Ab und zu hatte er einfach Lust, im Wald spazieren zu gehen. Nicht die gewöhnlichen Wege, sondern quer hindurch zu den Stätten, wo sie als Kinder Lager gebaut hatten und Kämpfe gegen feindliche Armeen führten, wobei diese Armeen aus vier bis fünf anderen Kindern bestanden, die unanständiger Weise den gleichen Wald als ihr Jagdgebiet beanspruchten. Auch heute war so ein Tag, zumal es ein Feiertag war, genauso wie der darauf folgende. Tilo führte seine Schritte zu einem etwa drei Meter hohen Findling, um den sie mit kleinen Baumstämmen damals eine Palisade gezogen hatten. Bestimmt zehn Jahre hatte er diesen Ort nicht mehr besucht. Die Palisade war natürlich längst eingebrochen und nur einige wenige dickere Stämme, die inzwischen mit Moos überwachsen waren, deuteten darauf hin, dass hier einmal fantasievolle Kinderhände gewirkt hatten. Tilo erklomm den Findling, setzte sich nieder und ließ seine Gedanken träumend in die Kinderzeit zurück gleiten. Sein Blick streifte das Laub, das noch vom vergangenen Herbst überall den Boden bedeckte und blieb abrupt an einem Laubhügel hängen, der sich trichterförmig nach innen wölbte. Nicht die an sich schon merkwürdige Form erregte seine Aufmerksamkeit, sondern die Art und Weise, wie die Blätter angeordnet waren.
Tilo stieg von dem Felsbrocken herunter und betrachtete interessiert dieses ungewöhnliche Arrangement. Als wären sie sorgfältig eines neben das andere gelegt, bildeten die Blätter einen ungefähr ein Meter großen konzentrischen Kreis, der sich nach unten hinab wölbte und dadurch wirklich einem Trichter ähnelte. Witzig, dachte er sich, was die Natur alles zustande bringt. Aus kindlicher Freude, einen so wunderschön geschichteten Blätterhaufen aufwühlen zu dürfen, durchpflügte er mit seinen Füßen den Laubring. Raschelnd stoben die Blätter durcheinander, wirbelten in der Luft herum, um sich dann wieder konzentrisch als Trichter zu formieren. Tilo traute seinen Augen nicht. War das eben tatsächlich geschehen oder unterlag er einer optischen Täuschung? Um sich zu überzeugen, dass er aufgrund von Überarbeitung nicht schon an Halluzinationen litt, unternahm er einen zweiten Versuch. Erneut schwirrte das Laub in die Höhe, flog völlig ungeordnet durcheinander und fand sich anschließend schön aufgereiht in dem kreisähnlichen Gebilde wieder zusammen. Wie konnte so etwas geschehen? Gab es hier irgendeinen unterirdischen Sog, der die Blätter magisch anzog? Das wäre ihnen garantiert damals schon aufgefallen.
Er holte sich einen Stein und rollte ihn vorsichtig in die Wölbung hinein. Wie von unten angesogen, teilten sich die Blätter und der Stein verschwand in einer Öffnung, die sich sofort wieder verschloss. Ein derartiges Phänomen war ihm völlig unbekannt. Jetzt war seine Neugier erst recht geweckt. Er ließ sich am Trichterrand auf die Knie nieder und steckte langsam seine Hand in die Blätter des Wölbungsbodens. Sofort zog sich das Laub seitlich zurück, seine Hand verschwand mit einem leichten, aber keineswegs unangenehmen Ruck in einem Loch und war trotz bester Beleuchtung unsichtbar. Erschrocken zog Tilo seinen Arm zurück und zählte in fast kindlicher Einfalt seine Finger durch. Alle fünf waren noch vorhanden. Wie konnte so etwas nur möglich sein? Ein weiteres Mal suchte er sich einen Stein, um ihn in das Loch zu halten, ohne ihn dabei loszulassen. Ebenso wie seine Hand war der Stein, kaum war er in das Loch eingedrungen, für das menschliche Auge nicht mehr sichtbar. Aufmerksam betrachtete er den Stein, nachdem er ihn wieder nach oben geholt hatte, von allen Seiten. Nichts war verändert. Er sah aus, wie vorher und war einfach nur ein unscheinbarer, grauer Granitbrocken. Zumindest dachte er, dass dieses Ding seiner Kenntnis nach aus Granit bestehen müsste. Zufälligerweise streifte er damit das Schloss seines Hosengürtels und hätte sich dabei fast selbst einen Hieb in den Magen gegeben. Der Stein wurde mit einer immensen Kraft von dem Gürtelschloss angezogen, und zwar so fest, dass er ihn kaum mehr davon entfernen konnte. Nachdem er das nach mehreren Versuchen endlich geschafft hatte, legte er ihn respektvoll auf den Boden und betrachtete ihn nochmals von allen Seiten. Nichts war auffällig an dem Ding. Er holte ein paar Münzen aus der Hosentasche und führte sie behutsam an den Steinrand. Bereits im Abstand von zehn Zentimetern wurden ihm die Münzen regelrecht aus der Hand gerissen und blieben wie angeklebt an dem vermeintlichen Granitstück haften. Der Stein war ohne Zweifel magnetisch, und zwar stark magnetisch, überaus stark magnetisch. Zugleich entdeckte Tilo ein auffälliges Flimmern, das den ganzen Stein umgab. Nachdem er die Münzen wieder entfernt hatte, was ihn einige Mühe kostete, deckte er seine Hände darüber, um festzustellen, ob man dieses Flimmern irgendwie fühlen konnte. Dabei machte er, in dem leicht abgedunkelten Raum unter seinen Händen, eine weitere verblüffende Feststellung. Der Stein leuchtete in verschiedensten Farben, fast so, als umgebe ihn eine Aura. Tilo wusste sehr genau, dass er für paranormale Erscheinungen äußerst empfänglich war. Schon als Kind hatte man das bei ihm festgestellt. Bereits als Neunjähriger konnte er Wünschelruten gehen, entfaltete seherische Fähigkeiten und im Alter von sechzehn Jahren beherrschte er die Hypnose recht leidlich. Obwohl er sich immer für paramormale Phänomene interessierte, hatte er sich nie intensiv damit beschäftigt oder sich sogar in diesen Fähigkeiten weiter gebildet. Dass er jetzt Dinge sah, für die es keinerlei vernünftige Erklärung gab, führte er daher auf sein empfindliches Unterbewusstsein zurück. Trotzdem wollte er sich mit seinen Beobachtungen weiter beschäftigen. Da allmählich die Abenddämmerung eintrat, entschloss er sich, den Stein unter dem Findling zu verstecken und am nächsten Tag mit einigen Steinen aus seinem Garten wieder hierher zurückzukehren. Er war gespannt darauf, ob auch Steine, die weit entfernt von diesem Loch lagen, die gleichen Eigenschaften aufweisen würden, wie der, mit dem er gerade so aufs Geratewohl experimentiert hatte.
In der Nacht entwickelte sich ein ziemlicher Sturm, der im Wetterbericht mal wieder nicht angekündigt war. Tilo konnte wegen der Böen, die heftig pfeifend durch die Bäume fegten, einfach nicht einschlafen. Kurz nach Mitternacht ging er in die Küche und holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier. Seine Freundin, mit der er schon mehrere Jahre zusammen lebte, kam erst nächsten Montag von ihrer Schulung zurück. So ging er den Vorwürfen wegen des nächtlichen Bierkonsums aus dem Weg. Er machte es sich im Wohnzimmer in dem alten Schaukelstuhl bequem und dachte über Ereignisse des vergangenen Nachmittags nach. Irgendwann schlief er sitzend ein und wachte erst kurz vor neun Uhr auf, was für ihn sehr ungewöhnlich war. Normalerweise war es schon so um sechs Uhr mit der Bettruhe zu Ende. Der Sturm hatte sich mittlerweile vollständig gelegt und es versprach ein herrlich sonniger Tag zu werden. Nach der Morgentoilette und einem ausgiebigen Frühstück ging er in den Garten und sammelte einige größere Steine ein. Anschließend begab er sich gemächlichen Schrittes in den Wald. Er wollte wie ein normaler Spaziergänger wirken und auf keinen Fall auffallen. Das war natürlich absoluter Blödsinn, da ohnehin niemand auf der Straße war, der ihn hätte beobachten können. Am Loch angekommen, fiel ihm sofort auf, dass die Blätter, trotz des heftigen Sturms, wieder schön konzentrisch angeordnet um den Trichter lagen. Ein echtes Phänomen, aber eigentlich hatte er nach seinen gestrigen Erfahrungen auch nichts anderes erwartet. Dann nahm der die Steine aus der Hosentasche und steckte sie, auf den Knien ruhend, mit den Händen in das untere Ende der Wölbung hinein. Er wartete etwa eine Minute, bevor er sie wieder heraus zog und überprüfte ihre Beschaffenheit. Er stellte sofort fest, dass alle Steine dieses eigenartige Flimmern aufwiesen und beim Abdunkeln deutlich leuchteten. Darüber hinaus hatten sich alle in ziemlich starke Magneten verwandelt. Tilo war hin und her gerissen zwischen Neugier und Angst. Neugier, weil er so etwas noch nie erfahren hatte und Angst, da ihm das Ganze irgendwie unheimlich vorkam. Unschlüssig, was er jetzt machen sollte, entschied er sich dafür, erst einmal nach Hause zu gehen und einige Tage darüber nach zudenken.
Die nächsten zwei Tage bemühte sich Tilo, den Anforderungen seiner Arbeit als Modedesigner nachzukommen. Aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Loch im Wald ab, so dass er nichts Vernünftiges zustande brachte. Jedenfalls nichts, was ihn befriedigte, im Gegensatz zu seinem Chef, der von seinen Entwürfen total begeistert war.
Vielleicht darf man gar nicht bei der Sache sein, um gute Entwürfe anzufertigen, dachte er sich, wobei ihm momentan alles egal war. Es interessierte ihn kein bisschen, ob seine Arbeit als gut oder schlecht beurteilt wurde. Das einzige, was ihn interessierte, war das Loch. Es schien ihm, als würde es ihn ständig rufen. Tatsächlich ertappte er sich, dass er anfing zu lauschen, ob nicht wirklich ein Ruf zu hören war. Doch so sehr er sich auch bemühte, es blieb akustisch alles still. Der Ruf war irgendwo in seinem Inneren und zog ihn magisch an.
Am folgenden Tag, ein Sonntag, an dem sie wegen einer anstehenden Präsentation dennoch arbeiten mussten, entschloss sich Tilo, ab Mittag einen halben Tag Urlaub zu nehmen, nachdem er alle Aufgaben ohnehin bereits erledigt hatte. Er konnte es kaum erwarten, wieder den Wald aufzusuchen. Zu Hause angekommen, machte er sich gar nicht die Mühe, den Wagen in die Garage zu stellen, sondern ließ ihn einfach auf der Straße stehen. Aus dem Gartenhaus nahm er sich noch ein Seil mit, das er dort als Festmacherleine für sein Boot deponiert hatte. Dann rannte er buchstäblich den Weg zum Wald hinauf und traf völlig außer Atem an dem Trichter ein. Er befestigte das eine Ende des Seils an einem Baumstamm und band sich das andere Ende in Hüfthöhe um seinen Körper. Langsam ließ er sich in das Loch hineingleiten, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen damit verbunden sein könnten. Er fühlte sich fast süchtig und wurde mit weichen Vibrationen in das Loch hineingezogen.
Er hatte keine Ahnung, ob er ohne Besinnung gewesen war, geschlafen hatte oder nur in einer Art Tagtraum lag. Auf alle Fälle flog an ihm das Leben mehrerer Generationen vorbei. Er sah Völker und Länder, die ihm völlig unbekannt waren und von denen er niemals etwas gehört oder gelesen hatte. Es tauchten urwaldähnliche, verschlungene Pflanzen auf, Tiere von fremdartiger Natur und Menschen, deren Aussehen er keiner Bevölkerungsgruppe zuordnen konnte. Tilo selbst sah sich als unbeteiligten, fernen Beobachter, an dem diese Bilder wie im Film vorüber glitten. Es war, als sollte er hier etwas lernen und begreifen, nur wusste er nicht, was. Alles erschien ihm fremdartig und fern jeglicher Realität.
Er wachte auf und traute seinen Augen nicht. Er blickte über ein riesiges Tal, dessen Ende in der Ferne ein hohes Gebirge erahnen ließ. Er saß zweifellos auf einer Anhöhe, an deren Fuße sich ein Dorf erstreckte. Hinter ihm erhob sich eine Felswand, die senkrecht in die Höhe stieg und sicherlich über 2000 Meter hoch war. Das Tal war durch schroff abfallende Berge wie mit Mauern rundum eingeschlossen. Trotzdem machte es durch die immense Größe keineswegs einen beengten Eindruck. Ganz im Gegenteil öffnete sich ein Panorama auf eine ausgedehnte, idyllische Landschaft mit Wäldern, Feldern, Weiden und kleinen Dörfern, die sich bis an den Horizont des Tales erstreckten und von wohltuendem, warmem Sonnenlicht beschienen wurden. Obwohl fremd, kam Tilo diese Landschaft dennoch irgendwie bekannt vor. Er mochte vielleicht zehn Minuten so da gesessen sein und die ersten Eindrücke in sich eingesogen haben, als sein Blick auf einen alten Mann fiel, der zwei Meter neben ihm auf dem Boden saß und ihn ruhig und freundlich beobachte. Tilo wäre vor Schreck fast umgefallen, da ihm der liebenswerte alte Mann bis jetzt nicht aufgefallen war. Unwillkürlich rückte er noch ein Stück zur Seite, wenngleich ganz augenscheinlich von ihm keinerlei Gefahr ausging. Tilos Gaumen war total trocken und er musste ein paar Mal schlucken, um dieses unangenehme Gefühl loszuwerden. Der Mann hatte langes, weißes Haar, einen fast silbernen Vollbart und war in eine Art Toga gekleidet, die fast bis an die Knöchel reichte. Seine Augen, die unter buschigen Brauen lagen, leuchteten in einem Hellblau, das Tilo noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. So war in seinen Vorstellungen immer das Bild von Merlin, dem Zauberer, gewesen. Wo war er hier nur hin geraten? Wie war er überhaupt hierher gekommen? Er hatte sich in das Loch hinein gleiten lassen, war dann irgendwie nicht ganz bei Bewusstsein und fand sich schließlich hier oberhalb eines ihm unbekannten Dorfes wieder.
Der alte Mann räusperte sich und sprach ihn an.
„Ich nehme an, du bist leicht verwirrt? Das ist ganz normal und muss dir keine Sorgen bereiten.“
„Es bereitet mir auch keine Sorgen, ich fühle mich nur wie leicht betrunken.“
Der Greis lächelte.
„Das geht bald vorüber. Ich freue mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Deine Hand habe ich schon vor einigen Tagen gesehen und es stand für mich außer Zweifel, dass du bald nachfolgen wirst. Außerdem hat es die Prophezeiung voraus gesagt, dass eines Tages ein Mensch aus einer anderen Welt zu uns kommen wird. Und als ich deine Hand sah, da wusste ich: Es ist so weit. Seitdem sitze ich hier und habe auf deine Ankunft gewartet.“
Tilo verstand gar nichts. Was faselte dieser Alte da? Wieso sollte er denn aus einer anderen Welt kommen und was sollte das mit der Prophezeiung? Hatte er hier einen Verrückten vor sich? Obwohl – der Mann machte keinen debilen oder schizophrenen Eindruck. Eigentlich sah er sehr seriös und würdig aus. Nur mit seinen Worten konnte er beim besten Willen nichts anfangen.
„Könnten Sie mir bitte erklären, was Sie eben mit ihren Bemerkungen meinten? Wieso soll ich aus einer anderen Welt kommen? Wo bin ich hier überhaupt und was wollten sie mit dieser Prophezeiung ausdrücken? Und warum haben Sie auf mich gewartet?“
Der Alte sah ihn lange mit einem beinahe verträumten Blick an, so als wüsste er nicht, was und wie er auf Tilos Fragen antworten sollte. Es machte den Eindruck, als überlege er angestrengt, die richtigen Formulierungen zu finden. Dabei waren es doch wirklich ganz einfache Fragen. Endlich wandte er sich Tilo zu, rückte etwas näher und ergriff seine Hand.
„Was ich dir jetzt sage, wird dich vermutlich sehr verwirren. Und ganz gewiss, wirst du Mühe haben, allem Glauben zu schenken. Doch du kannst mir vertrauen. Ich habe noch niemals die Unwahrheit gesprochen.“
Er machte eine kleine Pause und blickte ihm intensiv in die Augen.
„Ich erzähle dir jetzt alles im Zeitraffer. Lass mich zu Ende reden, dann kannst du Fragen stellen, so viele du möchtest, wenn du dann überhaupt noch in der Lage bist, etwas zu sagen. Zunächst einmal: Du befindest dich hier in einer Welt, die nach eurer Zeitrechnung im Jahr 4214 liegt. Ich weiß, das ist schwer vorstellbar, dennoch ist es so. Die Erde wurde im Jahr 2075 durch einen gewaltigen Meteoriteneinschlag in die Eiszeit versetzt. Die Menschen, die nicht sofort Opfer dieses Einschlages wurden, gingen größtenteils durch die verheerenden Brände, die über die gesamte Erde hinwegfegten und anschließend durch Kälte und Hunger zugrunde. Ein anderer Teil wurde durch zerstörte Atomkraftwerke und Atombrände verstrahlt und siechte innerhalb kürzester Zeit dahin. Durch den gewaltigen Einschlag begann sich darüber hinaus die Erdachse innerhalb weniger Tage zu drehen. Die Polkappen schmolzen, die Erdachse kippte und infolge dessen änderten sich die Klimazonen komplett. Dort, wo es früher kalt war, war es nun plötzlich warm und die warmen Zonen entwickelten sich zu einer Kältekammer.
Aber wie ich schon sagte: Insgesamt erstreckte sich über die gesamte Erdkugel eine neue Eiszeit mit extrem kalten und etwas gemäßigteren Zonen. Diejenigen, die in den kalten Regionen wohnten hatten keinerlei Chance. Durch Hunger und Kälte wurden diese Menschen in wenigen Wochen komplett ausgelöscht. Die das Glück hatten, durch die Polverschiebung in wärmere Gebiete zu gelangen, hatten unverhofft eine kleine Chance zum Überleben erhalten. Sie verkrochen sich in Höhlen, die ihnen einigermaßen Schutz vor den extremen Temperaturen boten und hausten in kleinen Gruppen zusammen. Ein großes Problem blieb jedoch die Ernährung. Die vor der Katastrophe vorhandenen Lebensmittel waren zum großen Teil zerstört und was nicht durch die Brände vernichtet worden war, war in vielen Landstrichen aufgrund der atomaren Verstrahlung ungenießbar. Die Menschen, die dort lebten, starben unter erbärmlichen Umständen.
Wie viele damals insgesamt überlebten, ließ sich mit Gewissheit nie ermitteln. So lange man über die zu dieser Zeit noch funktionierenden Kommunikationsmittel erfahren konnte, waren es höchstens zwei Prozent der gesamten Erdbevölkerung, die am Leben blieben. Nun müsste man meinen, dass diejenigen, die diese Katastrophe überlebten, zusammen geholfen hätten; doch leider war dies nicht der Fall. Die wenigen Überlebenden begannen, sich auf der Suche nach Nahrung zu bekriegen.
Wasser und Essen waren ja zu einer Rarität geworden. So starben durch diese Verhältnisse weitere Menschen, was letztendlich auch in den noch bewohnbaren Gebieten fast zur kompletten Entvölkerung führte. Nur wenige fanden sich zusammen, um gemeinsam und friedlich den Kampf ums Weiterleben zu führen. Sie zogen sich in die entlegensten Landstriche zurück und wurden bald vergessen, was nicht schwierig war, da die einzelnen Gruppen ohnehin kaum Kontakt untereinander hatten. Diese Menschen entsagten damals allem, was zu Feinseligkeiten oder zu einer neuen Zerstörung der Erde führen konnte. Sie entsagten allen technischen Errungenschaften, die nicht beherrschbar waren oder zu irgendeiner Ausbeute der Erde geführt hätten. Man entschied sich zu einer relativ asketischen Lebensweise, was sich angesichts der wenigen vorhandenen Lebensmittel nahezu von selbst ergab. Man widmete sich mehr und mehr einer geistigen, transzendentalen Lebensweise, was über die Jahrhunderte hinweg allmählich zur Perfektion ausgearbeitet wurde und letztlich das Gehirn des Menschen so beeinflusste, dass sich im Laufe der Zeit viele Fähigkeiten als Erbgut festigten und als Anlage automatisch an die Nachkommen weitergegeben wurde. So sind heute bei unserem Volksstamm alle in der Lage, sich telepathisch zu verständigen und jeder von uns beherrscht die Telekinese. Natürlich gibt es Unterschiede in der Beherrschbarkeit, aber jeder besitzt die Gabe, sich ohne ein technisches Beförderungsmittel fortzubewegen. Ich weiß: Das klingt für dich phantastisch und unvorstellbar, aber du wirst dich bald davon überzeugen können.“
Tilo ärgerte sich etwas. Woher wollte dieser Alte denn wissen, ob er überhaupt das Bedürfnis hatte, sich von ihren Geistesgaben zu überzeugen? Und was sollte denn das Gefasel von einer Prophezeiung? Das klang sehr verdächtig nach griechischer oder römischer Mythologie, wo man auch an die Orakel glaubte.
„Mal angenommen, es stimmt alles, was Sie mir da erzählen, obwohl das für mich kaum glaubhaft ist, was hat das alles mit der Prophezeiung zu tun, die Sie vorhin erwähnten?“
„Nun, durch die Jahrhunderte lange Beschäftigung mit den geistigen und sinnlichen Fähigkeiten des Menschen hat sich unsere Gehirnstruktur verändert. Teile des Gehirns, die bei den Menschen aus deiner Welt völlig brach liegen und zurückgebildet sind, sind bei uns sehr vollendet ausgebildet und ständig aktiv. Wir wissen, dass bei uns ein großer Teil des Handelns und Denkens wesentlich mehr über das Urhirn gesteuert läuft als bei euch. Dinge, die in eurer Welt als übersinnlich bezeichnet werden, gehören in unserem Volk zur gewöhnlichen Bildung wie bei euch Lesen und Schreiben. Durch diese Sensitivität hat sich bei uns von ganz alleine der Zugang zu anderen Geistwelten geöffnet. Es gibt nämlich nicht nur unsere, es gibt sehr viele Geistwelten auf den verschiedensten Ebenen. Das ist etwas, das vielleicht in Ansätzen eure tibetanischen Mönche ahnen oder wissen. Wir wissen das nicht nur, sondern wir können mit vielen dieser Geistwelten auch kommunizieren. Und von dort erhielten wir die Botschaft, dass eines Tages ein Mensch aus einer anderen Welt den Weg zu uns finden und die Rettung bringen würde.“
„Ach und dieser Mensch bin wohl ich?“, fragte er mit einem deutlich spürbaren Unterton, der fast ein bisschen spöttisch klang, was er allerdings gar nicht beabsichtigt hatte.
Tilo schwirrte allmählich der Kopf. Obwohl dem Übersinnlichen sehr angetan, war dies alles im Moment einfach zu viel für ihn. Natürlich war ihm bekannt, dass viele Menschen an andere Geistwelten glaubten. Er selbst war sich ja sicher, dass so etwas existierte. Doch nun zu hören, dass es diese tatsächlich geben sollte und andere mit diesen Welten ganz selbstverständlich in Kontakt standen, das war zwar etwas, das er durchaus glauben konnte, dennoch war es kaum fassbar. In der einen Welt zweifelte man und mutmaßte, in der anderen war es eine unumstrittene Tatsache und gehörte zum Alltag. Tilo versuchte, nicht weiter an dieses Unbegreifliche zu denken und wollte nur noch wissen, was die Prophezeiung für ihn bedeuten würde.
„Wovon soll ich euch denn erretten? Wie kann ein einzelner überhaupt ein ganzes Volk retten?“
Der Alte sah ihn lange mit mildem Blick an und schüttelte dann nur langsam und bedächtig mit dem Kopf.
„Um dir diese Frage zu beantworten, ist es noch zu früh. Du musst uns zunächst kennen- und verstehen lernen, um zu begreifen, wie du zum Retter unseres Volkes werden kannst. Ich bitte dich daher um Geduld. Erst, wenn du durch eigene Erfahrung Wissen angesammelt hast, kannst du alles kapieren, ohne dass ich dich dann noch mit Worten überzeugen muss.“
Tilo war über diese ausweichende Antwort nicht einmal enttäuscht. Ganz gegen seine Gewohnheit nahm er sie sogar relativ befriedigt hin, ohne dass er sagen konnte weshalb. So lenkte er seine Wissbegier auf ein anderes Thema, das ihn interessierte.
„Wie kommt es eigentlich, dass ich in diese Welt eindringen konnte? Wie ist dieses Loch überhaupt entstanden?“
„Nun, wie sich dieses Loch geformt hat, wissen wir alle nicht. Uns ist nur bekannt, dass es bereits Jahrhunderte existieren muss. Das geht aus Berichten unserer Vorfahren hervor. Durch dieses Loch verschmelzen die Grenzen zwischen Jahrhunderten und zwischen unseren beiden Welten. In eurer Welt würdet ihr es wahrscheinlich als Zeitloch bezeichnen. Wem es möglich ist, sich den Zugang zu erschließen, der kann sozusagen zwischen zwei Welten hin- und herreisen.“
„Wenn es tatsächlich schon viele Jahrhunderte vorhanden ist, weshalb hat es dann vor mir noch niemand entdeckt? Es kann doch nicht sein, dass dieses merkwürdige Loch mit seiner Funktion niemals von jemandem aufgefunden wurde.“
„Das ist für dich natürlich verwunderlich und kaum zu verstehen. Ehrlich gesagt, verstehe ich es selbst nicht, aber ich habe gelernt, solche Dinge einfach hinzunehmen und nicht zu hinterfragen. Wir wissen aber, dass nur äußerst sensible und mediale Menschen Zeitlöcher überhaupt sehen und benutzen können. Welche Voraussetzungen dann noch erfüllt sein müssen, das liegt auch für uns im Dunkeln.
Unser Volk ist sehr medial begabt, und dennoch gibt es nur wenige, die durch dieses Loch in deine Welt reisen können. Folglich muss es noch andere Elemente geben, die jemanden befähigen, das Loch als Tür zu nutzen. Weshalb es so viele Jahrhunderte dauerte, bis ein Mensch aus der anderen Welt, nämlich aus deiner, zu uns dringen konnte, dafür – wie gesagt – habe auch ich keine Erklärung.“
„Sie sagen, dass lediglich wenige Menschen Zeitlöcher nutzen können. Bedeutet das, dass dies hier nicht das einzigste Zeitloch ist?“
„Ganz gewiss nicht! Es hat auf der Erde schon stets mehrere Zeitlöcher gegeben. Nur haben die Menschen sie nicht erkannt, obwohl diese Löcher durch nicht erklärbare Vorkommnisse immer wieder einmal auf sich aufmerksam gemacht haben. Im Bermuda-Dreieck zum Beispiel existierte damals ein solches Zeitloch. Wir kennen dies aus eurer Geschichte. Aber die Menschheit hat es damals ziemlich ignoriert und immer mit logischen Begründungen versucht, mysteriöse Ereignisse mit den Gesetzen der Naturwissenschaften zu erklären. Es gibt aber noch Gesetze, die ihr gar nicht kennt. Ihr wollt oft etwas beweisen, was ihr mit euren heutigen Kenntnissen gar nicht beweisen könnt. “
Tilo bekam es mit dem Gedanken an das Bermuda-Dreieck etwas mit der Angst zu tun. Waren dort Gerüchten zufolge nicht des Öfteren spurlos Schiffe und Flugzeuge verschwunden?
„Bedeutet das, dass ich nun niemals mehr in meine Zeit zurückkehren kann? Dass ich für meine Welt einfach von der Bildfläche verschwunden bin?“
„Nein gewiss nicht! Du bist aus eigenem Antrieb durch das Loch gegangen. Du bist nicht zufällig hineingerutscht. Das bedeutet, dass du, wann immer du willst, zwischen deiner und unserer Welt hin- und hergehen kannst. Aus Erfahrung wissen wir, dass du diese Begabung nie wieder verlieren wirst. Du bist Zeitreisender, wann immer du das wünschst.“
Tilo war beruhigt und glaubte dem alten Mann, ohne zu probieren, ob seine Behauptung der Wahrheit entsprach, ob er wirklich problemlos zurückkehren konnte. Der Alte hatte etwas an sich, das ihm absolutes Vertrauen einflößte und ihm die Sicherheit gab, alles, was er sagte, als zutreffend anzunehmen.
„Ist denn von euch nie jemand in unsere Welt gekommen, um zu sehen, wie wir leben?“, wollte Tilo wissen.
„O doch!. Ich selbst war einige Male bei euch. Doch was ich gesehen habe, war keineswegs dazu angetan, in eurer Welt zu verweilen oder gar Kontakt mit euch aufzunehmen. Es gibt in eurer Welt definitiv nichts, was uns nützen könnte. Auch andere von uns, haben eure Welt besucht, doch allen ging es genauso wie mir. So haben wir beschlossen, diese Parallelwelt einfach zu vergessen und darauf zu warten, dass einmal jemand von der anderen Seite zu uns kommt, so wie es in der Prophezeiung vorhergesagt wurde.“
Schon wieder diese Prophezeiung. Tilo wusste inzwischen jedoch, dass es keinen Sinn hatte, noch einmal danach zu fragen. Irgendwie kam ihm das alles immer noch sehr merkwürdig und fremd vor. Wenn er das jemandem erzählen würde, würde man ihn garantiert für verrückt erklären.
„Komm’ mit!“, wandte sich der Greis an ihn und stand auf. „Ich werde dir unser Dorf zeigen.“
Tilo erhob sich und schritt, als sei es das Normalste der Welt, gehorsam hinter dem Alten her, der langsam den kleinen Weg zum Dorf hinab schlenderte und dabei erzählte.
„Du hast den riesigen Talkessel gesehen. Er ist rundum von einem mächtigen Gebirge eingeschlossen, das ihn mit gewaltigen und schroff abfallenden Felswänden begrenzt. Es ist daher für jeden, der keine Telekinese beherrscht, unmöglich das Tal zu erreichen oder zu verlassen. So leben wir völlig abgeschieden und sicher seit mehreren Jahrtausenden in diesem kleinen Land.
Du kannst von hier aus nicht alle Dörfer sehen. Insgesamt beherbergt das Tal 15 Stück und in jedem leben etwa 3000 Menschen. Mit Sicherheit wirst du dich fragen, wie es uns gelungen ist, über einen so langen Zeitraum, die Zahl der Bevölkerung so niedrig zu halten. Nun, unser Lebensraum ist sehr begrenzt und daher wurde bereits vor Jahrhunderten die Geburtenkontrolle eingeführt. Nur ist dies keine erzwungene Kontrolle, sondern eine freiwillige und das hat bisher immer funktioniert. Die Felder werden von allen Dörfern gemeinsam bestellt und auch die Versorgung der Tiere erfolgt in Teamarbeit. Alles ist unser gemeinsamer Besitz und jeder zieht seinen Nutzen daraus. Dadurch gab es bei uns auch noch nie Streit, weil einer mehr besitzt als der andere, und Hungersnöte oder Einschränkungen bei der Ernährung sind uns völlig unbekannt. Was wir zum Leben benötigen, erarbeiten wir zusammen und jeder wird entsprechend seinen Fähigkeiten so eingesetzt, dass es immer zum Nutzen der Gemeinschaft ist. Für dich mag das vielleicht paradiesisch klingen, aber genauso ist es. Du wirst es noch selbst erfahren.“
Während dieses kurzen Berichts hatten sie den Rand des Dorfes erreicht. Golem war auf einem Schild als Ortsbezeichnung zu lesen. Was Tilo als erstes ins Auge fiel, waren die wunderschönen, gepflegten Gärten. Hier mochten tausende von üppigen Blumen in den buntesten Farben blühen, die er noch nie gesehen hatte und in üppigem Wachstum in der Sonne erstrahlten. Sofort dachte er an genmanipulierte Pflanzen.
„Sind diese Blumen natürlich gewachsen oder fördert ihr durch irgendwelche Maßnahmen dieses prächtige Wachstum? Das ist doch völlig unnatürlich!“
„Für dich ist das unnatürlich, für uns ist das völlig normal. Wir haben das von unseren Vorfahren übernommen, die aus den ehemals verseuchten Böden das Beste herausholen mussten. Es gab ja keine Chemie mehr oder die so genannten Errungenschaften der Genforschung. Allmählich haben wir uns das Wissen angeeignet, mit natürlichen Mitteln das Wachstum zu fördern, wie das etwa eure Biobauern versuchen. Auf diese Weise haben wir gelernt, dass wir nichts anderes benötigen, als das, was uns die Natur bietet. Wir benötigen keinen künstlichen Dünger, keine Herbizide und Pestizide, und dennoch wächst alles sehr reichhaltig, ohne dass wir in irgendeiner Form nachhelfen müssten. Man muss nur auf das Gleichgewicht achten. Auf das Gleichgewicht zwischen den Pflanzen, den Tieren, ja selbst zwischen den Mikroorganismen. Dieses Gleichgewicht habt ihr zerstört. Daher benötigt ihr alle möglichen Hilfsmittel und werdet doch nie das Ergebnis erreichen, das wir erzielen.“
Tilo war verblüfft. Unabhängig davon, dass er viele dieser Blumen nicht kannte, einen solchen Blütenreichtum hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. War es tatsächlich möglich, ein derartiges Wachstum auf natürliche Weise zu erreichen? Er musste das im Moment einfach glauben.
Sein Blick wanderte von den Gärten zu den Häusern. Auch diese wiesen einen sehr gepflegten Zustand auf und waren von einem Baustil, der ihn in Erstaunen versetzte. Bis in etwa ein Meter Höhe war eine Reihe aus dicken Steinquadern zu sehen, die beinahe wie milchiges Fensterglas aussahen. Darüber waren dicke Holzbalken gelegt, die bis zum Dach reichten und so die Hausmauern bildeten. Eine sehr stabile und ungewöhnliche Konstruktion. Wie die Quader und Balken miteinander verbunden waren, konnte man nicht erkennen. Die Dächer selbst bestanden ganz offensichtlich aus großen Schiefertafeln. Alle Häuser waren aus den gleichen Materialien gefertigt, aber in völlig unterschiedlichen Baustilen, was dem Dorf einen schönen, lebendigen Charakter verlieh.
„Eine interessante Bauweise habt ihr hier“, bemerkte Tilo. Einheitlich und doch völlig individuell.“
„Einheitlich sind bei uns nur die Materialien. Jeder kann bauen wie er will und wie es seinen Bedürfnissen entspricht.“
„Was sind den das für Glasquader, auf denen die Holzbalken liegen?“, wollte Tilo wissen.
„Das ist kein Glas, das ist Quarz. Das hat sich damals nach dem Meteoriteneinschlag gebildet. Ein großer Teil unserer Berge besteht aus diesem Gestein. Wir schneiden es heraus, dann wird es poliert und dient als Basis für all unsere Gebäude. Das hat den Vorteil, dass es zusätzlich zu den Fenstern Licht spendet und die Holzbalken vor der Bodenfeuchtigkeit schützt. Sie werden übrigens, wie auch die Balken, mit dem Harz eines Baumes verklebt, den es in deiner Welt nicht gibt. Dieses Harz behält immer seine Elastizität, schrumpft nicht und dehnt sich auch nicht aus. Auf diese Weise gibt es absolut keine Kälte- oder Wärmebrücken. Das Holz der Balken hat einen Härtegrad der nahezu an Stein hinreicht. Diese Materialien überleben Jahrhunderte, ohne sich jemals zu verändern.“
Tilo war fasziniert.
„Und die Dächer; woraus bestehen die?“
„In deinen Gedanken habe ich gelesen, dass du Schiefer vermutest. Das ist durchaus richtig. Nur, auch dieser Schiefer ist unvergleichlich härter, als der in euren Bergen. Alles, was du siehst, macht den Eindruck als sei es neu. Aber alles ist viele Jahrhunderte alt. Komm weiter, ich möchte dich unserem Dorfältesten vorstellen!“
Tilo hatte noch jede Menge Fragen, musste sich aber für den Augenblick zufrieden geben, da der Alte forschen Schrittes weiter ging. Unterwegs trafen sie einige Leute, die freundlich grüßten und so taten, als würden sie ihn schon lange kennen. Dabei war bereits an seiner Kleidung zu sehen, dass er unmöglich ein Bewohner des Dorfes sein konnte. Darüber war er leicht befremdet und wandte sich an den Greis.
„Kein Mensch scheint sich Fragen zu stellen, was ich hier will und wie ich überhaupt hierher komme. Man sieht doch ganz deutlich, dass ich ein Fremder bin. Bei uns würde mich jeder anstarren, vielleicht sogar ansprechen.“
Der alte Mann lächelte.
„Nun, da bei uns jeder Telepathie beherrscht, muss dich keiner ansprechen. Jeder weiß, woher du kommst und was du bist. Deine Gedanken sind für sie ein offenes Buch. Das muss dir aber nicht unangenehm sein. Keiner dringt so in deine Gedankenwelt ein, dass dein Innerstes nach außen gekehrt wird.“
Tilo war das jedoch äußerst unangenehm. Hier musste man nicht nur vorsichtig sein, mit dem, was man sagte, hier musste man auch bei seinen Gedanken Vorsicht walten lassen. Bei einem beeindruckend schönen Platz betraten sie durch ein hölzernes Portal eines der Häuser.
„Hier lebt Lero. Er kümmert sich um die Belange unserer Dorfgemeinschaft. In eurem Verständnis ist er so etwas wie ein Bürgermeister. Er nimmt die Wünsche und Anregungen unserer Bürger entgegen, legt in gemeinsamer Abstimmung mit den Ältesten fest, ob eine Notwendigkeit zur Umsetzung besteht und in welchem Zeitraum und von wem sie realisiert werden sollen. Irgendwann wirst du selbst miterleben, wie das funktioniert.“
Woher nahm er die Sicherheit, dass er das irgendwann erleben würde? Woher wollte er denn wissen, ob er jemals wieder zurückkehren würde? Tilo fand das beinahe etwas anmaßend.
Der Alte klopfte an einer Tür und gab Tilo ein Zeichen, ihm nachzufolgen. Hinter einem gewaltigen Schreibtisch saß ein Mann, etwa im gleichen Alter des Greises, der sofort bei ihrem Eintreten aufsprang und freudig erregt mit ausgestreckten Armen auf Tilo zueilte.
„Endlich! Endlich bist du bei uns angekommen! Jahrhunderte haben wir auf dich gewartet! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie willkommen du bei uns bist.“
Mit diesen Worten ergriff er Tilos Hände und schüttelte sie so sehr, dass er Angst hatte, sie würden ihm im nächsten Augenblick abfallen.
„Mein Name ist Lero. Aber das hast du ja schon von Mirko gehört.“
Aha. Mirko hieß er also, der alte Mann. Er würde ihn zukünftig auch so nennen. Schließlich duzte er ihn ja auch. Und schon wieder der Hinweis, dass man ihn erwartet hatte, und zwar seit Jahrhunderten. Er verzichtete aber darauf, hierzu Fragen zu stellen. Wahrscheinlich würde er ohnehin die gleiche Antwort erhalten wie die von Mirko.
„Ich weiß“, fuhr Lero fort, „dass alles für dich etwas befremdlich ist, aber das ist nur am Anfang so. Wir werden dir alle helfen und du wirst dich daran gewöhnen. Es ist nicht einfach, eine Rolle zu spielen, die man nicht kennt und von der man gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt.“
„Ihr sprecht hier alle in Rätseln. Ich habe keine Ahnung, welche Rolle hier für mich vorgesehen ist, und wenn ich es wüsste, ist noch die Frage, ob ich diese Rolle überhaupt ausfüllen will. Ich bin in dieses blöde Loch hinein gefallen oder hinein gezogen worden und war dann plötzlich bei euch.“
„Nun, du warst neugierig und wolltest hinein gezogen werden. Du wirst bald alles verstehen, aber erst sollst du uns näher kennen lernen. Dazu bietet sich gleich heute die erste Gelegenheit: Wir feiern am Abend ein Fest und ganz Golem wird anwesend sein. Ich lade dich ein, mitzufeiern und bei uns zu übernachten. Hast du Lust?“
Der Dorfälteste blickte ihn erwartungsvoll an. Tilo wusste nicht, wie es kam; er hatte auch gar nicht überlegt, und obwohl ihm alles sehr merkwürdig vorkam, sagte er spontan zu.
„Gut“, fuhr Lero fort, „dann wird dir Mirko deine Unterkunft zeigen. Wir haben für Besucher ein kleines Haus, in dem du alles Notwendige vorfinden wirst. Ich freue mich, dass du dich so rasch entschieden hast.“
Tilo war sich im Unklaren darüber, ob er sich freuen oder über sich selber ärgern sollte. Er hatte allerdings keine Zeit, länger über seine Entscheidung nachzudenken. Mirko fasste ihn am Arm und zog ihn mit sich.
„Du wirst das Haus mögen! Es ist genauso gebaut, wie alle anderen und unterscheidet sich lediglich dadurch, dass es etwas kleiner ist. Dafür bist du der einzigste, der es bewohnt.“
Sie überquerten wieder den Platz und wandten sich dann rechts in eine kleine Gasse, die an einem Park endete.
„Wir haben hier zwar jede Menge Natur; dennoch haben wir in allen Dörfern mehrere Parkanlagen, die jeder nutzen kann, wann und wie er möchte. Am häufigsten werden die Parks von den jungen Leuten und den Müttern mit Kindern besucht.“
Gleich am Eingang des Parks überquerten sie eine kleine Brücke, unter der ein Bach mit kristallklarem Wasser durchfloss. Als Tilo hinab sah, erblickte er jede Menge Fische, die sich munter darin tummelten. Nachdem sie einen Weg mit einer uralten Baumallee durchschritten hatten, öffnete sich der Blick auf einen kleinen See, der von einer prächtig-farbigen und süßlich duftenden Blumenwiese umgeben war. Am gegenüber liegenden Ufer war ein Haus zu erkennen, das sich in dieser üppigen Natur fast verlor, ohne aber dabei einsam zu wirken. Ganz im Gegenteil strahlte es wohltuende Ruhe aus. Es schien fast so, als würden allein beim Anblick sämtliche Sorgen und Nöte auf einen Schlag verschwinden. Ein merkwürdiges Gefühl, das mit beruhigender Sanftheit auf Tilo einwirkte und das umso stärker wurde, desto mehr sie sich dem Gebäude näherten.
Mirko beobachtete ihn aufmerksam und nickte dann zufrieden mit dem Kopf, so als fühlte er sich in irgendetwas bestätigt.
„Dieses Haus steht auf einem ausgedehnten Kraftfeld. Es spendet dir Wohlbefinden und setzt Energien frei, die du bisher nicht kanntest.“
„Habt ihr viele solcher Kraftfelder hier?“, wollte Tilo wissen.
„Oh ja. Unser ganzes Land besteht aus solchen Kraftquellen. Die gibt es übrigens in eurer Welt auch. Nur habt ihr verlernt, sie wahrzunehmen und zu fühlen. Und was besonders bedauerlich ist: Da ihr euch nie damit auseinander gesetzt habt, habt ihr viele zerstört, indem sie zubetoniert oder durch Bodenausbeutung vernichtet wurden.“
„Und wo sind diese Kraftfelder auf unserer Erde?“
„Du musst nur in eure Vergangenheit zurückgehen, dann findest du sie am leichtesten. Viele Kultstätten der Druiden, der Indianer oder Ägypter sind Orte der Kraft. Manche kennt ihr, aber viele habt ihr noch gar nicht entdeckt. Die alten Völker verstanden diese zu erkennen und für sich zu nutzen. Ihr habt davon kaum mehr eine Ahnung.“
Während des Gesprächs hatten sie das Haus erreicht und Mirko öffnete die Tür. Was Tilo sofort auffiel, war der Einfluss der Lichtsteine, die dem Inneren eine Beleuchtung gaben, wie er sie noch niemals zuvor in dieser Form erlebt hatte. Nicht nur die Fenster ließen den Strahlen der Sonne freien Zugang, sondern auch die glasartigen Steine, wodurch der Raum sowohl von oben als auch von unten warm beleuchtet wurde. Durch die Brechung der Sonnenstrahlen flimmerte der Boden als sei er von tausenden, winzig kleinen, blinkenden Sternen erfüllt. Ein phantastisches und beeindruckendes Lichtspiel, das ihn völlig fasziniert am Eingang verharren ließ.
Für den Alten war dies normal und der bemerkte gar nicht, welche Faszination diese Raumwirkung auf Tilo ausübte.
„Hier unten befindet sich der Wohnraum, die Küche und eine Toilette“, begann Mirko mit der Beschreibung des Hauses. „Die Terrassentür kannst du natürlich öffnen und den Blick auf den See und den Park genießen. So lange du bei uns bist, ist das dein Domizil und es ist dir überlassen, was du machst. In der oberen Etage liegen das Bad und drei verschiedene Schlafräume. Suche dir einfach einen aus!“
Sie gingen die Treppe nach oben hinauf und Tilo entschied sich für ein Zimmer, dessen Fenster nach Osten und Süden ausgerichtet waren. Hier musste den ganzen Tag das Sonnenlicht den Raum bescheinen. Dann fiel Tilo plötzlich ein, dass er zwar eine Übernachtung zugesagt hatte, aber keinerlei frische Kleidung geschweige denn Toilettenartikel bei sich hatte. Leicht stotternd wagte er Mirko auf diese Situation anzusprechen.
„Das ist mir jetzt peinlich, aber ich habe gar keine frische Kleidung dabei. Ich konnte ja nicht wissen, dass ich in eine andere Welt gerate und dort gleich eine Nacht verbringe.“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, fiel der Alte Tilo ins Wort. „Es ist für alles vorgesorgt.“
Er öffnete den Schrank, in dem neben Kleidungsstücken, die seinen entsprachen auch solche Gewänder hingen, welche hier getragen wurden. Und wieder tauchte bei ihm die Frage auf: Woher konnte er ahnen, dass er bleiben würde? Woher wusste er, dass er Kleidung benötigte und wie konnte er Kenntnis über seine Konfektionsgröße haben? Hatte ihn Mirko vielleicht schon längere Zeit heimlich beobachtet? Die Sache wurde immer mysteriöser.
„Was für eine Kleidung du für das Fest an dem heutigen Abend wählst, bleibt dir überlassen. Auf alle Fälle findest du hier alles, was du brauchst.“
Um sich noch einmal zu vergewissern, betrachtete Tilo ein weiteres Mal die Hosen und Hemden, die säuberlich auf einem Bügel im Schrank hingen und erkannte, dass alles exakt seinen Maßen entsprach. Staunend ersparte er es sich aber, danach zu fragen oder irgendeine Bemerkung darüber fallen zu lassen. Wo war er hier nur hingeraten? Und warum, verdammt noch mal, hatte er so schnell zugesagt an einem Fest mit völlig unbekannten Menschen, ja mit einer völlig unbekannten Kultur teilzunehmen? Er verstand sich selbst nicht mehr.
Dann legte Mirko freundschaftlich seine Hände auf Tilos Schultern, wobei er fast väterlich meinte:
„Ich werde mich jetzt erst einmal zurückziehen. Ruhe dich etwas aus oder gehe auf die Terrasse und genieße die Sonne. Du findest dort eine bequeme Bank und eine Sitzgruppe. Wir werden dich später rechtzeitig abholen.“
Damit verabschiedete er sich und war kurz darauf verschwunden. Tilo legte sich aufs Bett und ließ seine Gedanken schweifen. War das alles Wirklichkeit oder doch nur ein Traum? Weshalb kam ihm die Situation so normal vor? Wie konnte so etwas überhaupt geschehen? Ein Zeitloch! Er wollte und konnte zwar nicht in Abrede stellen, dass es derartige Löcher geben könnte, aber weshalb musste gerade er in ein solches Loch fallen und weshalb gerade jetzt? Ihm ging es doch nicht schlecht in seiner Welt! Er besaß ein schönes Haus, hatte einen guten Beruf und ein zufrieden stellendes Einkommen. Gut, das Zusammenleben mit Veronika, seiner Lebensgefährtin könnte manchmal ein klein wenig besser sein. Aber schlecht war das auch nicht. Warum also hatte man ihn dann in eine andere, ihm völlig fremde Welt katapultiert? Schön, der Greis hatte ihn ja beruhigt. Er könnte jeder Zeit zurück in seinen gewohnten Alltag. Es sei lediglich ein Besuch, mehr nicht. Doch wer gab ihm denn die Gewissheit, dass dies auch zutraf? Komischerweise beunruhigte ihn noch nicht einmal der Gedanke daran, die Rückkehr nicht durchführen zu können. Ganz im Gegenteil war ihm das momentan vollkommen gleichgültig, und dieses Gefühl der Gleichgültigkeit machte ihn mehr erschrocken als die Tatsache, dass er überhaupt hier war. Noch während er vor sich hin grübelte, fielen ihm die Augen zu und der versank in einen tiefen Schlaf.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dagelegen war. Auf alle Fälle wurde er wach, da irgendjemand in der Küche mit Geschirr rumklapperte. Tilo rappelte sich mühselig auf und ging die Treppe nach unten. Am Eingang zur Küche blieb er stehen und beobachtete ein Mädchen, das offensichtlich damit beschäftigt war, den Tisch zu decken. Er glaubte, einen Engel vor sich zu sehen. Langes, blondes, weit über die Schulter reichendes Haar glänzte seidig in den Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen und umkränzte ein Gesicht, das an Schönheit durch nichts zu übertreffen war. Dazu eine Figur, die in seiner Welt sämtliche Modellmaße in den Schatten gestellt hätte. Eine derartige Gestalt hatte Tilo noch nie gesehen. Dieses Wesen musste ein Engel sein! Wie sonst wäre eine derartige Schönheit zu erklären gewesen? In diesem Augenblick wandte sie sich um und entdeckte den heimlichen Beobachter. Freudestrahlend kam sie mit ausgestreckter Hand auf Tilo zu.
„Oh, du bist wach geworden. War ich mal wieder zu laut? Mama sagt immer, dass ich etwas ungestüm bin. Ich heiße Melana.“
„Aha“
Mehr brachte Tilo, immer noch von der Anmut des Mädchens fasziniert, im Augenblick nicht hervor. Melana schien davon überhaupt keine Notiz zu nehmen. Sie ergriff Tilos Hand, um sie sanft zu schütteln.
„Ich werde für dich sorgen, so lange du dich bei uns aufhältst. Wir möchten, dass du dich wohl fühlst bei uns und dass es dir an nichts fehlt.“
„Ich beginne gerade, mich sehr gut zu fühlen“, antwortete Tilo und bereute gleich, dass ihm so ein plumpes und unmissverständliches Kompliment herausgerutscht war.
„Ich heiße Tilo.“
„Tilo? Das ist ein schöner Name.“
„Na ja, nicht jeder findet das. Und du willst wirklich für mich sorgen?“
„Ja, so lange du hier bist.“
Tilo war unfähig den Blick von ihr zu wenden und ließ sich zur nächsten blöden Bemerkung hinreißen.
„Und wenn ich nun für immer bei euch bleibe?“
Was für einen Quatsch rede ich hier, dachte er sich. Die muss doch meinen, ich bin bescheuert. Dümmer kann man schon gar nicht mehr ein Mädchen anmachen. Umso verblüffter war er über die Antwort.
„Das wäre sehr, sehr schön, denn das wünschen wir uns alle. Und ich würde in diesem Fall immer für dich da sein.“
„Was meinst du mit ‚immer’? Wenn ich für den Rest meines Lebens hier bleibe, kannst du dich doch nicht die ganze Zeit um mich kümmern!“
„Oh doch. Das kann ich und das werde ich.“
Nachdem sich Tilo bereits mehrfach etwas einfältig benommen hatte, war ihm nun alles egal. Jetzt wollte er alles in Erfahrung bringen. Vor allem ob sie verheiratet war oder einen Freund hatte.
„Hast du den niemanden, der auf dich wartet?“
„Natürlich wartet jemand auf mich“, lächelte sie. „Meine Eltern, aber die wissen ja, wo ich bin. Jetzt komm und setze dich. Ich nehme an, du hast Hunger.“
Dieses Mädchen schien keine auch noch so ungalante Antwort übel zu nehmen. Oder sie war bildhübsch, aber etwas dumm; doch diesen Eindruck machte sie absolut nicht. Wieder sah er gebannt über die prachtvolle Figur, die sich vor seinen Augen hin- und her bewegte. Nicht nur ihr Anblick, auch ihre Bewegungen hypnotisierten ihn regelrecht. So stand er immer noch auf der Türschwelle und machte keine Anstalten, Platz zu nehmen.
„Willst du nichts essen oder traust du meinen Kochkünsten nicht“, fragte Melana schließlich, nachdem er sich kein bisschen bewegte.
„Wie? Doch, doch, ich war nur eben in Gedanken, entschuldige bitte!“
Erst nach dieser zweiten Aufforderung fiel ihm ein, dass er den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen hatte und er tatsächlich ein Hungergefühl verspürte. Melana hatte neben gegrilltem Fleisch gebratene Kartoffeln und Gemüse zubereitet, das mit ihm unbekannten Kräutern gewürzt war und hervorragend schmeckte. Dazu gab es etwas, das vom Geschmack her dem Wein nicht unähnlich war, aber doch ein anderes Aroma besaß, als der, der ihm bekannt war. Tilo sprach das Mädchen darauf an, nicht nur, um Konversation zu betreiben, sondern weil ihn das wirklich interessierte.
„Die Früchte sehen fast so aus wie Weintrauben“, klärte ihn Melana auf, „sind aber so groß wie Pflaumen. Und sie haben einen leicht pfirsichartigen Geschmack. Der Wein ist sehr bekömmlich und hat einen ganz niedrigen Säuregehalt.“
Tilo konnte sich nicht erinnern, jemals ein so aromatisches Getränk genossen zu haben und goss sich gleich drei Gläser ein, was das Mädchen sichtlich erfreute.
„Dieser Wein ist bei uns äußerst beliebt. Es gibt ihn mit unterschiedlichstem Alkoholgehalt und aus verschiedensten Anbaugebieten. Dadurch erhalten wir ziemlich viele Geschmacksvarianten, so dass man den Eindruck bekommt, es würde sich um unterschiedlichste Fruchtsorten handeln. Dabei stammt alles von der gleichen Traube“.
Tilo war von dem Wein sehr angetan und wünschte sich, diese Frucht möge auch in seiner Welt existieren.
„Ein wirklich sehr außergewöhnliches Aroma. Habt ihr auch Bier?“
Ja, Bier brauen wir auch. Diese Aufgabe haben einige Leute aus dem nächsten Nachbardorf übernommen. Du kannst es nachher probieren, wenn wir auf dem Fest sind.“
Tilo erfuhr noch, dass es vier verschiedene Biersorten gab und das Bier unfiltriert abgefüllt wurde. Neben Gerste wurde auch mit Weizen, Emmer und Dinkel gebraut, was sich auf eine lange Tradition zurückführen ließ. Während der Unterhaltung begann Melana den Tisch abzuräumen. Das schmutzige Geschirr steckte sie in eine Art Spülmaschine, die zwar mit Strom betrieben wurde, durch eine andere Konstruktion der Motorentechnik aber keinerlei Geräusche erzeugte. Sie erklärte Tilo, dass es derartige Motoren in seiner Welt nicht geben würde und erläuterte ihm auch das Funktionsprinzip. Es war für ihn jedoch technisch so abgehoben, dass er kein Wort ihrer Ausführungen verstand. Um dies jedoch nicht deutlich werden zu lassen, begleitete er die Ausführungen Melanas immer wieder mit erstaunten Bemerkungen wie: Interessant, toll, sehr durchdacht, trickreich. Das Mädchen durchblickte aber, dass Tilo im Grunde nichts verstand und sich schämte, ihr das einzugestehen. Sie tat allerdings so, als würde sie es nicht bemerken. Als dann das Geschirr innerhalb von drei Minuten gereinigt und getrocknet wieder entnommen werden konnte, meinte er nur, wobei er die Teller fachmännisch überprüfte:
„Ja, genau so habe ich mir das vorgestellt: Schnell und sauber! Man braucht halt nur die richtige Technik.“
Melana räumte das Geschirr in den Schrank ein und hatte ihm dabei den Rücken zugewandt, so dass er ihr Schmunzeln nicht sehen konnte. Schwer zu verstehen für einen Menschen aus der anderen Welt, die Jahrhunderte hinter unserer Entwicklung zurück sind. Aber er kann es ganz nett verstecken. Jedenfalls bemüht er sich, so zu tun, als würde er alles kapieren. Er ist eben ein Mann und genauso wie unsere Männer. Das hat sich in den vielen Jahrhunderten nicht geändert.
Nachdem alles aufgeräumt war, gingen sie in den Garten und setzten sich auf der Terrasse nebeneinander auf die Bank.
„Warst du schon einmal in meiner Welt?“, wollte Tilo wissen.
„Nein, noch nie. Für mich ist der Durchgang durch das Loch verschlossen. Aber ich habe auch nicht das Bedürfnis, eure Welt zu sehen. Ich kenne sie aus den Erzählungen von Mirko und anderen und das genügt mir. Ich glaube nicht, dass ich mich begeistern könnte über das, was ich bei euch sehen würde.“
„Ist denn unsere Welt so schlecht?“
„Für euch wahrscheinlich nicht. Wir würden uns darin nicht wohl fühlen, denn ihr seid durch eine Lebensweise geprägt, die wir schon vor Jahrhunderten abgelegt haben, als wir erkannten, dass wir uns dadurch letztendlich alle nur selbst vernichten.“
„Ich kenne keine andere Lebensweise“, entschuldigte sich Tilo.
„Du wirst sehr schnell unsere kennen lernen und dann wirst du begreifen, welche Fehler ihr begeht.“
„Macht ihr keine Fehler?“
„Oh doch! Einen entscheidenden haben unsere Vorfahren begangen und darunter leiden wir heute noch.“
„Was für ein Fehler war das denn?“
„Wenn du der bist, für den wir dich halten, wirst du das bestimmt bald erfahren.“
„Für wen haltet ihr mich?“
Melana überlegte einen Moment, so als müsse sie darüber nachdenken, ob sie ihm Näheres erzählen dürfe.
„Es gibt in unserem Volk eine Prophezeiung. In dieser Prophezeiung wird uns ein Mensch aus einer anderen Welt angekündigt, der uns helfen kann, den Fehler unserer Vorfahren ungeschehen zu machen. Du kamst jetzt aus dieser anderen Welt. Nur wissen wir nicht genau, ob du der Angekündigte bist. Dies kann letztlich nur Mirko erkennen. Also musst auch du dich gedulden.“
Dann stand sie abrupt von der Bank auf.
„Wir sollten uns nun langsam für das Fest fertig machen. Was wirst du anziehen?“
Die Frauen hier sind auch nicht anders als bei uns, dachte sich Tilo. Kleidung spielt wohl auch hier eine wichtige Rolle. Was sollte er anziehen? Darüber hatte er sich keinerlei Gedanken gemacht und es war ihm auch völlig egal.
„Ich finde,“ bettelte Melana, „du solltest es einmal mit unserer Mode probieren!“
Ach du Schreck, auch das noch! Dieses togaähnliche Gebilde sollte er also anlegen? Er würde aussehen wie ein römischer Feldherr auf Urlaub.
„Komm, lass es uns versuchen“, drängelte das Mädchen.
Melana zog ihn an der Hand über die Treppe in sein Zimmer hinauf, um fast völlig im Schrank zu verschwinden. Nach einer Minute tauchte sie wieder auf und hielt einen dunkelroten Umhang mit ebenso einer Hose in der Hand.
„Das wird dir bestimmt phantastisch stehen! Zieh mal dein Hemd und deine Hose aus!“
Tilo erschrak.
„Was hier? Was, jetzt?“
Es war ihm unangenehm, seine Hosen vor Melana herunterzulassen. Nicht, dass er prüde war, aber schließlich war sie ja für ihn eine Fremde, obwohl sich mittlerweile ein Gefühl entwickelt hatte, als würden sie sich bereits Jahre kennen.
„Natürlich hier und jetzt!“
Für Melana schien es das Normalste der Welt zu sein.
„Wie soll ich dir denn die eine Hose anziehen, wenn du die andere nicht ausziehst?“
„Aber, aber….“ Er fing leicht zu stottern an. „Ich kann mir doch selber die Hose anziehen.“
„Du hast doch keine Ahnung, wie sie gebunden wird. Nun mach schon!“
Mit diesen Worten öffnete sie seinen Gürtel und nötigte ihn, aus den Hosenbeinen zu schlüpfen. In wenigen Augenblicken stand er in der Unterhose vor ihr, was sie offensichtlich kein bisschen störte. Als sie so vor ihm kniete, um ihm in die andere Hose hineinzuhelfen, musste er sich große Mühe geben, nicht zu auffällig in ihren Ausschnitt zu starren. Obwohl sie nach unten sah, weil sie damit beschäftigt war, seinen Fuß durch das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7530-2
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