifelsfrei eine Wiese ist. Es könnte genauso gut eine Moorlandschaft sein. Von hier oben aus ist das nicht zu erkennen. Und wenn es ein Moor wäre, könnten wir auf der Stelle einsinken.“

 

Der Einwand von Melana war durchaus berechtigt. Sie waren in der Tat zu weit entfernt, um eine Moorlandschaft auszuschließen.

 

„Gut; ich werde mich zu dem Waldrand begeben. Wo Bäume wachsen, muss der Boden auf jeden Fall fest sein. Du wartest hier. Wenn ich festen Boden habe, werde ich unsere rote Decke auslegen als Zeichen, dass du nachfolgen kannst. Die ist von hier aus gut zu erkennen.“

 

„Und falls der Boden nicht fest ist, was machst du dann?“

 

„Sieh doch nur diese weiten Wälder. Die wachsen nicht auf Moorboden.“

 

„Das kann schon sein, aber du kannst nicht auf einem Baum landen, weil du von hier aus gar keinen einzelnen Baum ausfindig machen kannst.“

 

„Deswegen will ich ja am Waldrand landen.“

 

Tilo wartete gar nicht mehr auf einen weiteren Einwand, sondern konzentrierte sich kurz auf eine bestimmte Stelle und war augenblicklich verschwunden. Er kam neben einer Baumgruppe zu stehen und fand Melanas Sorgen als unbegründet. Der Boden war vollkommen fest, und die vermeintliche Wiesenfläche war kein Moor, sondern tatsächlich eine ganz gewöhnliche Wiese, die von einem breiten Fluss durchzogen wurde. Und endlich war es wieder warm. Zu warm eigentlich, und es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit. Tilo breitete die Decke aus, die er im Rucksack verstaut hatte und kurz darauf stand Melana neben ihm.

 

„Du bist wirklich leichtsinnig! Du versetzt mich in Angst und Schrecken. Daran merkt man, dass du erst seit kurzem die Telekinese beherrschst.“

 

„Gut, das nächste Mal lande ich eben auf einem dieser Viecher.“

 

„Um Himmels willen, was für Viecher denn?“

 

Melana dachte erst, Tilo macht wieder mal einen Scherz. Doch dann erschrak sie, als sie dem ausgestreckten Arm ihres Mannes folgte, der in Richtung einer Tierherde zeigte.

 

„Was sind denn das für Tiere?“

 

„Also in meiner alten Welt gibt es welche, die fast so aussehen wie diese. Sie werden Gämsen genannt und sind vielfach in den Alpen heimisch. Die hier auf der Wiese, sind den Gämsen sehr ähnlich, nur etwas größer.“

 

„Sind die gefährlich?“, fragte Melana, immer noch mit einem gewissen Unbehagen.

 

„Nein, gefährlich sind wir für sie. Ihr Fleisch ist nämlich verdammt wohlschmeckend und eine regelrechte Delikatesse.“

 

Währenddessen kam die vermeintliche Gämsenherde immer näher, glotzte sie beide an, um dann friedlich weiter zu grasen.

 

„Na, die sind ja sehr zutraulich“, wunderte sich Tilo. „Bei uns haben die sich immer schnellstens aus dem Staub gemacht, wenn sie einen Menschen gesehen haben. Vielleicht schnappe ich mir eine und dreh ihr den Kragen um. Dann kannst du auch einmal diesen herrlichen Braten probieren.“

 

„Untersteh dich!“, warnte Melana. Die Zutraulichkeit von Tieren auszunutzen ist Frevel!“

 

“Also bei Gämsen werde ich gerne zum Frevler.“

 

„Du weißt ja noch nicht einmal, ob das wirklich Gämsen sind. Du sagst ja selbst, dass sie nur ähnlich sind, aber viel größer.“

 

„Das ist ja das Gute! Das gibt auf einen Schlag wesentlich mehr Fleisch!“

 

„Ich würde kein einziges Stück essen!“

 

„Macht auch nichts! Den Rest bringe ich dann Korpu mit. Der weiß so etwas garantiert zu schätzen.“

 

Währenddessen hatte sich ein Tier aus der Herde heraus gelöst und trabte auf Melana zu. Sie streckte die Hand aus, die neugierig beschnuppert und letztlich abgeleckt wurde.

 

„Ach die sind ja wirklich niedlich. Schade, dass wir sie nicht mitnehmen können.“

 

„Finde ich auch“, grinste Tilo. „Die wären eine echte Bereicherung der Speisekarte.“

 

„Du bis mittlerweile schlimmer als Korpu selbst.“

 

„Ist das ein Kompliment oder eine Rüge?“

 

„Das kannst du nehmen, wie du willst!“

 

Natürlich hatte Tilo nicht die Absicht, eines dieser prächtigen Tiere zu töten. Er fand es nur lustig, wie sich Melana über Tiere ereifern konnte, vor denen sie noch vor wenigen Minuten Angst hatte.

 

„Du kannst dich wieder beruhigen. Ich werde den Tieren nichts tun. Jetzt verabschiede dich von deinem neuen Freund, bevor du keine Hand mehr hast. Wir sollten uns einen schönen trockenen Platz zum Übernachten suchen. Es sieht nach Regen aus, und bevor es nass wird, würde ich mir gerne noch etwas den Wald ansehen.“

 

Sie gingen zum Waldrand und entschieden sich für einen Platz unter einem dichten breitblätterigen Baum. Erst jetzt fiel beiden die enorme Höhe auf, welche die Bäume aufwiesen.

 

„Sind wir hier ins Land der Riesen geraten? Schau dir nur mal die Höhe der Bäume an!“, staunte Tilo. „Die sind ja fast alle um die hundert Meter hoch. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

 

„Drum sind auch wahrscheinlich die Stämme so dick“, mutmaßte Melana.

 

Auch das war ihnen bis jetzt entgangen. Tilo schritt um einige Bäume herum, um anschließend festzustellen:

 

„Unglaublich. Der Umfang beträgt bei allen um die 20 Meter. Was sind das überhaupt für Bäume?“

 

Darauf konnte Melana auch keine Antwort geben. Sie hatten dicke, nahezu kreisrunde Blätter in der Form eines Regenschirms. Daneben gab es auch Nadelbäume von der gleichen Höhe mit zehn Zentimeter langen, relativ weichen Nadeln. Nach Begutachtung der Bäume wagten sie sich ein paar Schritte ins Innere des Waldes. Hier entdeckten sie nach wenigen Metern Farne von bis zu vier Meter Höhe und Pilze von einem halben Meter Schirmumfang.

 

„Die Pflanzen scheinen hier alle im Wachstum auszuufern.“, stellte Tilo fest. „Alles ist hier überdimensional. Schon diese Gämsen sind erheblich größer als in meiner alten Welt.“

 

„Vielleicht ist hier die Luft angefüllt mit Wachstumshormonen“, meinte Melana scherzhaft. „Da müssen wir aufpassen, dass wir nicht als Riesen nach Irenia zurückkehren.“

 

„Ich glaube fast, dass es hier durch den Meteoriteneinschlag zu irgendeiner Genmutation gekommen ist, die das Wachstum fördert. Merkwürdig ist das schon.“

 

Sie gingen noch etwas tiefer in den Wald hinein. Es wurde durch das dichte Blattwerk der Bäume immer dunkler, bis nur noch Dämmerlicht vorhanden war. Ungefähr 50 Meter weiter versperrte ihnen total ineinander verwachsenes Astwerk restlos den Weg.

 

„Man bräuchte Macheten, um weiter vorzudringen“, war das Resümee von Tilo. „Es hat keinen Sinn, wir kehren wieder um. Dieser Wald ist zwar riesig, aber offensichtlich unzugänglich.“

 

Sie gingen zurück zu ihrem Rastplatz und richteten sich für die Nacht ein. Die Temperaturen waren immer noch sehr hoch, und die Wolken ballten sich mehr und mehr zusammen. Wenige Minuten später zuckten die ersten Blitze vom Himmel, gefolgt von einem Platzregen, der so laut prasselnd hernieder donnerte, dass man sich kaum mehr verständigen konnte. Glücklicherweise war das Blattwerk so dicht, dass es auf dem Schlafplatz trocken blieb. An Schlaf war durch das Tosen des Gewitters jedoch kaum zu denken. So dösten Melana und Tilo nebeneinander liegend vor sich hin, ohne dabei wirklich auszuruhen. Erst in den frühen Morgenstunden legte sich das Unwetter. Eine spürbare Abkühlung war jedoch nicht eingetreten. Gegen fünf Uhr rappelte sich Tilo auf und entschloss sich, in dem Fluss ein Erfrischungsbad zu nehmen.

 

„Pass nur auf, dass du nicht abgetrieben wirst. Durch den Regen in der Nacht ist der Fluss heute bestimmt reißender als gestern Abend“, mahnte Melana.

 

Ich werde auf jeden Fall in Ufernähe bleiben“, versprach Tilo.

 

Da er zu bequem war, sein Handtuch herauszukramen, nahm er den ganzen Rucksack mit.

 

„Dann kann ich mir nach dem Bad gleich frische Wäsche anziehen“, war seine Entschuldigung.

 

Das hohe Gras war vom Regen noch ziemlich feucht, so dass er bereits beträchtlich durchnässt das Ufer des Flusses erreichte. Der Pegel hatte tatsächlich deutlich zugenommen, doch fand Tilo eine kleine Bucht, die mit großen runden Kieselsteinen angefüllt war. Hier war der Boden schon so abgetrocknet, dass er problemlos seine Kleidung und seinen Rucksack ablegen konnte. Das Wasser war erfrischend, aber nicht kalt und Tilo genoss es, mit großen Zügen einige Meter weit zu schwimmen. Er ließ sich mit der Strömung etwas mittreiben, stieg dann wieder ans Ufer und ging zu der kleinen Bucht zurück, um dann alles zu wiederholen. Als er beim zweiten Mal fast bis zur Mitte des Flusses geschwommen war, hörte er plötzlich panische Schreie von Melana.

 

„Tilo, Hilfe! Tilo, die schleppen mich fort! Hilfe!“

 

Tilo schwamm, so schnell es ihm möglich war, ans Ufer und sah gerade noch, wie einige Personen Melana in den Wald wegschleppten. Wie ein Wahnsinniger rannte er zu ihrem Lagerplatz, doch war es bereits zu spät. Von Melana und den Entführern war nichts mehr zu sehen. Er eilte zurück zum Fluss, kleidete sich an und kramte aus seinem Rucksack die Leuchtpistole und die Elektroschocker heraus. Dann ging er zurück und überprüfte die Spuren, die im Handgemenge entstanden waren. Die Sachen von Melana waren alle verschwunden. Hier am Waldrand waren die Fußspuren deutlich zu erkennen. Doch je weiter er in den Wald eindrang, desto schwieriger wurde es, die Fährten wahrzunehmen, zumal die Sonnenstrahlen diesen Urwald nicht durchdringen konnten und daher das Licht nur mäßig war. Darüber hinaus fand er schon bald keine Möglichkeit mehr, durch das Dickicht vorwärts zu kommen. Er war völlig verzweifelt. Irgendwo musste es hier einen Weg geben! Diese Menschen, sofern es denn Menschen waren, hatten mit Sicherheit einen Pfad angelegt. Wie sonst hätten sie so schnell untertauchen können? Waren sie nur zufällig hier vorbei gekommen oder gab es in der Nähe ein Dorf? Tilo lauschte in den Wald hinein, konnte aber außer Vogelgezwitscher keinen anderen Laut wahrnehmen. Er ging noch einmal zurück bis zu der Stelle, an der sich die Fußspuren verloren. Nach über zwei Stunden hilflosen Herumirrens fand er endlich einen Farn, an dem ein Blatt abgeknickt war. Die Knickstelle schien jung zu sein, da aus ihr frischer Pflanzensaft heraus quoll. Tilo setzte sich an den Stamm eines der Riesenbäume und lehnte sich müde an. Dann entschloss er sich, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen, nachdem er heute noch nichts zu sich genommen hatte. Er fühlte sich einsam und verlassen und war voller Sorge um Melana.

 

Wie hatten sie so sorglos sein können? Sie hatten nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass es außer ihnen und den Goms noch andere Menschen geben könnte. Es war auch wirklich fatal. Jahrhunderte hatten die Irenier keinen Kontakt zu einem anderen Volk, und gleich der erste Kontakt mit anderen Lebewesen führte zum Desaster. Während er lustlos an seinem Essen herumkaute und gedanklich vor sich hin jammerte, fiel sein Blick auf ein Gebüsch, an dem sich in Bodennähe ein auffällig großer Schwarm Fliegen tummelte. Irgendetwas hatte das Interesse dieser Plagegeister geweckt. Tilo entschied, sich das einmal genauer anzusehen. Als er in die Nähe kam, schwirrten die Fliegen aufgeregt davon. Auf einem der Blätter des Buschwerks bemerkte er einen klebrigen Klecks, der augenscheinlich von einer Flüssigkeit herrührte, die langsam einzutrocknen schien. Er ging auf die Knie, um daran zu riechen. Vielleicht war ja etwas zu erkennen. Er rieb sich einen kleinen Tropfen auf die Finger und führte sie vorsichtig zur Nase. Dieser Geruch kam ihm bekannt vor, sehr bekannt sogar. Das waren eindeutig die Kräutertropfen, die ihm Melana zubereitet hatte, als er nach seinem Unfall damals in der alten Welt ein Stärkungsmittel benötigte. Tilo hatte gesehen, dass seine Frau diese Tropfen auf ihre kleine Expedition mitgenommen hatte. Noch einmal roch er an seinen Fingern. Eindeutig! Das waren Melanas Tropfen! Wie waren die auf dieses Blatt gekommen? Hatte sie ein paar ihrer Tropfen geschluckt, um sich zu stärken? Oder hatte man sie ihr abgenommen und dabei versehentlich etwas verschüttet?  Im Grunde genommen war das egal. Die Freude über diese Entdeckung machte ihn ein wenig lockerer. Und dann fiel ihm spontan ein Versäumnis auf. Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, so als wolle er sich damit sein idiotisches Verhalten demonstrativ vor Augen führen. Doch auch Melana hatte, wahrscheinlich vor lauter Schreck, ebenso nicht daran gedacht. Sie waren ja beide in der Lage, telepathisch Kontakt zueinander aufzunehmen. Augenblicklich setzte sich Tilo noch einmal auf den Waldboden und konzentrierte sich mit seinen Gedanken auf Melana. Sie war das ja gewohnt und würde ihn sicher hören.

 

„Melana, kannst du mich hören?“

 

Augenblicklich kam die Antwort.

 

„Ja. Ich habe unsere Telepathie völlig vergessen.“

 

„Ich auch. Wo bist du und wie geht es dir?“

 

„Ich bin gefangen von Leuten, die eine Sprache sprechen, die ich nicht verstehe. Ich liege hier mitten auf einem Dorfplatz und bin mit dicken Stricken gefesselt. Angetan haben sie mir nichts, aber ich habe fürchterliche Angst.“

 

„Sind es dunkel- oder weißhäutige Menschen?“

 

„Sie sind weißhäutig. Aber sie tragen lediglich einen Lendenschurz als Kleidung; auch die Frauen und Kinder.“

 

„Wie sind sie bewaffnet?“

 

„Sie haben Messer, Speere und ein Rohr, aus dem sie kleine Pfeile schießen können.“

 

„Wie kann ich dich finden. Ich sehe in diesem verdammten Wald nirgendwo einen Weg.“

 

„Ich habe ein paar Kräutertropfen auf ein Gebüsch gesprüht. Dieses Gebüsch ist nur eine Attrappe. Wenn du daran ziehst, fällt es sofort um. Dahinter ist ein Pfad, der zu dem Dorf führt. Aber was willst du unternehmen? Du bist ganz alleine!“

 

„Bin ich nicht! Ich habe meine Signalpistole und meine Elektroschocker bei mir. Alles Waffen, die sie nicht kennen und die ihnen einen gehörigen Schrecken einjagen werden. Denke daran, wie die Goms reagiert haben. Ähnlich wird es hier auch sein.“

 

„Sei vorsichtig. Kurz bevor du das Dorf erreichst, wird der Weg sehr breit und man kann dich von überall kommen sehen.“

 

„Ich werde schon eine Möglichkeit finden, mich unbemerkt zu nähern. Wie weit ist es von diesem Gebüsch bis zu dir?“

 

 „Das sind vielleicht noch fünf Minuten, mehr nicht.“

 

„Gut, dann versuche, sie in fünf Minuten irgendwie abzulenken. Schreie nach Wasser!“

 

„Die verstehen mich ja nicht!“

 

„Egal! Fange einfach an, aus vollem Hals zu schreien!“.

 

 „Ich tue mein Möglichstes.“

 

„Ich bin gleich bei dir! Ich werde jetzt den Busch entfernen und komme erst, wenn ich dich brüllen höre.“

 

Tilo nahm einen dickeren Ast und zog an dem vermeintlich undurchdringlichen Dickicht. Wie Melana gesagt hatte, fiel der ganze Strauch nach vorne um und gab die Sicht auf einen ausgetretenen Trampelpfad frei.  Dieser Weg wurde also öfter benutzt. Vorsichtig rückte Tilo vorwärts, immer lauschend, ob er nicht bald die Stimmen dieser unbekannten Menschen vernehmen würde. Alle 50 Meter blieb er kurz stehen und lauschte nach vorne in den Wald hinein. Auf einmal nahm er neben sich ein Rascheln wahr und erhielt einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf, der ihn auf der Stelle bewusstlos umfallen ließ.

 

Zwei Minuten später sah Melana, die nach wie vor gefesselt in der Mitte des Dorfes am Boden lag, zwei Männer durch den Weg kommen, mit dem besinnungslosen Tilo auf ihren Schultern.“

 

„Ihr Schweine, ihr Verbrecher, ihr Mörder!“, schrie sie den Männern wütend und verzweifelt entgegen.

 

Doch diese verstanden kein Wort und legten Tilo schweigend neben sie. Dann erhielt er die gleichen Stricke wie Melana, so dass er beim Aufwachen unfähig war, irgendeine Bewegung zu vollführen. Den Rucksack nahmen sie mit, ohne aber die Taschen seiner Kleidung durchsucht zu haben. Hier steckten nach wie vor seine Waffen, die für die Fremden ohnehin nutzlos gewesen wären, da sie keinerlei Ahnung von ihrer Bedienung hatten. Doch leider konnten sie durch die Fesselung auch Tilo keine Hilfe sein.

 

Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis Tilo wieder zur Besinnung kam. Sein Kopf schmerzte ziemlich, da er hier den Schlag erhalten hatte. Er wusste überhaupt nicht, was geschehen war und versuchte, sich erst einmal zu orientieren. Dann gewahrte er seine Fesseln und Melana, die sich zu ihm heranwälzte.

 

„Was ist passiert? Warum bin ich gefesselt?“

 

„Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich wollte gerade anfangen zu schreien, da kamen zwei Männer und haben dich bewusstlos angeschleppt.“

 

Tilo musste sich kurz besinnen, bevor ihm die letzten Minuten wieder präsent wurden.

 

„Ich bin ganz vorsichtig den Weg entlang gegangen und erhielt dann plötzlich einen Schlag auf den Hinterkopf. Dabei muss ich das Bewusstsein verloren haben. Die Mistkerle haben offenkundig auf mich gewartet. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Mit Sicherheit ist ihnen nicht entgangen, dass ich im Fluss beim Schwimmen war. Blöd sind sie nicht, das steht fest. Die haben ganz genau gewusst, dass ich nach dir suchen würde. Die mussten nur noch auf mich warten. Und ich Idiot bin in ihre Falle reingetappt.“

 

„Was machen wir jetzt? Was denkst du, haben die mit uns vor?“

 

„Wenn ich das wüsste. Wie Menschenfresser sehen sie allerdings nicht aus. Trotzdem könnten sie uns Übles antun. Wir sind ja völlig hilflos.“

 

„Das Schlimmste ist, dass wir uns nicht einmal verständlich machen können.“

 

Die Dorfbewohner schienen keinerlei Notiz von ihnen zu nehmen und gingen ihren täglichen Arbeiten nach. Ein paar Frauen droschen irgendein Getreide, andere kochten und die Männer saßen in einem großen Palaver in einer Hütte beieinander, die lediglich aus einem mächtigen, gewölbten Dach ohne Seitenwände bestand. Alles erinnerte Tilo an Bilder, die er von den Indianern in den Urwäldern Brasiliens gesehen hatte. Er versuchte, einige Laute der Sprache mitzubekommen, doch leider war die Entfernung zu groß, um irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen. So lagen sie bis zum Abend ausgestreckt auf dem Dorfplatz. Später

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.06.2015
ISBN: 978-3-7396-0186-1

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