Cover

1. Zeitspiel

Er wachte auf, weil die Vögel rücksichtslos in die Ruhe des frühen Morgens hineinzwitscherten. In der Stille ein wahrhaft ohrenbetäubender Lärm, der ihn in den Frühsommermonaten oft viel zu früh aus dem Schlaf riss. Das hatte man davon, wenn man am Rande eines Naturschutzgebietes wohnte. Aber kein Mensch beschwerte sich darüber. Vögel waren etwas Natürliches und durften zu jeder Tages- und Nachtzeit so viel Krach machen, wie sie wollten. Wenn es Kinder gewesen wären, die zu so früher Stunde lautstark den Morgen begrüßt hätten, wäre mit Sicherheit schon längst jemand auf den Gedanken gekommen, Anklage wegen Ruhestörung zu erheben. Die Vögel nahmen sich hier etwas heraus, was keinem Menschen gestattet war. Wirklich eine Unverschämtheit! Wo blieben denn die selbsternannten Umweltschützer, die sich ja sonst um alles kümmerten? Sollten sie sich doch einmal darum kümmern, den Vögeln eine gedämpftere Lautstärke beizubringen. Das wäre doch einmal ein sinnvolles Projekt!


Sicher - einige Bauern waren schon verklagt worden, weil ihr Hahn lauthals schreiend die Nachbarschaft aufgeweckt hatte. Mancher Prozess war deshalb bereits geführt worden, und nicht selten hatten Bauer und Hahn verloren. Und das, obgleich sowohl Bauer als auch Hahn schon lange vor dem dort wohnten, der sie angeklagt hatte. Die Vögel klagte keiner an. Sie gehörtem niemanden, nur sich selbst, und man stelle sich nur einmal eine Amsel auf der Anklagebank vor, die schwören musste, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu zwitschern! Eine idiotische Vorstellung, obwohl Hahn und Amsel gar nicht so weit auseinander lagen, denn schließlich war auch die Amsel so etwas wie ein Hühnervogel. Das hatte ihm zumindest einmal einer erzählt, der behauptete, sich mit so was auszukennen.
 
Wie dem auch sei - Henry Kimm wachte also auf, weil Amseln, Finken, Meisen, Stare und Spatzen gleichzeitig um die Wette brüllten, als ob es darum ginge, einen Marathonläufer beim Endspurt in der Zielgeraden anzufeuern. Das erste Morgenlicht dämmerte durch den Spalt des Fensterladens. Nicht besonders hell, aber immerhin sichtbar. Henry schloss jeden Abend den Fensterladen. Nicht, weil er Angst vor Einbrechern hatte; er hasste es nur, wenn er von draußen beobachtet werden konnte, ganz egal, was er tat oder unterließ. Und Neugierige gab es immer, deren schönstes Erfolgserlebnis es war, andere durchs beleuchtete Fenster zu beobachten. Außerdem waren geschlossene Fensterläden im Sommer gut gegen die Hitze und im Winter gegen die Kälte. Das war doch eigentlich jedem klar.
 
Merkwürdig, dachte Henry, heute muss es ein schlechter Tag werden, so finster, wie es trotz der Dämmerung noch ist. Wahrscheinlich wieder einer dieser typischen deutschen Regentage, die dann zwei, drei Wochen lang anhalten. Wenn er gewusst hätte, wie richtig er mit der Annahme lag, dass es ein schlechter Tag werden würde - Henry hätte zu dieser frühen Morgenstunde beschlossen, mit Gewissheit nicht nur den heutigen Tag, sondern auch die nächsten Tage und Wochen und Monate einfach zu vergessen.


Er sah auf die Uhr: 3 Uhr und 30 Minuten. Das hätte er nicht gedacht. Na, dafür war es allerdings bereits relativ hell. Normalerweise war um diese Uhrzeit überhaupt noch kein Dämmerlicht zu sehen. Also konnte der Tag nicht so schlecht werden, wie er erst dachte. Wahrscheinlich doch ein strahlender Sonnentag mit glühender Hitze. Genauso bescheuert wie ein Regentag. Wo man stehen und gehen würde, überall würde man in Schweiß ausbrechen. Das Hemd würde am Körper kleben, die Menschen wären träge oder aggressiv, und am Abend wäre man dann fix und fertig.
 
Henry überlegte, was er sich für heute alles vorgenommen hatte. Zunächst war um 9 Uhr gleich der Vortrag über das geplante Vertriebskonzept, das für das nächste Jahr geplant war und einen ordentlichen Wachstumsschub für seine Firma bringen sollte. Er wusste zwar, dass alles, was im Vortrag erzählt werden würde, doch nie zur Verwirklichung käme, aber schließlich hatte der Chef durch mehrere Rundschreiben auf die Bedeutung des Besuchs hingewiesen und auch zum Ausdruck gebracht, dass er sogar selbst daran teilnehmen werde, so dass es einfach kein Entrinnen gab. Klar – schließlich hatte er jede Menge Geld ausgegeben, damit irgendein oberschlauer Consultant seine angelesenen Weisheiten zum Ausdruck bringen konnte. Sicherlich wieder ein so junger Schnösel mit viel oberflächlichem Theorie- und keinerlei Praxiskenntnissen. Solche gab es ja zu Tausenden. Aber sie konnten ihre überflüssigen Worte so schön in Allgemeinplätze kleiden, dass man den Quatsch, den sie von sich gaben, schon deswegen gar nicht bemerkte, weil man sowieso kaum zuhörte. Wie dem auch sei - Anwesenheit war also Pflicht. Henry beschloss, die Unterlagen über das Projekt mitzunehmen, an dem er gerade arbeitete und die Vortragszeit zu nutzen, um die längst fälligen Korrekturen einzutragen. Das war wenigstens sinnvoll. Um elf Uhr hatte er eine Personalbesprechung. Etwas, das er noch mehr hasste, als langweilige Vorträge. Doch schließlich war er Abteilungsleiter, und da gehörten Personalgespräche eben einfach dazu. Das machte die Wichtigkeit seiner Position erst so richtig deutlich. Der Ansicht war jedenfalls die Geschäftsleitung. Er selbst hätte solche Gespräche am liebsten an den Biertisch oder in irgendein Kaffee verlegt. Die Atmosphäre und wahrscheinlich auch das Ergebnis wären dann zweifellos besser gewesen. Nach dem Mittagessen hatte er eine Projektbesprechung mit seinen engsten Mitarbeitern angesetzt. Es ging um die Optimierung der Arbeitsabläufe, wo sicherlich noch Luft nach oben war. Den ganzen Nachmittag hatte er dafür eingeplant, aber er wusste, dass sie mit Bestimmtheit wieder in heftigste Diskussionen geraten und frühestens um 20 Uhr das Büro verlassen würden. Damit wäre der Tag dann wieder gelaufen. Viel getan, aber nichts gearbeitet. Jedenfalls nichts, was ihn oder die Firma weitergebracht hätte. Also alles typisch deutsch!
 
Ein so großes Unternehmen wie seines funktionierte eben wie eine Behörde: Viel reden, vor allem über die Arbeit, die man dann doch immer wieder liegen ließ, Verantwortung wegschieben, vor allem nach unten, wo es dann schließlich immer den letzten traf, wenn ein Fehler passierte und das gewünschte Ergebnis weit verfehlt wurde. Also nichts entscheiden, weil mit Entscheidungen Fehler verbunden sein könnten. Und durch Fehler fällt man immer unangenehm auf. Und wer möchte schon unangenehm auffallen und Ärger auf sich ziehen, wenn man in aller Ruhe und ohne viel Stress seinen Job tun kann und jeden Monatsersten das eigentlich ganz üppige Gehalt auf das Konto überwiesen bekommt? Es lebe die Bürokratie, die allen Faulpelzen ein gesundes und sicheres zu Hause bietet! Henry war allergisch gegen diese Einstellung und diesen Trott. Als er Abteilungsleiter wurde, hatte er sich von Anfang an bemüht, in seiner Abteilung andere Regeln aufzustellen. Teilweise machten die Kolleginnen und Kollegen auch mit. Vor allem die jüngeren. Aber diejenigen, die schon seit dreißig und mehr Jahren ihr Schlenderdasein gewohnt waren, konnte er einfach nicht mehr ändern. Eher hätte er einem Elefanten das Seiltanzen beibringen können, und deshalb war er eigentlich unzufrieden. Mit sich und seiner Arbeit.
 
Henry sah wieder auf die Uhr: immer noch 3 Uhr 30. Draußen war es bereits merklich heller geworden. Da konnte etwas nicht stimmen. War dieser blöde Wecker durch einen Stromausfall wieder stehen geblieben? Das war in letzter Zeit immer wieder mal passiert. Aber eigentlich war das kaum möglich. Schließlich hatte er einen intelligenten Wecker gekauft, der bei Stromausfall mit heftigem Blinken jedem deutlich signalisierte, dass die Technik des Weckers voll funktionsfähig war, aber die Technik des Energieversorgungsunternehmens kläglich versagt hatte. Ein typisch japanischer Wecker, der die Unfehlbarkeit der fernöstlichen Technologie selbst dem ungebildeten Betrachter rücksichtslos vor Augen führte.
 
Also - dass der Wecker aufgrund japanischer Unzulänglichkeit stehen geblieben war, konnte man ausschließen. Hatte er vielleicht am Vorabend aus Versehen die Uhrzeit verstellt? Nein, er hatte das Ding nicht einmal mehr berührt. Dafür war er viel zu müde gewesen, weil er sich noch bis spät in die Nacht die Aufzeichnungen der Fußballspiele im Fernsehen angesehen hatte. Total bescheuert zwar, da alle deutschen Vereine verloren hatten und damit alles reine Zeitverschwendung war. Was also war mit diesem Mistding los?
 
Henry beschloss, den Wecker einige Minuten zu betrachten, um sicher zu gehen, dass er wirklich auf ein und derselben Uhrzeit verharrte. Er grinste bei dem Gedanken, wie er die Minuten messen sollte, die er sich selbst gab, um den Stillstand der japanisch erzeugten Uhrzeit nachzuweisen. Wahrscheinlich blieb nichts anderes übrig, als die Zeit einfach zu schätzen. Im Zeitschätzen war er gut. Auch ohne Uhr konnte er die Tageszeit ziemlich genau sagen. Für diese Fähigkeit, obwohl sie nichts brachte, wurde er von vielen beneidet. Er grübelte, wie lange er warten sollte. Drei Minuten, vier, fünf? Fünf Minuten müssten richtig sein, überlegte er. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Was sollte er in diesen fünf Minuten machen? Henry sah zu seiner Frau hinüber, die neben ihm im Bett lag. Sie hatte immer einen gesunden Schlaf. Hörte absolut nichts, wenn sie schlief. Nicht einmal die Vögel, die mit mindestens 80 Dezibel immer noch die Ruhe des frühen Morgens zerrissen. An und für sich ungerecht, dachte Henry. Warum durfte sie schlafen, während er Minuten schätzen musste, um festzustellen, ob der Wecker stehen geblieben war oder nicht? Dabei hatte er den Schlaf viel nötiger als sie. Schließlich musste er ins Büro gehen und sie konnte zu Hause bleiben. Nicht, dass er die Hausarbeit unterschätzte, nein, ganz und gar nicht. Er war sich sehr wohl bewusst, dass das ein Knochenjob war. Aber sie hatte keinen Chef, dem sie Rechenschaft darüber abzulegen hatte, warum sie heute einmal nicht so fit war wie sonst. Henry sann darüber nach, was sein Chef sagen würde, wenn er ihm erklärte: Herr Dr. Brenner, heute bin ich nicht so fit. Sie wissen schon die Vögel, dieser Lärm, da kann man einfach nicht schlafen.
Brenner hätte absolut kein Verständnis dafür. Weder für ihn noch für die Vögel. Schließlich lebte Brenner auch in der Stadt. Er liebte zwar Tiere über alles, was mit Sicherheit ein positiver Zug an ihm war, aber Schlaflosigkeit wegen lärmender Vögel? Vermutlich hätte er ihm die Schuld für dieses Problem gegeben. Klar, warum hatte Henry auch keine schalldichten Fenster und diese nachts zu allem Überfluss auch noch offen stehen? Trotzdem war Brenner in Ordnung. Er ließ einen frei arbeiten, mischte sich selten ein und stellte sich, wenn irgendwo einmal Fehler passierte, immer vor seine Leute. Aber er verlangte Disziplin und Arbeitseifer. Heute würde er ihn bei dem Vortrag treffen.
 
Henry blickte wieder auf den Spalt im Fensterladen. Draußen wurde es immer heller, und man konnte bereits den Sonnenschein sehen. Nein, man konnte ihn förmlich riechen! Also zweifellos ein heißer Tag und er war sich jetzt sicher, dass der Wecker den Geist aufgegeben hatte. Er fixierte die digitale Anzeige. Nichts rührte sich. Sie stand noch immer auf 3 Uhr 30. Japan und seine elektronische Uhrenindustrie hatten kläglich versagt. Es gab keinen Zweifel mehr: Der japanische Zeitmesser hatte aufgehört, zu arbeiten. Nur merkwürdig, dass die digitale Anzeige nicht ganz erloschen war, sondern auf 3 Uhr 30 beharrte. So ähnlich, als hätte sich ein Computer aufgehängt. Da war dann auch einfach der Bildschirm eingefroren und tat so, als ob alles in Ordnung wäre. Henry fiel ein, dass ja seine Armbanduhr auf dem Nachtkästchen lag. Warum war ihm diese Idee nicht schon früher gekommen? Wahrscheinlich waren die Gedanken am frühen Morgen doch nicht ganz frei. Völlig im Gegensatz zu dem Lied: Die Gedanken sind frei.
 
Er tapste auf dem Nachttisch nach seiner Armbanduhr und warf dabei laut polternd die Lampe um, die er dort platziert hatte. Typisch. Wenn man ganz besonders leise sein will, wird es garantiert ganz besonders laut. Ein undefinierbares Grunzen seiner Frau war die Antwort. Aber letztendlich fand er sie dann doch. Leider war es im Zimmer noch zu dunkel, um die Zeit entziffern zu können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen und an den Ladenspalt zu gehen, wenn er nicht das Licht anschalten und damit Gefahr laufen wollte, dass das Grunzen neben ihm zu einem stattlichen Brüllen anwachsen würde. Mühsam schälte er sich aus seiner Bettdecke und ging zum Fensterladen. Es dauerte etwas, bis er den richtigen Lichteinfallswinkel gefunden hatte und das Ziffernblatt seiner Armbanduhr erkennen konnte. Henry musste zweimal hinsehen, bevor er begriff. Eigentlich hatte er es noch nicht begriffen, aber er konnte wenigstens gewiss sein, dass er keiner optischen Täuschung oder Halluzination unterlag. Auch seine Armbanduhr zeigte 3 Uhr 30. Und der Sekundenzeiger rückte keinen Millimeter weiter, so dass die Fehlfunktion augenscheinlich war. Komisch: Beide Uhren waren zur gleichen Zeit stehen geblieben. Die eine war ans öffentliche Stromnetz angeschlossen, die andere wurde von einer Batterie gespeist. Vermutlich auch wieder japanischen Ursprungs. War das ein beginnender Aufstand der Japaner gegen die Europäer?
 
Henry kratzte sich am Kopf. Mit Sicherheit alles nur ein Zufall. Aber zugegebenermaßen ein sehr merkwürdiger Zufall. Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung war ein solcher Zufall vermutlich ganz auszuschließen. Hatte irgendetwas die Intelligenz, sofern man hier überhaupt von Intelligenz reden konnte, elektrischer Uhren gestört? Und zwar exakt um 3 Uhr 30? Wenn das der Fall war, musste die alte Wohnzimmeruhr noch funktionieren. Sie war ein Relikt aus der elterlichen Wohnung und wurde noch mit dem Schlüssel aufgezogen. Eine Arbeit, die Henry stets gerne übernahm, weil es ihn an seine Kindheit erinnerte, als sein Vater jeden Sonntag nach dem Frühstück den Schlüssel nahm und ihn feierlich so lange ihm Kreis drehte, bis die Federn des Uhrwerks wieder gespannt waren und eine Woche ohne Unterbrechung ihren Dienst taten.
 
Eigentlich hatte er gar keine Lust, jetzt ins Wohnzimmer hinunterzugehen, um sich davon zu überzeugen, dass das alte Monstrum aller japanischen Technologie zum Trotz fehlerlos weitergelaufen war. Er war sich sicher, dass sie nach wie vor die richtige Uhrzeit anzeigte. Aber Henry war zu neugierig, um sich nicht selbst davon zu überzeugen. Er holte seine Hausschuhe und ging leise die Treppe hinunter. Die Kinder schliefen genauso fest wie seine Frau und merkten nichts. Nur der Hund blickte ihn verschlafen an, hob kurz den Kopf, um dann wieder von eingegrabenen Knochen weiterzuträumen.
 
Henry öffnete leise die Wohnzimmertüre. Im Wohnzimmer war es bereits hell, weil er hier die Läden nur im Winter schloss, und so konnte er sofort den Blick auf das Ziffernblatt richten, ohne vorher das Licht einschalten zu müssen. Er hatte es ja geahnt, aber irgendwie war ihm ein wenig unheimlich zumute. Sie zeigte tatsächlich eine andere Uhrzeit und er zweifelte keine Sekunde daran, dass es die richtige Uhrzeit war. Die Zeiger standen auf 5 Uhr und 10 Minuten. Es war nun offensichtlich, dass irgendetwas die Funktion der Elektronik sowohl von seinem Wecker als auch von seiner Armbanduhr beeinträchtigt haben musste. Warum eigentlich nur seine Uhren? Etwa auch die Uhren aller anderen? Vielleicht überhaupt die ganze Elektrik? Wenn die Elektrik gestört war, konnte auch das Licht nicht mehr funktionieren. Henry ging zum Schalter, zögerte einen Augenblick und drückte ihn dann schließlich doch. Sofort gingen alle Lampen an, so wie sie es immer taten, wenn nicht zufällig einmal eine kaputt war. Henry atmete erleichtert auf. Vielleicht war eben doch alles ein Zufall.


5 Uhr und 10 Minuten. Viel zu früh, um aufzustehen, wenn er nicht schon auf gewesen wäre. Er ging wieder nach oben und beschloss, sich noch einmal ins Bett zu legen. Der Hund würdigte ihn diesmal keines Blickes. Er brachte für den frühmorgentlichen Treppenwanderer überhaupt kein Verständnis auf.
 
Henry legte sich ins Bett, hörte den Vögeln zu und schlief wieder ein. Als die Zeit gekommen war, zu der er täglich aufstand, das war um 6 Uhr 30, wachte er automatisch auf. Sein erster Gedanke war, er hätte alles nur geträumt. Ein Blick auf den Wecker belehrte ihn jedoch, dass sich nichts geändert hatte. Also doch kein Traum. Die Anzeige stand immer noch auf 3 Uhr 30. Henry drehte sich zu seiner Frau um, die immer noch fest schlief und ohne ihn oder den Wecker niemals von alleine aufgewacht wäre.
 
“Anita, steh auf! Der Wecker ist stehen geblieben.“
 
Anita drehte sich, ohne die Augen zu öffnen, zweimal um ihre eigene Achse, um dann die Bettdecke nur noch etwas höher zu ziehen und so zu demonstrieren, dass sie keinesfalls gewillt sei, die Wärme des nächtlichen Schlafgemaches zu verlassen. Henry startete den zweiten Versuch.
 
“Anita komm, es hilft nichts! Die Kinder müssen zur Schule!“
 
“Ja, ja, ich komme ja schon. Warum ist denn der Wecker stehen geblieben? Hatten wir heute Nacht einen Stromausfall?“
 
Eine Frage, die er auch nicht beantworten konnte. Und der Gedanke, dass seine Armbanduhr bei diesem Zeitkomplott mitgemacht hatte, löste bei ihm ein mulmiges Gefühl aus.
 
“Ich glaube nicht, dass wir Stromausfall hatten. Ich vermute, der Wecker ist einfach kaputtgegangen.“
 
“Na ja, war ja auch schon lange nichts mehr kaputt.“
 
Henry fand diesen Kommentar völlig überflüssig, weil in ihm ein unterschwelliger Vorwurf mitschwang. So als sei es seine Schuld, dass das Ding nicht mehr funktionierte. Er fand ihn vor allem deshalb überflüssig, da in der Regel Elektrogeräte meist bei ihr kaputtgingen, und zwar stets aus heiterem Himmel. Wenn man dann etwas näher die Hintergründe des plötzlichen Versagens hinterleuchtete, war der Himmel gar nicht so heiter. Meist hatte sich das Unheil schon Wochen vorher angekündigt und wäre durch eine einfache Reparatur leicht abzuwenden gewesen. Einfacher war es aber, dem entsprechenden Gerät einen mehr oder minder starken Hieb zu versetzen und es dadurch wieder in Gang zu setzen, was erstaunlicherweise häufig auch klappte, bis es dann endgültig versagte und letztlich irreparabel war. Henry hätte problemlos mit den aufgearbeiteten Apparaturen zwei komplette Haushalte bestücken können und mit Sicherheit wäre noch genügend für die Ausstattung einer Ferienwohnung übrig geblieben. Es hätte jedoch überhaupt keinen Sinn gehabt, mit seiner Frau über dieses Thema zu diskutieren, weil für sie unbestreitbar feststand, dass das betreffende Gerät eben einfach nichts taugte, selbst wenn es acht Jahre lang ohne Störung seinen Dienst versehen hatte. Er zog es vor, auf die Bemerkung seiner Frau nicht zu reagieren und ging ins Bad, um zu duschen. Die Dusche funktionierte, und das Wasser war heiß wie immer.
 
Als er in die Küche kam, wo sie immer gemeinsam ihr Frühstück einnahmen, begann gerade der Kaffee durch die Maschine zu laufen. Es roch köstlich und belebte ihn schon alleine vom Duft her. Seine drei Kinder saßen bereits am Tisch: Hermann, mit 11 Jahren der älteste, Michael, der vor 9 Jahren als Zweiter das Licht der Welt erblickt hatte und Patricia, die 7 Jahre alt war. Sie debattierten gerade lautstark über die verschiedenen Qualitäten von Gummibärchen, insbesondere über die Geschmacksqualität. Patricia vertrat die Ansicht, dass diejenigen Gummibärchen im Geschmack am besten seien, welche die intensivsten Farbtöne hätten. Hermann war da anderer Meinung. Ihm schmeckten die gezuckerten am besten, wenn er auch zugab, dass Zucker die Zähne nicht gerade schonend behandelte. Michael war das alles egal, nur musste die Menge stimmen. Für ihn nahm die Qualität mit der Höhe der Anzahl zu, was sehr praktisch gedacht war, logischerweise jedoch mit der Güte, sofern man hier überhaupt von Güte sprechen konnte, rein gar nichts zu tun hatte. Immerhin, warum sollten sich Kinder nicht über die Qualität von Gummibärchen unterhalten? Für die Erwachsenen war es die Qualität einer bestimmten Fleischsorte, die Qualität eines bestimmten Getränks, für die Kinder eben die Qualität von Gummibärchen. Das war schon in Ordnung so.
 
Henry schaltete das Radio an, um die Zeitansagen mitzubekommen, was nicht einfach war, da das Gummibärchen-Trio immer lauter wurde und es ihm völlig gleichgültig war, ob sein Vater mit der Uhrzeit Probleme hatte oder nicht. Der Lärmpegel sank erst abrupt auf Null, als die Kaffeemaschine ein überlautes Zischen, wie von einem zerstochenen Reifen, von sich gab und in eine Wolke weißen Wasserdampfes eingehüllt die Heißwasser-Zufuhr zum Kaffeefilter unterbrach. Alle drei Kinder erschraken und selbst Anita und Henry zuckten leicht zusammen.
 
“Das klang so ähnlich wie dein Dampfkochtopf, der neulich hochging“, meinte Henry.
 
Ein strafender Blick machte ihm deutlich, dass diese Aussage als billige Revanche für den kaputten Wecker gewertet wurde. Anita betrachtete erst vorsichtig die Kaffeemaschine, überzeugte sich, dass die rote Kontrolllampe noch leuchtete und dann kam, was kommen musste: der schon beschriebene Hieb auf die technische Apparatur. Entgegen der sonstigen Gewohnheiten, die seine Frau von diesen Geräten erwartete, rührte sich diesmal nichts, was Anita in sichtliches Erstaunen versetzte. Völlig hilflos, ob dieser Unverschämtheit, auf die wohl angesetzten Schläge nicht zu reagieren, wandte sie sich an ihren Mann.
 
“Sie geht nicht mehr. Sieh doch du mal nach!“
 
Eigentlich wollte Henry fragen, wie oft sie in letzter Zeit bereits die arme Kaffeemaschine mit Schlägen traktiert hatte, aber angesichts ihrer verzweifelten Miene ließ er das dann doch bleiben. Obwohl er von der Technik von Kaffeemaschinen keinerlei Ahnung hatte, stand er auf, schon alleine, um seinen guten Willen zu bekunden, wenn er auch genau wusste, dass selbst mit einem starken Willen keine Kaffeemaschine mehr zum Laufen zu bringen war, die gerade beschlossen hatte, ihren Dienst zu verweigern. Alle drei Kinder sahen verheißungsvoll zu ihrem Vater und waren wohl gespannt darauf, wie er sich elegant aus der Affäre ziehen wollte. Kaum hatte Henry den Stuhl etwas zurückgeschoben, gab es wieder ein lautes Zischen, eine Wasserdampfwolke und alles lief wieder, als sei nichts geschehen.
 
“Papi muss bloß aufstehen und schon funktioniert alles“, freute sich Patricia.
 
“Quatsch, wahrscheinlich war sie nur verstopft“, verbesserte sie Hermann.
 
Henry sah Hermann strafend an, weil er ihm seinen Triumph rauben wollte, den ihm seine Tochter gerade zuerkannt hatte.
 
"Verstopft, weil das Wasser zu dick geworden war“, lachte Michael.
 
“Die kann gar nicht verstopft gewesen sein. Die hat einfach einen Aussetzer gehabt“.
 
“Und warum geht sie dann jetzt wieder?“, wollte Hermann wissen.
 
“Das weiß ich doch auch nicht. Frag Papi, der ist schließlich aufgestanden und danach lief sie wie vorher“.
 
Henry war im Erklärungsnotstand, da er selbst keine plausible Erklärung hatte. Nicht einmal eine glaubhafte Ausrede fiel ihm in diesem Moment ein.
 
“Ist doch egal, was los war“, sagte er. “Die Hauptsache ist, dass sie wieder geht. Vielleicht war der Startknopf nicht richtig reingedrückt.“
 
Ein strafender Blick seiner Frau war die Folge. Und um jede weitere Diskussion bezüglich einer genaueren technischen Erläuterung des eben erlebten Vorganges auszuschließen, fügte er noch hinzu:


“Jetzt esst aber Kinder, es ist schon spät, und ihr müsst in die Schule“.
 
Henry wusste nicht einmal, wie spät es wirklich war. Seine Armbanduhr funktionierte ja nicht und die Zeitansage im Radio hatte er durch den Kaffeemaschinen-Zwischenfall noch nicht mitbekommen. Schätzungsweise könnte es etwa 7 Uhr 15 sein, dachte er. Merkwürdig, das mit seiner Armbanduhr hatte er niemandem erzählt. Selbst gegenüber seiner Frau hatte er nichts erwähnt, obwohl es doch mehr als kurios war, dass sie genau zur gleichen Zeit stehen geblieben war, wie der Wecker. Warum hatte er das eigentlich nicht erzählt? Er fand keine Erklärung dafür. Im Unterbewusstsein war ihm klar, dass an diesem unerklärbaren Zufall etwas äußerst merkwürdig war. Etwas, das man nicht erklären konnte. Vermutlich hatte er deshalb nichts darüber geäußert.
 
Als sich Henry seine Morgenzigarette ansteckte, hörte er zum ersten Mal die Zeitansage: 7 Uhr 20. Also war seine Schätzung gar nicht so falsch gewesen. 7 Uhr 20, das war die Zeit, zur der er jeden Morgen das Haus verließ, um ins Büro nach München zu fahren. Es gab keinen Anlass, das nicht heute auch zu tun. Zwanzig Minuten später würde Anita die Kinder mit dem Wagen in die Schule bringen, und jeder hätte dann seinen eigenen Alltagstrott zu bewältigen, bis sie am Abend wieder alle beim Abendessen zusammentreffen würden. Eigentlich seltsam, überlegte Henry. Die meiste Zeit verbringe ich während der Woche mit meiner Familie am Küchentisch. Aber dann tröstete er sich damit, dass andere Väter noch nicht einmal diese Zeit erübrigen konnten.
 
Er verabschiedete sich von jedem, so wie er das jeden Morgen tat, nahm seinen Aktenkoffer und verließ das Haus. Als er in den Wagen stieg, den er immer in der Einfahrt abstellte, nahm er sich noch vor, endlich mal den Ölstand zu kontrollieren.

2. Fehlfunktion in der Druckerei

 

Bernd Take arbeitete in einer Druckerei. Er war Schichtleiter und hatte heute die Nachtschicht gehabt. Nachtschicht, das hieß: Um 22 Uhr mit der Arbeit beginnen und um 5 Uhr morgens aufhören. Viele Leute hassten die Nachtschicht, er nicht. Nach einer Nachtschicht hatte er fast den ganzen nächsten Tag zur freien Verfügung, weil er erst um 17 Uhr wieder zum Arbeiten anfangen musste. Da konnte man einiges unternehmen, was besonders in den Sommermonaten schön war, zumal er sehr gerne segelte, was unter der Woche schon deshalb ein Erlebnis war, weil der See dann immer relativ leer war. An den Wochenenden bevölkerten Zehntausende von Münchnern die Ufer des Starnberger Sees und hunderte von Booten ließen sich über das Wasser tragen, so dass man kaum in Ruhe segeln und vor sich hinträumen konnte. Insofern war ihm die Nachtschicht überhaupt nicht unangenehm. Doch heute war er wirklich geschafft.

 

Angefangen hatte es bereits kurz nach Mitternacht. Sie druckten eine der großen Tageszeitungen, und da war alles auf die Minute geplant. Jeder Handgriff musste sitzen, jede Druckmaschine ihren Dienst tun und nichts durfte schief gehen, damit die Zeitungen rechtzeitig ausgeliefert werden konnten. Wenn nicht gerade ein Streik die Betriebsamkeit lähmte, war das in aller Regel auch der Fall. Aber heute Nacht hatte sich alles gegen ihn oder gegen den Verlag verschworen. Kurz nach Mitternacht blieben alle Druckmaschinen ohne Vorwarnung auf einen Schlag stehen. Die Kontrollinstrumente zeigten keinerlei Fehlfunktion an. Zunächst dachte er an einen Stromausfall, verwarf diesen Gedanken jedoch gleich wieder, denn selbst ein Stromausfall hätte keinen Schaden anrichten können, da alle Maschinen an die Notstromversorgung angeschlossen waren, die bei einer Fehlfunktion des öffentlichen Stromnetzes dafür sorgte, dass die Maschinen problemlos weiterlaufen konnten. Was Bernd noch mehr erstaunte als der plötzliche Stillstand, war die Tatsache, dass die Kontrollinstrumente so taten, als sei gar nichts geschehen.

 

Auch der Servicetechniker war ratlos, wälzte in panischer Geschäftigkeit die Handbücher und drückte hilflos wie ein kleines Kind auf den zahlreichen Tasten herum. Aber nichts rührte sich mehr. Er schimpfte über die moderne Elektronik, die alles nur verkompliziert hätte, ohne wirklich eine echte Hilfe zu sein. Natürlich sei alles schneller geworden, gab er zu, aber auch wesentlich anfälliger. Schließlich kam er zu der Überzeugung, dass sich die Druckwalzen verklemmt hätten, obgleich er sich nicht erklären konnte, warum alle auf einmal und gleichzeitig aufgehört hatten, sich zu drehen und die Instrumente nichts anzeigten. Der Techniker inspizierte jede Walze, konnte aber nichts finden. Er mochte wohl gut eine halbe Stunde herumprobiert haben, als ihm endgültig der Kragen platzte.

 

“Verdammtes Scheißding!“, rief er und rüttelte wie ein Wahnsinniger mit der Hand an einer Walze herum. “Hier, friss mich!“, schrie er und steckte seine Hand zwischen zwei Walzen.

 

Was dann geschah, wird vermutlich genauso unerklärlich bleiben, wie der plötzliche Stillstand. Als hätte die Druckmaschine nur auf das dargereichte Futter gewartet, begann sie mit einen Ruck wieder zu arbeiten. Hans Eda, der Techniker, war so perplex, dass er seine Hand nicht mehr rechtzeitig aus der Walze ziehen konnte und diese wie von einem Sog hineingezogen und zerquetscht wurde.

 

Bernd begriff momentan gar nicht, was geschehen war. Erst als die Schmerzensschreie von Hans Eda das Getöse der Druckmaschinen übertönten, wachte er auf, rannte zum Zentralschalter und stellte ihn auf Stopp. Langsam ließ er die Walzen rückwärts laufen, um so die zerquetschte Hand von Eda wieder frei zu bekommen. Er war sich sicher, dass er den Anblick, der sich ihm bot, nie wieder vergessen würde. Die Hand war regelrecht zu Brei zerdrückt, und überall spritzte das Blut herum. Einige seiner Mitarbeiter, die die Schreie gehört hatten, waren mittlerweile herbeigeeilt, standen aber nur herum, weil sie vor Schreck und Hilflosigkeit unfähig waren, etwas zu unternehmen.

 

"Los schnell!", schrie Bernd Take. “Einer ruft den Notarzt und einer holt den Erste-Hilfe-Kasten!"

 

Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie den Erste-Hilfe-Kasten aufbekommen hatten, weil der Griff klemmte, da er zum letzten Mal vor zwei Jahren benötigt worden war. Das war bei der jährlichen Werkskontrolle wohl untergegangen. >Die modernste Elektronik im Haus, aber wenn man Verbandsmaterial braucht, dauert das Stunden<, dachte Bernd. Als sie ihn schließlich geöffnet hatten, fanden sie nur wenige Mullbinden darin. Was sollte man hier auch noch groß verbinden? Die Hand musste ohnehin amputiert werden, da war sich Bernd sicher. Er band den Arm von Hans Eda oberhalb des Ellbogengelenks ab und wickelte, mehr zu seiner Beruhigung als zur Ersten-Hilfe-Versorgung, die paar Mullbinden vorsichtig um das zerquetschte Fleisch. Was anderes konnte er wirklich nicht tun. Schließlich gab er Eda, der halb bewusstlos vor sich hinwimmerte, ein paar schmerzstillende Tabletten und brachte ihn mit einigen Mitarbeitern zur Liege im Ruheraum.

 

Wie hatte das passieren können? So sehr er auch überlegte, es gab einfach keine Erklärung dafür. War Eda zu unvorsichtig gewesen? Natürlich weiß jeder, dass man die Hand nicht zwischen die Druckwalzen stecken darf, aber doch nicht, wenn alles stillsteht! Bernd überlegte, ob er die Polizei rufen sollte. Eigentlich waren sie angewiesen, bei schweren Betriebsunfällen die Polizei zu benachrichtigen. Im Augenblick hatte er jedoch einfach keine Lust dazu. Was sollte er ihnen auch erzählen? Er beschloss, so lange zu warten, bis der Notarzt wieder abgefahren war.

 

Der Sanitätswagen traf kurz vor dem Notarzt ein. Die Untersuchung dauerte keine Minute. Eda wurde nur an den Tropf angeschlossen, zum einen, um seine Schmerzen zu lindern, zum anderen, um sein Herz und seinen Kreislauf zu unterstützen. Nebenbei ließ sich der Arzt von Bernd erzählen, wie das alles geschehen war.

 

"Ja“, meinte er am Schluss, “kein Beruf ist ohne Risiko. Im Krankenhaus werden sie die Hand mit Sicherheit amputieren müssen. Da ist nichts mehr zu machen. Hätte noch schlimmer ausgehen können, wenn Sie nicht so schnell reagiert und die Maschine gleich gestoppt hätten."

 

Bernd fragte sich, ob er tatsächlich schnell reagiert hatte. Er war sich, ehrlich gesagt, sehr langsam vorgekommen. Aber in solchen Situationen verliert der Mensch rasch den Zeitbegriff, und Sekunden kommen einem dann leicht wie Minuten vor. Alle waren geschockt von dem tragischen Unfall, keiner dachte mehr an die unerklärliche Fehlfunktion der Druckmaschinen und keiner dachte mehr daran, dass die Maschinen, die Bernd abgeschaltet hatte, immer noch standen. Bernd fiel die ungewöhnliche Ruhe als erstem auf.

 

"Verdammt. Die Maschinen, sie stehen immer noch still! Los, schnell wieder einschalten! Wir sind ohnehin hoffnungslos hinterher und kommen viel zu spät raus. Das wird Ärger geben."

 

Einer der Mitarbeiter legte den Hauptschalter um, und die Maschinen nahmen ihre Tätigkeit auf, als sei nie etwas geschehen. Das war nachts um 1 Uhr 25. Sie verzichteten heute alle auf ihre Zwischenpausen, was an sich völlig unsinnig war, da sie die Maschinen in diesen Pausen ohnehin nicht abstellen konnten. Die verlorene Zeit war keinesfalls mehr einzuholen, aber alle fanden es irgendwie beruhigend, für den Zeitverlust, der ohne ihr Verschulden entstanden war, ein paar Minuten ihrer Freizeit zu opfern.

 

Bernd fiel ein, dass er es durch den ganzen Trubel immer noch versäumt hatte, die Polizei zu benachrichtigen. Dieses Versäumnis würde wahrscheinlich mehr Ärger geben, als die Verspätung, mit der die Zeitungen den Verlag verlassen würden. Im Moment war ihm das aber ziemlich gleichgültig. Er war ehrlich gesagt von dem schrecklichen Unfall immer noch geschockt und wollte jetzt mit niemandem darüber sprechen, schon gar nicht mit irgendeinem Kriminalbeamten, der nur dumme Fragen gestellt und auch keine Erklärung dafür gefunden hätte. Das einzige Ergebnis wäre gewesen, dass sie die Druckmaschinen vielleicht ganz still gelegt hätten und die Zeitung dadurch überhaupt nicht erschienen wäre. Vermutlich würde er Ärger mit der Berufsgenossenschaft bekommen, dafür aber keinen mit seinem Chef. Besonders dann nicht, wenn er ihm erklären würde, dass er sogar absichtlich übersehen hätte, die Polizei zu benachrichtigen, um dadurch nicht eine noch größere Verzögerung zu verursachen. Und Ärger mit seinem Chef wäre viel schlimmer gewesen, als der von irgendeinem Angestellten der Berufsgenossenschaft.

 

Er ging in die Kantine, nachdem er sich überzeugt hatte, dass alle Maschinen wieder einwandfrei liefen und holte sich aus dem Automaten eine Tasse Kaffee. Eigentlich wäre ihm eher nach einem kräftigen Schnaps zumute gewesen, aber erstens gab es hier keinen und zweitens….

Sie hatten einmal einen Kollegen vor einigen Jahren aus dem Betrieb geschmissen, weil er in der Nachtschicht beim Schnapstrinken erwischt worden war. Genau genommen war er nicht erwischt, sondern von irgendjemandem denunziert worden. Man hatte leider nie herausgefunden, wer dieses Schwein gewesen war. Dabei war sein Kollege noch nicht einmal ein Schnapstrinker. Er hatte lediglich zwei Magenbitter zu sich genommen, weil er an diesem Tag unter starken Magenschmerzen litt und ihm dieses Getränk immer half, die Schmerzen schnell zu lindern. Trotzdem - er hatte einfach hochprozentigen Alkohol getrunken, als Schichtleiter damit die ganze Nachtschicht gefährdet, und das hatte für die Entlassung genügt.

 

Also schlürfte Bernd Take missmutig an dem Pulverkaffee herum. Er mochte diesen Pulverkaffee aus der Maschine zwar nicht besonders, aber der Tee schmeckte noch schlechter, und so hatte er sich für das kleinere Übel entschieden. Wenn er nach Hause käme, würde ihm seine Frau einen ordentlichen Bohnenkaffee kochen. Das würde ihn wieder für dieses Gebräu, das der Automat zusammenmischte, entschädigen.

 

Sie würden also die Hand von Eda amputieren, ganz wie er sich das bereits gedacht hatte. Er überlegte, welche Hand eigentlich zwischen die Walzen geraten war, die linke oder die rechte, und er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. In dem Augenblick, in dem es geschehen war, war es vollkommen unerheblich, ob es sich um die linke oder die rechte Hand handelte. Natürlich, man konnte mit einer Hand leben. Im Krieg hatten viele Männer eines dieser Gliedmaßen verloren, und alle hatten sich irgendwie arrangiert. Den meisten merkte man es gar nicht an, dass eine Hand fehlte. Und trotzdem: man war einfach kein vollwertiger Mensch mehr. Und was sollte ein Servicetechniker mit nur einer Hand machen? Kaum vorstellbar, dass man ihn in diesem Job weiter beschäftigen konnte. Bernd Take sah seine beiden Hände an und war froh, dass nicht ihm dieses Missgeschick widerfahren war. Er trank den Kaffee aus und warf den leeren Plastikbecher in einen eigens für Kunststoff vorgesehenen Abfallbehälter. Es war wieder Zeit, nach seinen Mitarbeitern zu sehen und den Arbeitsfortgang zu überprüfen.

 

Erst die Hälfte der Zeitung war gedruckt und es war bereits 3 Uhr und fünf Minuten. Die noch verbleibende Zeit würde niemals ausreichen, um die Ausgabe vollständig fertig zu stellen. Wenn alle Seiten gedruckt waren, mussten sie schließlich noch geschnitten und gefaltet werden, und es war ihm völlig klar, dass einige Menschen heute auf ihre gewohnte Morgenzeitung verzichten mussten. Bernd Take nahm sich eine Seite heraus. Die Menschen gingen immer davon aus, dass Leute, die in einer Verlagsdruckerei arbeiteten, schon längst alles wüssten, was in der Zeitung stand. Am Anfang, als er als junger Mann hier begonnen hatte, da war das tatsächlich der Fall gewesen. Er fühlte sich immer gut, wenn er die neuesten Meldungen wesentlich eher kannte, als all seine Freunde und Nachbarn. Aber mit der Zeit stumpft man ab, und es wird einfach uninteressant, laufend alles früher zu wissen als die anderen. Es war lange her, dass er eine Seite aus der Morgenausgabe herausgezogen hatte.

 

Schon wieder ein Tankerunglück. Die schottische Westküste wurde von einer Ölpest bedroht, deren Ausmaß im Moment noch nicht abzuschätzen war, weil man nicht absehen konnte, ob der Tanker ganz auseinander brechen würde oder ob es gelingen würde, ihn noch rechtzeitig zum Leerpumpen in ruhigeres Wasser zu ziehen. Eine Sturmkatastrophe in Sardinien. Ein so genannter Jahrtausendsturm. Und so ging es mit den Horrormeldungen weiter. Jeden Tag das Gleiche. Wenn es kein Tankerunglück war, dann fanden die Redakteure bestimmt irgendeine andere Schreckensmeldung, mit der sie die Menschheit schockieren und die Verkaufszahlen auf dem gewohnt hohen Niveau halten konnten.

 

Er zerknüllte die Seite der Zeitung und warf sie in einen Papierkorb. Es lohnte sich wirklich nicht mehr, die Meldungen früher zu kennen als alle anderen. Es lohnte sich eigentlich nicht einmal mehr, überhaupt noch Meldungen zu lesen. Die meisten waren negativ und der Rest oft gelogen. Aber wen interessierte das schon? Die Hauptsache war, dass die Leserschaft gehalten werden konnte. Alles andere war Nebensache. Insgeheim freute er sich, dass heute einige Menschen auf die gewohnte Morgenzeitung würden verzichten müssen. Er stellte sich vor, wie sein Nachbar, der in jeder Beziehung ein Pedant war, zum Briefkasten ging, um die Zeitung zu entnehmen und nur in ein leeres Loch starrte. Wahrscheinlich würde er mehrmals überprüfen, ob er sich nicht etwa getäuscht hätte. Aber dann würde er bestimmt umgehend beim Zusteller anrufen und sich beschweren. Anschließend würde er übelgelaunt sein Frühstück zu sich nehmen, und den Tag als einen seiner schlechtesten im Kalender verzeichnen.

 

Bernd ging seine Runde und überprüfte jedes Kontrollinstrument. Alles lief einwandfrei. Sämtliche Funktionen waren so, wie sie sein sollten und wie sie in der Regel auch immer waren. Aber wehe die Regel wurde einmal durchbrochen, so wie das vor wenigen Minuten noch der Fall gewesen war. Alles lief dann einfach schief. Wir können eben ohne Regel nicht mehr leben, dachte er. Ohne Regel sind wir hilflos, weil wir uns immer nur auf die Regel verlassen. Uns ist der natürliche Umgang mit dem Spontanen völlig verloren gegangen.

 

Er blickte auf die Uhr. Noch ein paar Sekunden, dann würde es 3 Uhr 30 sein. Die Zeit verging langsam und reichte bei weitem doch nicht aus, um die verlorenen Stunden wieder gutzumachen. Bernd Take sah, wie der Sekundenzeiger auf die volle Minute vorrückte und dann einfach stehen blieb. Punkt 3 Uhr 30. Gleichzeitig setzten sämtliche Rotationsmaschinen aus. Ein kurzes Quietschen der Zylinder, und alles war ruhig. Gespenstisch ruhig. Bernd blickte zwischen seiner stehen gebliebenen Uhr und den stehen gebliebenen Druckmaschinen hin und her. Ihm stockte der Atem und das Blut staute sich im Magen. Seine Armbanduhr, batteriebetrieben und die Druckmaschinen, vom öffentlichen Stromnetz versorgt, waren beide zur gleichen Zeit stehen geblieben. So etwas hatte er einfach noch nicht erlebt. Er war so fasziniert davon, dass er noch gar nicht richtig begriffen hatte, dass sich die Verteilung der Zeitung dadurch noch weiter verzögern würde.

 

“Chef, Chef, was machen wir jetzt? Die Maschinen stehen schon wieder!“

 

Der Ausruf eines seiner Mitarbeiter holte ihn von der Faszination wieder in die Realität zurück.

 

“Kontrollinstrumente überprüfen und nachsehen, weshalb die Notstromaggregate nicht angesprungen sind!“

 

Zwei Mitarbeiter begannen mit der Überprüfung der Kontrollinstrumente und einer rannte in den Keller, wo sich die Notstromaggregate befanden, welche die unterbrechungsfreie Stromversorgung bei einem Netzausfall übernehmen sollten. Aber diese Mistdinger standen tatsächlich still und taten so, als ob sie die ganze Situation nichts angehen würde. Selbst das Umschalten auf manuellen Start brachte nichts. Die Aggregate ließen sich einfach nicht in Bewegung setzen. Allmählich entbrannte in Bernd Take ein unbeschreiblicher Zorn. Eine Nacht wie die heutige war ihm in den vielen Jahren seiner Tätigkeit noch nie untergekommen. Er hatte auch noch nie gehört, dass es jemals innerhalb weniger Stunden zwei Unterbrechungen gegeben hätte. Das einem anderen zu erklären, war nicht einfach, obwohl es gar nichts zu erklären gab. Die Maschinen waren eben zweimal stehen geblieben, und damit basta. Seine beiden Mitarbeiter, welche die Überprüfung der Instrumente übernommen hatten, trafen fast gleichzeitig bei ihm ein.

 

“Alle Instrumente zeigen völlig normale Funktionen an. Das ist einfach verrückt. Die tun so, als liefen die Maschinen störungsfrei weiter. Chef, das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen“, meinte einer seiner Kollegen.

 

Und der andere konnte diese Aussagen nur bestätigen. Sie standen vor einem Rätsel. Wenig später kam der dritte Kollege, völlig außer Atem, weil er offensichtlich gerannt war, aus dem Keller herauf.

 

“Sie werden staunen Chef“, schrie er schon von weitem, “die Notstromaggregate stehen vollkommen still. Die sind einfach nicht angesprungen, trotz des Stromausfalls. Und per Hand sind sie auch nicht zu starten. Heute geht aber auch alles schief.“

 

“Warum sollten sie auch anspringen“, antwortete Bernd Take nachdenklich und frustriert zugleich. “Wir haben keinen Stromausfall. Schaut mal auf das Licht! Das brennt ganz normal weiter. Also ist auch Strom vorhanden. Irgendetwas hat es lediglich auf unsere Druckmaschinen abgesehen. Wir werden die Lösung dieses Rätsels kaum finden. Der Servicetechniker hat es vorhin schon versucht und wäre dabei fast draufgegangen. Wir können nur eines machen: Warten und hoffen, dass die Maschinen von alleine wieder anspringen, so wie sie es schon einmal getan haben. Was anderes bleibt uns nicht mehr übrig. Auf alle Fälle muss ich jetzt unseren Verlagsleiter anrufen und ihm klarmachen, dass es heute keine Zeitung geben wird. Mein Gott, jetzt um diese Uhrzeit und dann auch noch mit einer solchen Nachricht. Da wird Freude aufkommen. Aber es hilft nun einmal nichts.“

 

Er ging in sein Büro, nahm schwerfällig den Hörer vom Telefon und begann, langsam die Nummer seines direkten Vorgesetzten zu wählen. Komisch, überlegte er sich dabei, ich habe keinem erzählt, dass meine Armbanduhr genau zu der Zeit stehen geblieben ist, als auch die Druckmaschinen aufhörten, zu arbeiten. Während im Telefonhörer das Freieichen ertönte, dachte er darüber nach, wie er ihm am besten die ganze beschissene Situation erklären konnte.

3. Das erste Aus im Krankenhaus

 

 Hans Eda wurde im Ambulanzwagen in eine Unfallklinik gebracht. Es ging ihm nicht gut, und so bekam er kaum mit, was sich um ihn herum abspielte. Sein Kreislauf war äußerst schwach und selbst die kreislaufstärkenden Mittel brachten keine spürbare Besserung. Der Arzt in der Notaufnahme des Krankenhauses, Doktor Breuer, schob dies auf den relativ hohen Blutverlust, den Eda erlitten hatte sowie auf einen vermutlich ohnehin nicht besonders starken Kreislauf. Er sah sich die zerquetschte Hand genau an und auch ihm war klar, dass sie wohl kaum an einer Amputation vorbeikommen würden. Trotzdem ordnete er eine Röntgenuntersuchung an, zum einen, um sich wirklich Sicherheit zu verschaffen, zum anderen, um zu sehen, wie weit die Verletzungen in den Unterarm hineinreichten.

 

Jede Nacht, wenn er Dienst tat, war es das gleiche: Unfälle, Unfälle und nochmals Unfälle. Am häufigsten waren die Autounfälle. Dann kamen Verletzungen, die von irgendwelchen Schlägereien herrührten, und an dritter Stelle lagen die Unfälle im Haushalt, aber die waren  schon seltener. Jedenfalls um diese Uhrzeit. Tagsüber sah das schon anders aus. Einen Arbeitsunfall, noch dazu während der Nacht, hatte er schon ewig nicht mehr gehabt. Wer arbeitet auch schon nachts? Außer den Ärzten lediglich ein paar weitere armselige Würstchen, auf deren Dienst die Menschen selbst nach dem in den meisten deutschen Unternehmen üblichen Arbeitsende nicht verzichten konnten.

Armer Kerl, dachte er, hat Nachtschicht geschoben, damit die anderen am Morgen gemütlich beim Kaffee ihre Zeitung lesen können.

 

“Doktor, Doktor!“ Die Schwester kam hereingestürmt. “Kommen Sie schnell! Der Kreislauf sinkt immer weiter ab!“

 

"Verdammt! Wer hat heute Nachtdienst in der Chirurgie?“

 

“Ich glaube Doktor Mackens.“

 

“Rufen Sie ihn sofort an. Er soll eine Notoperation vorbereiten. Wir müssen amputieren! Ich komme gleich zu ihm rüber. Ich besorge nur die Röntgenaufnahmen."

 

Während die Schwester zu Doktor Mackens losrannte und ihn kurz aufklärte, damit dieser die erforderlichen Vorbereitungen treffen konnte, eilte Breuer in die Röntgologie, um die Aufnahmen zu holen.

 

“Warum dauert das denn heute wieder so lange?“, fuhr er die Röntgenschwester an. “Los, schnell, ich brauche die Bilder von dem zerquetschten Arm, den wir gerade hereinbekommen haben!“

 

“Es geht eben einfach nicht schneller. Wir müssen nun einmal erst entwickeln und fixieren“, antwortete die Schwester mit leicht beleidigtem Unterton.

 

“Na und, wie weit sind sie jetzt?“, drängte Breuer unbeirrt weiter.

 

“Die Aufnahmen sind gerade im Fixierbad. Eine Minute müssen Sie schon noch warten.“

 

Breuer hasste es, zu warten. Ganz gleichgültig worauf. Das ganze Leben bestand aus Warten. Und vor allem, wenn es schnell gehen sollte, gerade dann wartete man natürlich besonders lange. Vor zwei Wochen musste er bei einem Patienten mit einer Schädelfraktur warten, weil der Chirurg noch mit einer anderen Operation beschäftigt war. Als es dann endlich so weit war, starb der Patient, bevor er den Operationssaal erreicht hatte. Es war eben einfach viel zu wenig Personal im Krankenhaus, was vor allem nachts zu einem echten Problem werden konnte, weil dann ohnehin nur eine Schmalspurbesetzung Dienst tat. Jeder wusste das, aber keiner unternahm etwas dagegen. Man hörte immer nur, dass keine Leute zu bekommen seien, obwohl gerade jetzt eine Ärtzeschwemme noch nie da gewesenen Ausmaßes das Land überflutete. In Wirklichkeit wollten alle nur sparen und möglichst viel Profit aus dem Geschäft mit der Krankheit schlagen.

Nach einer Minute Wartezeit wurde es Breuer zu dumm. Er ging selbst zum Fixierbad und nahm die Aufnahmen heraus.

 

“Halt, die müssen doch noch ins Wasserbad!“, protestierte die Schwester.

 

“Scheiß aufs Wasserbad. Wenn ich wieder Zeit habe, komme ich zurück, und dann können wir zusammen ein Wasserbad nehmen, wenn Sie unbedingt so scharf darauf sind.“

 

Die Schwester staunte ihm mit offenem Mund nach und war sich nicht sicher, ob sie sich ärgern oder geschmeichelt fühlen sollte. Als Breuer in den OP-Saal kam, war schon alles für die Operation vorbereitet. Mackens, der die Operation durchführen sollte, war ein sehr ruhiger und zuverlässiger Chirurg. Sie studierten zusammen die Röntgenbilder und kamen dabei zu der Auffassung, dass man den Arm kurz unterhalb des Ellbogengelenks abtrennen müsste. Breuer selbst übernahm nur eine assistierende Funktion. Er war kein Chirurg, sondern Internist und als solcher auf die Gerätemedizin spezialisiert. Den Dienst in der Notaufnahme schob er nur deshalb, um Geld hinzuzuverdienen und dadurch möglichst schnell die Schulden abzutragen, die durch den Kauf einer Eigentumswohnung entstanden waren. Seine Frau schimpfte zwar, weil er auf diese Weise kaum seine Kinder zu Gesicht bekam, aber schließlich war sie es gewesen, die auf dem Kauf bestanden hatte. Der Kreislauf von Eda war immer schwächer geworden.

 

“Besser, wir schließen ihn an die Herz-Lungen-Maschine an“, empfahl Breuer. “Das entlastet sein Herz, und wir können die Atmung unterstützen oder notfalls komplett übernehmen.“

 

Mackens nickte zustimmend, und während dieser seine Instrumente überprüfte und nochmals zurechtlegte, erledigte Breuer seine Arbeit, die schon einigen Patienten das Leben gerettet hatte. Als Mackens die Operation begann, war es 3 Uhr 25. Er war ein begnadeter Operateur, und schon alleine die Art und Weise, auf die er das Skalpell führte, hätte einem Patienten, der davon etwas verstanden hätte, Vertrauen eingeflößt.

Die notwendigen Schnitte waren schnell getan, als sich Mackens von der OP-Schwester die Knochensäge reichen ließ. In dem Augenblick, als er die Säge ansetzte, flackerte die OP-Leuchte kurz auf und verlöschte. Gleichzeitig fielen alle medizintechnischen Geräte aus. Es war fast stockdunkel im Raum. Lediglich durch die Oberfenster im OP-Saal schimmerte das Ganglicht hindurch, was man jedoch erst bemerkte, als sich die Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten. Alle waren im Moment sprachlos und zeigten keinerlei Reaktion. Als erster begriff Breuer die Situation.

 

“Mensch, wir haben einen Totalausfall aller Geräte. Das hat es ja noch nie gegeben. Was ist bloß mit den Notstromaggregaten los? Wir brauchen sofort Strom! Das gibt es doch nicht! Ich kann hier nichts mehr überwachen. Strom her verdammt und zwar schnell! Wir verlieren ihn, wenn nicht sofort etwas geschieht!“

 

Eine Schwester rannte los, um den Hausmeister über den Stromausfall im OP und das Versagen der Notstromversorgung zu informieren. Wegen der Dunkelheit übersah sie ein Kabel, stolperte und fiel hin. Sie schrie kurz auf und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Telefon. Wie sich später herausstellte, hatte sie sich bei diesem Missgeschick einen Zeh gebrochen.

 

Inzwischen waren alle um den Patienten bemüht, was ohne Licht ein hoffnungsloses Unterfangen war. Mackens musste die Operation unterbrechen und schrie wie ein Verrückter nach Licht. Breuer versuchte im Halbdunkel die Herzfunktion von Hans Eda zu überprüfen und stellte fest, dass in den nächsten Sekunden der Herzstillstand eintreten würde, wenn die medizintechnischen Geräte nicht sofort wieder anlaufen würden. Doch die Stromversorgung sollte an diesem Abend und in diesem OP-Saal nie wieder zurückkommen. Der Patient starb in den nächsten Minuten, ohne das Bewusstsein erlangt zu haben. Die Ärzte mussten dabei, zur Hilflosigkeit verdammt, zusehen.

 

Breuer ging erschöpft in sein Zimmer und goss sich aus der immer bereit stehenden Kanne eine Tasse Tee ein. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Zeiger standen auf 3 Uhr 30. Er schüttelte verwundert den Kopf. Um 3 Uhr 25 hatten sie zum Operieren begonnen. Ungefähr fünf Minuten später war dann der Stromausfall eingetreten. Aber was sollte das mit seiner Armbanduhr zu tun haben? Inzwischen war aber eine ganze Zeit vergangen. Seine Uhr konnte also definitiv nicht mehr stimmen. War die Batterie einfach leer? Merkwürdig war nur, dass sie exakt zu der Zeit stehen geblieben war, als auch der Strom ausfiel. Ein äußerst seltsamer Zufall. Er blickte nochmals gebannt auf den Sekundenzeiger. Er bewegte sich keinen Millimeter.

 

Breuer überlegte: Es war doch gar nicht so lange her, dass er die Batterie gewechselt hatte. Er konnte sich noch genau daran erinnern, weil er die kleine Schraube, welche die Batteriehalterung sicherte, mit einem alten Skalpell gelöst hatte. Mackens war damals gerade hereingekommen und hatte gefragt, ob er bei der Operation assistieren sollte. Das war ungefähr vor sechs Wochen gewesen. Die letzte Batterie hatte fast zwei Jahre gehalten. Also hatte er entweder eine minderwertige Qualität erhalten oder die Uhr war einfach kaputt. Trotzdem: Komisch, dass sie gerade zu dem Zeitpunkt stehen geblieben war, zu dem auch der Stromausfall die Geräte außer Funktion gesetzt hatte.

 

Der arme Kerl den sie gerade auf dem Operationstisch verloren hatten, tat ihm wirklich leid. Natürlich - sie hätten ihm die Hand amputieren müssen, und es wäre für ihn mit Sicherheit eine große Umstellung geworden. Aber er hätte überlebt, daran bestand absolut kein Zweifel. Viele Menschen lebten mit nur einer Hand und auch, wenn sein Kreislauf sehr schwach gewesen war, ein Grund für einen Exitus war das auf gar keinen Fall. Im Prinzip ist eine Amputation eine reine Routinearbeit. Klar - es geschah immer wieder, dass Patienten eine Operation nicht überstanden. Doch lagen hier in aller Regel schwerwiegende Krankheiten zugrunde mit ohnehin geringen Überlebenschancen. Hans Eda war nicht Opfer ärztlichen Versagens oder eines medizintechnischen Mangels geworden, sondern Opfer einer fehlenden Stromversorgung. Das muss man sich mal vorstellen! Wie konnte man dies denn der Familie begreifbar machen? Das würde eine schwierige Aufgabe werden. Er war heilfroh, dass nicht er derjenige war, der dies zu erklären hatte, sondern der arme Mackens.

 

Wir beherrschen heute eine ganze Menge, dachte sich Breuer. Wir sind sogar oft genug in der Lage, den Tod geschickt zu überlisten. Aber auch ein noch so guter Arzt kann nichts mehr tun, wenn die Technik versagt. Und die ganze Technik ist abhängig vom elektrischen Strom. Ohne ihn sind wir hilflos, jedenfalls in der modernen Medizin. Das war ihm heute wieder einmal so richtig bewusst geworden. Wir haben uns von Geräten völlig abhängig gemacht. Und das Schlimmste ist: Wir wollen diese Abhängigkeit nicht mehr missen. Wir brauchen sie sogar mehr denn je, denn ohne Gerätemedizin ist ein Krankenhaus nicht mehr konkurrenz- und damit überlebensfähig. Und je mehr und je besser die Geräte, desto besser die Kompetenz eines Krankenhauses. Das ist doch die weitläufige Meinung.

4. Der Komet

 

 Als Henry Kimm nach Hause fuhr, war er froh, dass der Tag endlich vorüber war. Wie erwartet, hatte er sich während des Vortrags entsetzlich gelangweilt. Erstens, weil er ihn nicht interessierte und zweitens, weil ihm die Ereignisse des frühen Morgens den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen waren und er sich nicht richtig konzentrieren konnte. Er hatte keinem etwas davon erzählt, schon alleine nicht, um sich nicht lächerlich zu machen. Obwohl, das musste er zugeben, er nahe daran gewesen war, den anderen davon zu erzählen. Das war, als mitten im Vortrag die Lautsprecheranlage plötzlich ausfiel. Der Vortrag wurde unterbrochen, was einerseits eine Erholung war, ihn aber andererseits noch mehr in die Länge zog.

 

Der Hausmeister wurde gerufen, um den Fehler zu beheben. Er überprüfte sämtliche Anschlüsse, Leitungen und Sicherungen, konnte aber keinen Fehler finden. Alles war perfekt und mit Hilfe des Phasenprüfers stellte er fest, dass auch Strom in den Leitungen war. Selbst, als das Mikrofon ausgetauscht wurde, blieb die Lautsprecheranlage weiter stumm.

 

Als man sich bereits dazu entschlossen hatte, den Vortrag abzubrechen, was innerlich bei Henry Begeisterungsstürme hervorrief, knackte es deutlich vernehmbar in den Lautsprechern, und alles funktionierte wieder, als sei nie etwas geschehen. Also musste er bis zum bitteren Ende ausharren und geduldig warten, bis der Redner seinen zweifelhaften Vortrag endlich selbst abbrach.

 

Die Projektbesprechung am Nachmittag verlief besser, als er gehofft hatte, was eine absolute Seltenheit war. Sie kamen recht schnell zu positiven Ergebnissen, so dass er sich heute schon um kurz vor 19 Uhr auf den Heimweg machen konnte.

 

Henry Kimms Firma lag am Stadtrand im Süden Münchens. Dadurch benötigte er nur wenige Minuten, um die Autobahn zu erreichen. Die Heimfahrt war für ihn immer ein Stück Erholung. Für viele war der Weg ins Büro und wieder nach Hause ein fürchterlicher Stress. Ihm machte das gar nichts aus. Er liebte einfach Autofahren. Henry schaltete das Autoradio ein, lehnte sich bequem im Sitz zurück und konnte dabei herrlich entspannen. Er stellte das lnformationsprogramm an, um die Neuigkeiten des Tages zu erfahren. Was er allerdings heute hörte, ließ ihn ein wenig erschaudern.

 

Überall auf der Welt war es zu unerklärbaren Stromausfällen gekommen. Es wurde erst am Abend deutlich, dass die Ausfälle nicht lokal begrenzt waren. Jeder hatte den Fehler zunächst bei sich gesucht und auf diese Weise blieb es lange verborgen, dass weltweit Techniker und Ingenieure mit dem gleichen Problem kämpften. Natürlich hatte man gleich die besten Wissenschaftler bemüht, die auch erste Statements und Erklärungen lieferten. Interessanterweise kamen ziemlich viele zum gleichen Ergebnis. Sie gaben die Schuld einem Kometen, der momentan weit entfernt in der Galaxis an der Erde vorüber zog. Er hatte heute die größte Annäherung an die Erde vollzogen, und man war sich einig darüber, dass die Störungen morgen beseitigt seien.

 

Irgendwie gefiel Henry diese Erläuterung nicht. Er hatte zwar keine plausible Erklärung, aber er zweifelte diese Prognose an. Schon häufig hatten Kometen bereits eine wesentlich größere Annäherung an die Erde gehabt, ohne dass es deshalb zu Stromausfällen gekommen war. Natürlich, dachte er, nicht jeder Komet ist gleich, und wir wissen viel zu wenig von den Auswirkungen, die sie verursachen können. Trotzdem glaubte er nicht daran. Wahrscheinlich hatten eben auch die Wissenschaftler keine einleuchtende und fundierte Begründung und um sich keine Blöße zu geben, kam ihnen der Komet als Sündenbock gerade recht. Wir werden ja sehen, überlegte er, ob morgen wirklich alles ein Ende hat und alles normal läuft. Er hatte gerade die Hälfte des Heimwegs hinter sich, als unvermittelt der Motor seines Wagens zu stottern anfing.

 

“Verdammte Mistkarre“, schimpfte er, "jetzt fang Du nicht auch noch zu spinnen an.“

 

Doch die Mistkarre hörte nicht auf ihn und stotterte weiter. Der Wagen begann durch die Aussetzer des Motors aufzuschaukeln und Henry hopste über die Straße wie ein Ziegenbock über die Wiese. Noch wenige Takte, und der Motor stand gänzlich still. Henry steuerte an den Randstreifen der Autobahn und ließ den Wagen langsam ausrollen. Als er endgültig zum Stillstand gekommen war, versuchte er nochmals einen Neustart. Nichts bewegte sich. Irgendwie sprang der Zündfunke nicht über. Wutentbrannt stieg er aus, öffnete die Motorhaube, krempelte seine Ärmel hoch und begab sich auf die Fehlersuche.

 

Ein Glück wenigstens, dass es heute nicht regnet, tröstete er sich. Zunächst kontrollierte Henry die Kontakte der Zündspule. Hier war alles in Ordnung, zumindest so weit er das beurteilen konnte. Dann schraubte er die Zündkerzen heraus, um feststellen zu können, ob sich Öl oder verkrusteter Ruß angesetzt hatte. Doch auch das war nicht der Fall. Die Zündkerzen waren fast wie neu. Er prüfte alle Schrauben und alle Kontakte, die er erreichen konnte, reinigte sie mit einem alten Tuch, das er immer im Kofferraum für Notfälle mit sich führte und versuchte, den Motor erneut zu starten. Es hatte sich nichts verändert. Um die Batterie durch ständiges Anlassen nicht weiter zu schwächen, schaltete er schließlich die Zündung aus. Es blieb ihm nicht anders übrig, als den Straßendienst zu rufen. Dummerweise hatte er sein Handy in der Klinik vergessen. Also schloss er die Tür seines Fahrzeugs ab und orientierte sich, in welcher Richtung die nächstgelegene Notrufsäule lag. Dann marschierte er los.

 

Nachdem das deutsche Autobahnnetz gottlob sehr gut mit Notrufsäulen bestückt war, musste er nicht besonders weit laufen. Wie lange hatte er schon keine Notrufsäule mehr benötigt? Das letzte Mal war das zu seiner Studentenzeit der Fall gewesen, als er mit seinem halb selbst zusammengebastelten Auto auf der Straße liegen blieb. Ein Fiat 500 war das, der mehr durch die Farbe, die er draufgeschmiert hatte, zusammengehalten wurde, als durch das verrostete Blech. Aber das Ding fuhr, jedenfalls bis zu jenem Tag. Danach fuhr er nie wieder, weil der Mann vom ADAC, den er damals anrief, nichts mehr machen konnte. Er konnte deswegen nichts mehr machen, da es einfach nichts mehr zu machen gab. Der Motor war hinüber, und das war das Ende des Fiats gewesen.

 

An der Notrufsäule angekommen, musste Henry erst einmal erforschen, wie er den Hebel zu betätigen hatte, um eine Verbindung mit der Zentrale des Straßendienstes herzustellen. Es dauerte einige Sekunden, bis sich jemand in der Zentrale meldete. Henry erläuterte sein Missgeschick und bat um Hilfe, nicht ohne zu versäumen, peinlich genau seinen Standort anzugeben. Seine Freude, so schnell eine Verbindung erhalten zu haben, währte aber nur einen Moment.

 

“Es tut uns leid“, entschuldigte sich die Stimme in der Notrufsäule, “aber es wird einige Zeit beanspruchen, bis wir uns um Sie kümmern können. Fast die Hälfte unserer Servicewagen leidet im Moment unter dem gleichen Problem, das auch Sie haben. Wir haben absolut keine Erklärung dafür. Es kann Stunden dauern, bis wir bei Ihnen eintreffen. Vielleicht versuchen Sie, von einem anderen Autofahrer mitgenommen zu werden. Wahrscheinlich können wir das Problem ohnehin erst morgen lösen. Wir wurden darüber informiert, dass offensichtlich ein Komet die Elektrik völlig durcheinander bringt“.

 

Schon wieder dieser Komet! Selbst der Straßendienst führte ihn jetzt schon als Entschuldigung an. Immerhin, auch die Servicewagen hatte es also reihenweise erwischt. Henry war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, dass immer mehr Autos stotternd den Straßenrand anpeilten und stehen blieben. Erst die teils lautstarken Flüche einiger Pannenopfer brachten ihn wieder richtig in die Gegenwart zurück.

 

“Scheiß Komet!“

“Das haben sie jetzt von ihren blöden Raketen!“

“Wahrscheinlich wieder einmal die Russen!“

„Das hat bestimmt was mit der Umweltverschmutzung zu tun.“

 

Das waren ein paar der Äußerungen, die Henry mitbekam. Als er an seinem Wagen angelangt war, sperrte er die Tür nochmals auf, um wenigstens die wichtigsten Unterlagen mitzunehmen. Unterlagen, die er nochmals zu Hause durcharbeiten wollte, weil er morgen vor einem Gremium die Ergebnisse und den Stand seiner Projektarbeit präsentieren sollte. Er blieb ihm nichts anderes übrig, als tatsächlich zu versuchen, per Anhalter den Rest des nach Hause-wegs zurückzulegen. Er hasste das zwar, denn er war noch nie in seinem Leben per Anhalter gefahren, wusste aber auch keine andere Lösung.

 

Er packte die wesentlichen Unterlagen in eine Plastikhülle und wollte anschließend den Wagen wieder verlassen. Mehr, um noch einmal den Totalausfall seines Motors bestätigt zu kommen und weniger, um einen letzten Versuch zu wagen, betätigte er fast nebenbei erneut die Zündung. Ein kurzes Durchdrehen - und der Motor sprang an. Henry war sprachlos. Das konnte doch nicht sein! Vorsichtig gab er im Leerlauf etwas Gas. Es war einfach nicht zu glauben. Er wagte kaum zu atmen, vor Angst, lautes Atmen könnte den Motor erschrecken und ihn wieder zum Stottern bringen. Langsam legte er den Gang ein und fuhr wieder auf die rechte Fahrspur. Ganz sachte beschleunigte er. Erst jetzt bemerkte er, dass mittlerweile gut jedes zweite Auto am Straßenrand festlag. Teilweise mussten die Fahrer bereits die Fahrbahn als Parkstreifen mitbenutzen, weil die Standspur nicht mehr ausreichte.

 

Henry konnte nicht besonders schnell fahren, da immer wieder Wagen ausfielen und langsam an die rechte Seite rollten. Einige Auffahrunfälle hatten sich bereits ereignet, so dass die Wagen, die noch intakt waren, kleinere Staus verursachten. Er war froh, als er endlich das Autobahnende erreichte und in die Seitenstraße einbiegen konnte, wo der Verkehr deutlich nachließ. Ohne weitere Probleme traf er schließlich zu Hause ein. Seine Panne hatte ihn gut eine Stunde Zeit gekostet. Dennoch war seine Frau über sein spätes Eintreffen nicht überrascht, da sie ihn ohnehin erst später erwartet hatte.

 

“Ein Katastrophentag!“, begrüßte er Anita. “Hast du schon gehört, was auf den Straßen los ist?“

 

Anita hatte noch nichts gehört. Sie war den ganzen Nachmittag im Garten gewesen und hatte sich dem Kampf gegen das Unkraut in ihren Gemüsebeeten gestellt und deshalb von den vielen liegen gebliebenen Autos nichts mitbekommen. Henry erzählte ihr, was ihm und tausenden anderen passiert war.

 

“So, so, der Komet soll also schuld sein“, überlegte sie laut. “Ob er auch schuld daran ist, dass unsere Heizung nicht mehr funktioniert?“

 

“Wieso funktioniert die Heizung nicht mehr?“, wollte Henry wissen.

 

“Weiß ich auch nicht. Die Kontrolllampe des Brenners zeigt keinerlei Störung an. Aber das Ding geht eben einfach nicht mehr. Seit heute Vormittag schon“.

 

Dass die Heizung nicht lief, war an sich kein Beinbruch. Die kalte Jahreszeit war bereits vorüber und sie benötigten die Heizung eigentlich nicht mehr. Leider war an die Heizung aber auch die zentrale Warmwasserversorgung gekoppelt. Ein Ausfall bedeutet deshalb, dass im ganzen Haus kein warmes Wasser zur Verfügung stand.

 

“Dabei sollten heute Abend die Kinder baden!“, jammerte seine Frau.

 

Henry grinste. Auf der ganzen Welt spielte die Elektrik verrückt, und ihre einzige Sorge war, dass die Kinder heute nicht baden konnten.

 

“Morgen soll ja alles wieder vorüber sein“, versuchte er sie zu beruhigen.

 

“Glaubst du daran?“, fragte sie zweifelnd.

 

Was sollte er ihr antworten? Dass er alle Erklärungen nur als billige Ausreden empfand? Dass er der Meinung war, sämtliche Wissenschaftler der Welt würden die Menschheit bewusst anlügen, nur um ihr Gesicht nicht zu verlieren?

 

“Wir müssen abwarten“, sagte er. “Ändern können wir ohnehin nichts.“

 

Die Kinder kamen, um ihren Vater zu begrüßen.

 

“Papi, Papi, wir hatten heute einen Unfall!“ Michael sprang aufgeregt an ihm hoch.

 

“Ach Gott ja, das habe ich ja ganz vergessen, zu erzählen“, erinnerte sich Anita.

 

“Ach du liebe Güte, auch das noch. Einen Unfall mit Mamis Wagen? Ist euch was passiert?“

 

Henry merkte, dass seine Frage dumm war. Natürlich war ihnen nichts passiert. Im Gegenteil, alle sahen putzmunter aus.

 

“Nein nicht mit Mamis Wagen“, beruhigte ihn Hermann. “Mit dem Schulbus. Ein Auto scherte plötzlich aus einer Parklücke aus und als der Busfahrer hupen wollte, ging die Hupe nicht mehr. Zum Bremsen war es schon zu spät, und dann krachte es eben. Passiert ist niemandem etwas. Aber das Auto - ein VW Golf war es - ist völlig demoliert.“

 

“Na ja, das Wichtigste ist, das keinem etwas geschehen ist“, befand Henry. “Wisst ihr, vieles, das mit elektrischem Strom versorgt wird, funktioniert heute einfach nicht.“

 

“Stimmt“, bestätigte Patricia, “mein Brummbär brummt auch nicht mehr“.

 

“Das hat aber nichts mit dem Strom zu tun“, widersprach Michael.

 

“Eben doch“, beharrte Patricia auf ihrer Meinung. “Wenn man auf den Bauch drückt, brummt er normalerweise, und jetzt brummt er nicht mehr.“

 

“Der brummt, weil in seinem Bauch ein Blasebalg oder so was Ähnliches eingenäht ist. Wahrscheinlich hast Du ihn kaputt gemacht, weil Du immer mit der Faust darauf haust“, versuchte Hermann zu erklären.

 

“Nein, der geht nicht, weil kein Strom mehr da ist. Außerdem haue ich nicht darauf. Der bekommt höchstens einmal einen auf seinen Hintern, wenn er ungezogen war.“

 

Dass der Bär im Bauch wirklich nur einen Blasebalg hatte und das Brummen nicht von einer Batterie abhängig war, zog sie gar nicht erst in Erwägung. Wenn Patricia, beschlossen hatte, auf ihrer Meinung zu beharren, half auch kein noch so gutes Argument, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Alle kannten das, und deshalb unternahm keiner einen Versuch, ihr ein weiteres Mal begreiflich zu machen, dass die Fehlfunktion ihres Bären tatsächlich nichts mit den allgemeinen Stromausfällen zu tun hatte.

 

“Ich werde mir Deinen Bären nachher einmal ansehen. Vielleicht kann man ihn wieder reparieren. So jetzt wird es aber langsam Zeit, dass ihr ins Bett geht!“

 

Henry gab ihr einen Klaps auf den Po, um sie damit aufzufordern, den Gang in ihr Schlafzimmer anzutreten.

 

“Erzählst du uns noch eine Geschichte?“, bettelte Patricia.

 

Mit >uns< meinte sie sich, denn Michael fand Geschichtenvorlesen von Prinzip aus langweilig, weil das in seinen Augen ein typisches Mädchenverhalten war und Hermann fand sich schon lange zu alt dazu. Er las lieber noch selbst im Bett. Natürlich heimlich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Henry blieb das zwar nicht verborgen, ließ ihm aber den Spaß, da er sich noch genau an seine Kindheit erinnern konnte, als auch er wohl gut die Hälfte der Karl May Bände unter der Bettdecke verkonsumiert hatte. Das hatte vielen Batterien das Leben gekostet. Damals funktionierten sie noch, was man derzeit nicht behaupten konnte.

 

Das Wasser zum Zähneputzen machte seine Frau heute im Kessel warm. Wenigstens der Herd war betriebsfähig. Momentan jedenfalls noch. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn überall die Herde ausfielen. Für den Augenblick schob sie diesen Gedanken wieder beiseite. Sie hatten ja immer noch den Schwedenofen, auf dem man notfalls kochen konnte.

 

Als die Kinder endlich im Bett waren, was eine geraume Zeit beanspruchte, weil jedem in letzter Minute etwas anderes einfiel, um das lästige Schlafen möglichst lange hinauszuzögern, setzten sich seine Frau und er vor den Fernseher. Henry war gespannt darauf, was er alles über die Stromausfälle erfahren würde. Die Bilder, die gezeigt wurden, machten deutlich, dass die Folgen viel schlimmer waren, als er jemals vermutet hätte. In den Städten war es durch ausgefallene Ampeln und plötzlich versagende Motoren zu verheerenden Unfällen gekommen. Teilweise hatte es in den größeren Orten Massenkarambolagen mit hunderten von Toten gegeben. Die Rettungsdienste waren hilflos, einerseits aufgrund der riesigen Menge von Verletzten und Toten, andererseits, da die Rettungswagen selbst fast alle ihren Dienst versagt hatten. Viele Notärzte waren mit dem Fahrrad zu den Unfallorten gefahren, wo sie die Verletzten notdürftig versorgten, ohne zu wissen, wie sie die oft erforderlichen Transporte ins Krankenhaus bewerkstelligen sollten. Ähnliche Probleme hatte es mit dem Abtransport der Toten gegeben. Die wenigen Leichenwagen, die von Motorausfällen verschont geblieben waren, konnten die vielen Leichentransporte nicht bewältigen, so dass man gezwungen war, das Militär einzusetzen. Jede Menge Militärfahrzeuge blieben letztlich auch liegen und blockierten neben den normalen PKW’s zusätzlich die Straßen, was zur Folge hatte, dass der Verkehr restlos zusammenbrach. Das betraf nahezu alle kleineren und größeren Städte. Die Bundesregierung, die Länderparlamente und die Stadtverwaltungen wussten keinerlei Rat und waren nicht mehr in der Lage, irgendwelche sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, weil schlichtweg nichts mehr funktionierte. Das größte Problem blieb jedoch die Beseitigung der Leichen sowie der Krankentransport. In den Vordergrund gestellt wurde die Leichenbergung, da die Verletzten in den Krankenhäusern ohnedies nur eine notdürftige Versorgung erhalten konnten.

 

Die Krankenhäuser hatten nämlich mittlerweile ihre eigenen Probleme. Da überall die medizintechnischen Geräte ausgefallen waren, konnte man kaum mehr Operationen durchführen, geschweige denn Schwerverletzte optimal behandeln. Abgesehen davon gab es in den meisten Kliniken durch das Versagen der Medizintechnik Todesfälle nie dagewesenen Ausmaßes, so dass die Krankenhausärzte froh waren, nicht noch zusätzlich mit Unfallopfern belastet zu werden. Das Militär hatte begonnen, mitten in den Städten Feldlazarette aufzubauen, zu denen man die Verletzten überwiegend auf Bahren hintrug und versuchte, ihnen mit den beschränkten Mitteln der Militärmedizin zu helfen.

 

Neben dem Zusammenbruch des Straßenverkehrs mit all seinen schlimmen Folgen, stand auch der Schienenverkehr landesweit nahezu still. Viele Menschen waren in den Zügen, in den S- und U-Bahnen hängen geblieben und mussten den Heimweg zu Fuß antreten. Die Regierung empfahl, die Radioempfänger auf Sendung stehen zu lassen, da man stündlich über die aktuelle Lage informieren wollte. Auf jeden Fall sollten alle Berufstätigen bis zur Normalisierung der Situation zu Hause bleiben.

 

“Sehr witzig“, meinte Henry und lächelte bitter. “Die wissen noch nicht einmal, was es ist und sprechen von Normalisierung der Situation. Und dass wir morgen zu Hause bleiben, ist doch wohl selbstverständlich, wenn sich nichts ändert. Wie und womit sollten wir auch in die Arbeit fahren, wenn kein Verkehrsmittel mehr intakt ist? Ich bin ja gespannt, wie das noch weiter geht und wie lange es wirklich dauert, bis sich die Lage wieder normalisiert hat.“

 

Hätte Henry geahnt, dass es nie wieder eine normale Lage geben sollte, wäre er an diesem Abend mit Gewissheit nicht so ruhig geblieben.

Anita hatte beim Fernsehen gebügelt, teils, weil es ohnehin nicht zu umgehen war, teils, um damit die Nerven etwas zu beruhigen. Das machte sie immer, wenn sie etwas ansah, das sie aufregte.

 

“Komm, lass uns ins Bett gehen!“, forderte Henry sie auf. “Mir reicht es für heute.“

 

“Nur noch das eine Hemd, dann bin ich fertig.“

 

Anita legte sich den Hemdkragen zurecht und wollte gerade das Bügeleisen greifen, als Henry einen entsetzten Schrei tat.

 

“Nicht, um Gottes Willen, stell das Bügeleisen schnell zurück!“

 

Anita sah erst erstaunt auf ihren Mann, dann auf das Bügeleisen. Kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, ließ sie es erschrocken auf den Ablagerost fallen. Krachend fiel es auf das Gestell. Die Bügelfläche war orange-glühend. Durch die plötzliche Hitzeentwicklung begann der Teflonbelag, der diesen Temperaturen nicht gewachsen war, zu verdampfen, was einen unangenehmen Gestank erzeugte, der sofort einen brennenden Reiz auf die Nasenschleimhäute ausübte. Henry sprang auf und zog den Stecker. Er achtete dabei sorgfältig darauf, dem Bügeleisen nicht zu nahezukommen, da es inzwischen eine unerträgliche Hitze ausstrahlte, die alles zu verzehren drohte.

 

“Das war wirklich in letzter Minute“, atmete Anita erleichtert auf.

 

“Man kann der Elektrik momentan nicht trauen, in keiner Beziehung“, antwortete Henry. “Wir müssen in den nächsten Tagen mit allem ganz vorsichtig sein und dürfen kein elektrisches Gerät aus den Augen lassen. Nicht einmal mehr die Lampen.“

 

Dabei wunderte er sich, dass die Lampen überall noch brannten, während sie in den Operationssälen der Krankenhäuser auch durch noch so spitzfindige Techniker nicht mehr anzubekommen waren. Es schien, die Elektrik versagte zielgerichtet überall dort, wo irgendwie menschliches Leben davon abhing. Und das war in der modernen Zivilisation bei ziemlich vielen Dingen der Fall. Eigentlich fast bei allen. Das wurde einem erst richtig bewusst, wenn plötzlich alles versagte.

5. Das Wunder von Wien

 

 Als Helga Wollner den Motor startete, um zum Flughafen zu fahren, wo sie ihren Mann abholen wollte, war ihr bereits bekannt, dass die meisten Autos liegen geblieben waren und nahezu alle Straßen mehr oder weniger blockierten. Trotzdem wagte sie den Versuch, obwohl ihr klar war, dass sie sich damit der Gefahr aussetzte, entweder durch die verstopften Straßen oder durch den Ausfall des Motors irgendwo zwischen der Stadt und dem Flughafen stecken zu bleiben. Warum hatten sie auch den Flughafen so weit außerhalb Münchens gebaut? Früher, als der Flughafen noch in Riem war, war alles viel einfacher.

 

Sie wagte den Versuch schon deshalb, weil sie gehört hatte, dass auch die Züge nicht mehr fuhren und ihr Mann ohne sie wohl kaum eine Chance gehabt hätte, nach Hause zu kommen. Sie mied, so gut es möglich war, die Hauptstraßen und bahnte sich über wenig befahrene Nebenstraßen den Weg zur Autobahn, wo sie hoffte, leichter und schneller durchzukommen. Von Zeit zu Zeit war sie gezwungen, über den Gehweg ausweichen, da die Fahrer ihre Autos teilweise mitten auf der Straße stehen gelassen hatten. Die meisten Parkbuchten links und rechts waren schon vor der Störung belegt gewesen, und als die Motoren ausfielen, hatten dadurch viele keine Möglichkeit mehr gehabt, ihren Wagen so abzustellen, dass er den Verkehr nicht behinderte. Trotz dieses Handicaps gelang es Helga sogar in relativ kurzer Zeit, die Auffahrt zur Autobahn zu erreichen. Sie war so damit beschäftigt gewesen, die völlig blockierten Hauptstraßen zu umgehen, dass ihr noch gar nicht aufgefallen war, wie absolut störungsfrei der Motor ihres Wagens seinen Dienst tat. Erst jetzt, als sie in die Autobahn einfuhr, fand sie Zeit, sich darüber zu wundern. Sie war tatsächlich eine der wenigen Glücklichen, die sich wie gewohnt mit dem Auto fortbewegen konnten. Weshalb, dafür hatte sie keine Erklärung.

 

Hoffentlich bleibt das auch so, dachte sie bei sich und malte sich aus, was sie unternehmen sollte, wenn sie doch noch mitten auf der Strecke liegen bleiben würde. Wahrscheinlich müsste sie dann im Auto übernachten und darauf warten, ob sich am nächsten Tag irgendeine Mitfahrgelegenheit ergeben würde.

Natürlich standen auch auf der Autobahn hunderte, wenn nicht tausende von abgestellten Fahrzeugen. Doch die meisten hielten auf dem Seitenstreifen oder auf der rechten Fahrspur, wodurch sie einigermaßen bequem vorwärts kam.

 

Sie sah auf die Uhr. Um 8 Uhr 5 Minuten sollte die Maschine aus Bukarest landen. Also hatte sie noch eine knappe Stunde Zeit. Das war leicht zu schaffen, wenn alles weiter so lief wie bisher. Sie schaltete das Radio ein und lehnte sich entspannt zurück. Rudi wird Augen machen, wenn ich ihn abhole, dachte sie sich. Ob der in Rumänien

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 17.01.2014
ISBN: 978-3-7309-7644-9

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /