Ein wunderschöner Mittwoch Vormittag im April.
Gedankenverloren lief ich durch die Gänge meiner Schule, um zum Klassenraum für die nächste Stunde zu gelangen. Ich war so abwesend, dass ich überhaupt nicht merkte, was um mich herum geschah. Meine Gedanken hingen bei der letzten Stunde. Naja, bei einer Person aus der letzten Stunde. Luke. Groß, sportlich, gut aussehend, nett, lustig, clever, also der heimliche Traum eines jeden Mädchens. Wie auch meiner.
Und naja der Traum von Stacy, seiner Freundin. Mist. Wie sagt man doch so schön, Jungs sind wie Toiletten, entweder beschissen oder besetzt. In diesem Fall besetzt.
Ich achtete überhaupt nicht auf meinen Weg, da ich ihn so oft gegangen war, dass ich das Zimmer wahrscheinlich sogar mit verbundenen Augen finden würde. Chemie. Lustigerweise konnte man auch dem Geruch nachgehen. Unser alter Chemielehrer experimentierte für sein Leben gerne und führte uns allerhand vor. Bei seinen Versuchen ging aber auch immer jede Menge schief, doch er ließ sich nie aus der Ruhe bringen, sondern löste das Problem souverän und meist so, dass die Schüler viel zu lachen hatten. Vor einer Woche wollte er aus Buttersäure etwas zusammenbasteln, fragt mich nicht was, jedenfalls rührte er mit seinem Finger in dem Becherglas, um uns zu demonstrieren, dass Säure ätzt, organische Säuren aber nicht so stark. Irgendwie erschrak er sich und kippte das ganze Glas um, der Inhalt verteilte sich gleichmäßig über den Lehrerpult. Seitdem duftete es in der Nähe unseres Chemiesaals nach - nun ja - Buttersäure eben. Wisst ihr wie das riecht? Unser Lehrer meint es mieft nach alten Sportsocken, aber das trifft nicht ganz zu.
Jedenfalls lief ich gerade ziemlich zielstrebig auf unseren Chemiesaal zu und es begann nach Party zu duften, also wenn alle zu viel getrunken hatten und nicht mehr alles behalten konnten. So riecht Buttersäure - zumindest für mich.
Auf einmal prallte ich gegen eine Wand und verlor das Gleichgewicht. Welcher Trottel stellt mitten im Flur eine Wand auf?! Doch bevor ich relativ undamenhaft zu Boden ging, hielt mich die Wand fest und drehte mich zu sich um. Kurzzeitig lag ich in seinen Armen, blickte in sein lachendes Gesicht, aber dann stellte er mich wieder hin und grinste frech. Luke. Wenn man vom Teu... äh Engel spricht, hm?
"Wow, du hast ja schöne Augen", meinte er verwundert. Na danke. Aber irgendwie musste ich doch lächeln. Jetzt oder nie, dachte ich mir.
"Das Gleiche wollte ich zu dir auch gerade sagen, aber ich hätte es etwas poetischer ausgedrückt", grinste ich frech. Luke lachte verschmitzt und ging vor mir auf die Knie, ich blickte ihn einfach nur verdattert an.
"Oh Julia", begann er zu deklamieren. Habe ich schon erwähnt, dass wir in Englisch gerade Shakespeare durchnehmen? "du wolltest mir etwas gestehen?" Tief in meiner Brust entstand ein Kichern, nur mit Mühe konnte ich ernst bleiben. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, hob theatralisch die Arme und spielte mit.
"Oh Romeo, deine Augen sind so braun, ich möchte darin versinken. So braun wie das... Meer." Peinlich. Wenn man einen gescheiten Vergleich braucht, findet man natürlich nichts und es kommt nur Unsinn dabei heraus. Verlegen senkte ich den Kopf, damit er nicht sah, dass ich errötete.
"Oh Julia", schauspielerte er weiter und schien meine Befangenheit nicht zu bemerken. "Oh Julia, teile mir deine Weisheit mit. Welches Meer ist denn braun?" Doppelmist. Und was sage ich jetzt? Naja, dann eben improvisieren, das müssen Schauspieler doch auch.
"Oh Romeo, sag kennst du es nicht? Wie du weißt, gibt es das rote Meer und der Bereich um die Mündung in den Indischen Ozean wird braunes Meer genannt." Gott, redete ich einen Schwachsinn.
"Oh Julia, sag, warum denn braun?" Je mehr ich von mir gab, desto tiefer ritt ich mich rein. Es half nichts, ich musste weiter improvisieren.
"Oh Romeo, an der Mündung liegt die Stadt Dubai, die ihre Abwässer ins rote Meer leitet!"
Luke starrte mich einen Moment lang fassungslos an und brach dann in lautes Gelächter aus. Ich gebe ja zu, meine Begründung ist wirklich - kreativ. Wo Dubai genau liegt, weiß ich gar nicht, aber irgendwo da unten wahrscheinlich.
Doch irgendwie hatte Luke offensichtlich immer noch nicht genug Unsinn gehört, denn er setzte eine sehr ernste, fast schon traurige Miene auf.
"Oh Julia, vergib mir meine Unwissenheit. Wie kann ich das jemals wieder gut machen?" Und ohne nachzudenken gab ich ihm eine Antwort, die ich wahrscheinlich noch bereuen würde.
"Oh Romeo, ein Kuss. Gib mir einen Kuss und ich teile auch in Zukunft meine Weisheit mit dir." Scheibenkleister, was hatte ich nur gesagt. Luke stutzte kurz, griff sich dann meine Hand und hauchte einen sanften Kuss darauf. Peinlich berührt zog ich sie weg und sagte lachend: "Steh auf du Romeo."
Luke erhob sich und stand nun in voller Pracht äh Größe vor mir. Kurz blickte er zur Seite, schien zu überlegen, dann wendete er sich mir wieder zu, und stützte seine Hände links und rechts neben meinem Kopf an einem Pfosten ab. Also doch eine Wand. Egal. In diesem Käfig war ich nun gefangen. Verunsichert starrte ich in seine braunen Augen, konnte den Blick nicht mehr abwenden. Ich war wie gelähmt, weiß nicht, was hier passiert. Noch einmal zögerte er, dann küsste er mich sanft auf die Wange.
Sofort schoss das Blut in meinen Kopf und ich lief knallrot an. Luke ging einen kleinen Schritt zurück. So weit, dass wir uns nicht mehr berührten, ich aber immer noch seinen Duft inhalieren konnte, der mich beinahe um den Verstand brachte. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, ich starrte ihn verdattert an.
Plötzlich runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf, als ob er eine lästige Fliege vertreiben müsste. Dann sah er mich erneut an, aber das Lächeln war verschwunden. Er kniff die Augen zusammen, drehte sich um und ging.
Perplex lehnte ich immer noch an der Steinsäule, starrte Luke nach und wusste nicht, wie mir geschah.
Doch plötzlich bemerkte ich die Gesichter meiner Klassenkameraden, die mich immer noch anstarrten. Wut, Enttäuschung, Eifersucht und Abscheu spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder. Oh Mist, was hatte ich nur getan.
Verwirrt drehte ich mich um und ging zu meinen Freundinnen. In ihren Gesichtern las ich eigentlich nur eines: Verwunderung und ein bisschen Fassungslosigkeit. Stumm stellte ich mich neben sie und unbewusst fuhr meine Hand zur Wange. Er hatte mich geküsst. Vor allen. Vor ALLEN!
"Luke, hm?", stellte Steffi fest. "Du weißt, was jetzt auf dich zu kommt, oder?" Irgendwie sah ich auch plötzlich Enttäuschung aufflackern. Wahrscheinlich gefiel ihr Luke ebenso wie mir.
"Und dabei heiße eigentlich ich Julia", lachte meine andere Freundin und umarmte mich.
"Ich habe keine Ahnung was eben passiert ist. Ihr etwa?", fragte ich immer noch verdattert.
"Nein, aber ich kann dich beruhigen, Luke weiß es offensichtlich ebensowenig wie du.", tuschelte Steffi und wies mit dem Kopf in seine Richtung. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Luke mich fassungslos anstarrte, seine Kumpels hingegen zerfleischten mich mit ihren Blicken.
Doch in diesem Augenblick kam unser Chemielehrer, schloss die Tür auf und alles drängte sich in den Saal.
Während des Unterrichts nutzen Julia und ich die Zeit äußerst sinnvoll, indem wir darüber diskutierten, was passiert war - und vor allem, warum. Steffi folgte dem Unterricht, kritzelte eifrig in ihr Heft und warf uns hin und wieder böse Blicke zu. Auch wenn ich mich mit Steffi prima auskam, wenn es um den Unterricht ging, verstand sie keinen Spaß. Trotzdem würde sie mir sicher nachher erklären, was ich verpasst hatte, aber jetzt zurück zu unserem Thema. Obwohl ich wusste, dass Julia Luke auch mochte, wusste ich, dass sie zu mir halten würde.
"Auch wenn ich ihn echt süß finde", flüsterte sie mir zu, "gehört er dir." Glücklich drückte ich sie, was unseren Lehrer in Erstaunen versetzte. Aber er ließ sich nicht beirren und führte seinen Vortrag fort.
"Ich musste so lachen, als er vor dir auf die Knie gegangen ist", grinste sie. "Du hättest dein Gesicht sehen sollen." Irgendwie steckte ihr gute Laune an, obwohl mir eigentlich nicht nach lachen zu Mute war.
"Und was denkst du, macht er jetzt?", wollte ich von ihr wissen. "Glaubst du er macht mit Stacy Schluss?"
"Davon träumst du wohl", zischte Louisa aus der Reihe vor mir und warf mir einen bösen Blick zu. Sie war eine der treuen Dienerinnen von Stacy, das hatte ich vergessen zu erwähnen.
Ich schaute Julia an und hob vielsagend eine Augenbraue, was sie zum Grinsen brachte. Dann lehnte sie sich zu mir und murmelte mir ins Ohr.
"Keine Ahnung, was er machen wird. Aber es gibt auf jeden Fall eine Menge Stress. Wenn Stacy das erfährt und glaub mir, das wird sie, dann werden wir nichts zu lachen haben." Ich schluckte. Ja, Stacy war wirklich nicht ohne. Keine Ahnung, warum Luke mit ihr zusammen sein wollte, aber ich würde es nicht mit ihr aushalten. Sie war einfach nur bösartig, fies, gemein, zickig… mir fiel nicht die richtige Beschreibung für sie ein. Stacyhaft, vielleicht. Aber vielleicht war sie ja ganz anders, wenn sie mit Luke alleine war, doch das wollte ich mir jetzt lieber nicht ausmalen. Luke saß auf der anderen Seite des Ganges ebenfalls eine Reihe vor mir und auch er folgte nicht dem Unterricht. Seine Freunde redeten wie wild auf ihn ein. Wahrscheinlich sagten sie ihm gerade, was ihm denn einfalle und ob er den Verstand verloren hatte. Eine tiefe Mutlosigkeit überkam mich.
Denn obwohl ich bisher kein Außenseiter war, sondern mich mit allen gut verstand, hatte ich so ein Gefühl, dass sich das ziemlich schnell ändern würde. Wenn Stacy das erfuhr.
In diesem Augenblick drehte sich Luke um und musterte mich. Schnell blickte ich wieder an die Tafel, damit er nicht merkte, dass ich ihn die ganze Zeit über angestarrt hatte, aber wahrscheinlich war es dazu ohnehin zu spät. Hilfesuchend blickte ich zu meiner Freundin, die vorsichtig unter dem Tisch meine Hand drückte. Wir schaffen das schon, sollte es heißen. Was war ich froh, dass ich eine solche Freundin hatte. Und auch Steffi lächelte mir aufmunternd zu. Wenigstens war ich nicht allein. Wenigstens standen sie mir zur Seite.
Mit dem Gong sprang ich auf, stopfte fieberhaft meine Sachen in meine Tasche und zog Julia mit mir. Steffi ging wie üblich vor zum Lehrer und stellte ihm noch ein zwei wichtige Fragen über den Unterricht.
"Tschüss, Steffi!", rief ich ihr noch über die Schulter zu, dann hatte ich die Tür erreicht, riss sie auf und verschwand mit Julia in den Flur.
"Warum so eilig?", keuchte sie hinter mir.
"Ich will nicht, dass Stacy…" Da stand sie schon, am Ende des Flurs, die Hände in die Seiten gestemmt, wie ein Drache, der im nächsten Augenblick Feuer speien würde. Um sie herum ihre treue Gefolgschaft. Panisch warf ich einen Blick über die Schulter, doch auch dort war der Weg versperrt.
"Was machen wir denn jetzt?", jammerte Julia. Doch ich antwortete nicht, sondern packte sie einfach an der Hand und schleifte sie mit mir. Ein Stück ging ich langsam auf Stacy zu, bis zu der Stelle… hatte ich sie erreicht. Rechts von mir begann das Treppenhaus, das wir bei Feueralarm benutzen sollten. Hektisch riss ich die Feuerschutztüre auf und schob mich hindurch. Julia war nur knapp hinter mir. Schnell rannten wir die Treppen hinunter, vom Getrappel vieler Füße, die uns folgten zur Höchstgeschwindigkeit angespornt. Unten im Hauptflur befanden sich viele Schüler, so dass wir uns zwar nicht mehr so schnell bewegen konnten, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, dass wir schmerzhaft mit ihnen zusammenstoßen würden. Allerdings wimmelte es hier auch nur so vor Lehrer, so dass ich sicher war. Für den Moment wenigstens. Doch ich wollte kein Risiko eingehen und so flitzen Julia und ich schnell zur Bushaltestelle. Heute hatte ich offensichtlich Glück im Unglück, denn im selben Augenblick kam der Bus, wir stiegen ein und ließen uns erleichtert auf Sitze in den hinteren Reihen fallen. Als der Bus abfuhr, sah ich, wie Stacy gerade aus der Eingangstür gestürmt kam.
Morgen würde definitiv lustig werden.
Am Abend, als ich mit Julia und Steffi auf Facebook das Tagesgeschehen und Lukes Verhalten analysierte, passierte das Unglaubliche.
"Ey" Das war Luke. Sofort begann mein Herz schneller zu schlagen und gleichzeitig regte ich mich furchtbar auf. Ey. Konnte der Kerl nicht mal ein anständiges Hi oder wenigstens ein Hey schreiben? Leicht angesäuert und dennoch gespannt wartete ich, was denn als nächstes kommen würde. Würde er etwas über heute sagen?
"Wartet kurz, Luke schreibt", tippte ich meinen Freundinnen.
":O" und ":D" waren die Antwort. -
Luke tippt gerade, las ich.
"Was lernst du für die Physikklassenarbeit?", wollte Luke wissen. Äh was?! Vor lauter Erstaunen klappte mein Unterkiefer herunter. Fassungslos saß ich wie erstarrt vor meinem Bildschirm. Hatte er einen Gehirn-Neustart gehabt? Hallo er hatte mich geküsst, okay nur auf die Wange, aber immerhin. Und jetzt einfach Physik? Bin ich denn etwa ein Lehrbuch? Aber irgendwie wagte ich es doch nicht, einen spitzen Kommentar zu machen, sondern antwortete brav, was ich lernen würde.
Die folgende Antwort ließ meinen Unterkiefer noch weiter sinken und mich ein ungläubiges Lachen ausstoßen.
"Okay, wollt ich nur wissen. Bis dann." Hää? Was für eine Frechheit.
"Was lernst du denn?", fragte ich ihm.
"Ungefähr das Gleiche. Also bis Morgen, muss noch viel machen."
"Depp", dachte ich.
"Und was war heute?", tippte ich.
"Wir reden Morgen", kam als Antwort.
Obwohl ich total erbost über seine kurze Antwort war, konnte ich es dennoch nicht verhindern, dass mein Herz schneller schlug.
Kurze Zeit später war er offline und ich schickte meinen Freundinnen den Chatverlauf. Bis spät in die Nacht diskutierten wir darüber.
Am nächsten Tag versuchte ich meine Mutter davon zu überreden, dass ich furchtbar krank wäre. Denn einerseits wollte ich Stacy nicht über den Weg laufen und andererseits hatte ich Angst, was Luke wohl sagen würde. Doch wie Mütter manchmal sein können, glaubte sie mir kein Wort und ich musste schließlich in die Schule. Ständig hielt ich die Augen offen, damit Stacy mich nicht fand, aber obwohl ich Luke an diesem Tag mehrmals sah, kam er nie auf mich zu, als würde er mit mir reden wollen. So ging es mehrere Tage, bis ich mit meinen Freundinnen am Geländer stand und mich mit ihnen unterhielt.
Auf einmal stand Stacy vor mir. Sollte ich jetzt wegrennen? Ich entschied mich für Nein. Irgendwann würde ich mich mit ihr auseinander setzen müssen, warum also nicht gleich?
"Du kriegst ihn nicht." Das war eine klare Feststellung.
"Was?" Ich lachte bitter. "Hast du etwa Angst, dass ich ihn dir wegnehme?"
Sofort verfinsterte sich ihr Gesicht, sie hob die Hand, als ob sie mich schlagen wollte. Reflexartig riss ich beide Arme hoch und der Schlag trifft diese.
Schmerzerfüllt schreit Stacy auf: "Du Bitch hast mir die Hand gebrochen. Luuuuuuuke!"
Sofort biegt Luke um die Ecke und läuft zu uns. Als er mich sieht, bleibt er stehen, doch Stacy fackelte nicht lange und zerrte ihn zu uns, schniefte künstlich und warf sich ihm an die Brust.
"Sie hat mich geschlagen", heulte sie in sein T-Shirt.
Verwirrt schob er sie etwas von sich und blickte von ihr zu mir und wieder zurück. Sofort schrie Stacy auf: "Du glaubst doch nicht etwa der da?!"
Ich antwortete ruhig: "Was hätte ich für einen Grund dich zu schlagen?"
Darauf wusste sie keine Antwort. Ihr Mund klappte auf und wieder zu.
"Und warum sollte ich dich schlagen?", zischte sie.
"Vielleicht bist du ja eifersüchtig?", antwortete ich kess. Verdammt, jetzt würde sie ausrasten. Sicherheitshalber ging ich ein paar Schritte zurück. Keine Sekunde zu früh, denn sofort griff sie nach mir.
"Was ist denn los?", fragte ich frech. "Ich dachte du bist schwer verletzt, Stacy."
Diese hielt inne und schnappte empört nach Luft.
"So etwas muss ich mir nicht bieten lassen", fauchte sie und rauschte ins Klassenzimmer.
Fassungslos starrte ich ihr hinterher, unfähig einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Dass mein Mund offen stand und es wohl ziemlich albern aussah, wusste ich, aber ich war so überrumpelt. Von meinen Freundinnen hörte ich ebenfalls keinen Mucks, wahrscheinlich wussten sie ebenso wenig wie ich, was hier gerade passiert war.
"Du hast sie nicht geschlagen oder?", tönte es in das Schweigen hinein.
"Ach, auch schon gemerkt", fuhr ich Luke bissig an. "Bist ja ein ganz Heller. Sag, ist heut wohl das Morgen von vor 3 Tagen, oder was?" Vor 4 Tagen hatte er mir geschrieben, "wir reden morgen".
Luke war so überrascht über meinen plötzlichen Wutanfall, dass er keine Erwiderung fand.
"Es tut mir leid", sagte er schließlich.
"Was?! Was tut dir leid? Dass du mich geküsst hast, oder dass du mich danach einfach ignoriert hast? Oder sag, tut es dir vielleicht leid, dass mir danach alle schiefe Blicke zugeworfen haben? Das glaube ich dir nicht! Du denkst doch nur an dich selbst!" Vor lauter Ärger war ich ziemlich laut geworden und meine Stimme rutschte in hohe, kieksende Tonlagen hinauf. Verdammt noch mal!
"Ich bin egoistisch?" Jetzt geriet auch Luke in Fahrt. "Du ruinierst mir hier gerade meine Beziehung!"
Das war ja wohl die Höhe!
"Hör mir mal zu, ja", knurrte ich und ging bedrohlich zwei Schritte auf ihn zu. Wenn meine Stimme so klang, das wusste ich, war ich kurz davor zu explodieren. Dass mich dieser Idiot auch bis zur Weißglut reizen musste, er würde schon sehen, was er davon hatte.
"Wenn Mister Superreich Beziehungsprobleme hat, dann möge er sie doch bitte selbst lösen, ich bin schließlich weder sein Eheberater, noch sein Psychologe und vielleicht…", fügte ich hinzu und wusste im gleichen Augenblick, dass ich das irgendwann bitter bereuen würde, "sollte Papis Vorzeigesöhnchen mal sein Gehirn anstrengen, sofern er denn eins hat und sich mal grundlegende Gedanken über seine Beziehung machen, denn vielleicht liegt es nicht an jemand anderem, dass es jetzt krieselt. Oh du Armer", unterbrach ich mich spöttisch. "Sondern vielleicht passen da zwei einfach nicht zusammen", zischte ich den letzten Satz, drehte mich abrupt um und lief zufrieden zurück zu meinen Freundinnen. Das hatte gesessen. Eine Ohrfeige links und eine rechts war nichts dagegen. Ich hatte ihm meinen Frust einfach regelrecht um die Ohren geklatscht. Bitteschön - Dankeschön! Endlich hatte ich ihm all das gesagt, was sich in den letzten paar Tagen angestaut und mich manchmal fuchsteufelswild und zugleich hilflos gemacht hatte.
Auf halbem Weg ließ mich seine Stimme anhalten. "Sarah", klang es tonlos hinter mir. Mein Name. Ich fühlte mich, als wäre ich urplötzlich festgefroren und die Euphorie verpuffte augenblicklich. Jetzt würde ich für meine Frechheiten bezahlen.
Langsam drehte ich mich um, stand er schon hinter mir. Ich musste den Kopf heben, um in sein Gesicht zu blicken, denn so nah stand er bereits vor mir. Immer weiter sackte ich in mich zusammen und Luke ragte wie ein riesiges Monster über mir auf, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt.
Als er die Hand hob, riss ich erneut automatisch beide Arme vor mein Gesicht, um mich notdürftig zu schützen. Warum hatten heute alle Leute das Bedürfnis mich zu schlagen?!
Beinahe hätte ich angefangen zu zittern vor Angst, hätte Luke nicht einen komischen gepressten Laut von sich gegeben, den ich wider besseren Wissens als Glucksen beschrieben hätte.
Vorsichtig lugte ich zwischen meinen Armen hindurch, Luke war inzwischen wieder auf Normalgröße geschrumpft, überragte mich aber immer noch um einen Kopf und sein verzerrter Gesichtsausdruck war - ich konnte es nicht fassen - er lachte mich aus!
Empört ließ ich ruckartig meine Arme sinken und wollte gerade zu einer wirklich kessen Bemerkung ansetzen, da merkte ich , dass mir keine einfiel. Komisch, ich war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Mein Gehirn fühlte sich an, wie leergefegt.
"Äh", setzte ich zu einer wenig geistreichen Erwiderung an, wieder nichts. Doch während ich mich innerlich noch dafür verfluchte, überwand Luke den letzten Abstand zwischen uns beiden, nahm zärtlich mein Gesicht in seine Hände und hauchte mir einen sanften Kuss auf die Lippen. Und obwohl ich ihn gerade noch angefahren hatte, schlug ich in bester Manier meine Arme um seinen Nacken und klammerte mich an ihm fest.
Warme weiche Lippen lagen auf meinen, die sich anfühlten, als würde eine Horde Ameisen auf ihnen Stepptanz tanzen, so kribbelten sie.
Mein Klammergriff entlockte ihm ein Lachen, das ich sofort zum Einatmen nutze und sein umwerfender Geruch berauschte meine Sinne. Nur einen Augenblick später hatten sich unsere Lippen wieder gefunden. Neckisch schenkte er mir einige kurze, verlockende Küsse und zugleich spürte ich, wie seine Hände von meinem Gesicht zu meinem Rücken wanderten und mich fest an ihn zogen.
Plötzlich ließ er mich wieder los. Ungnädig öffnete ich meine Augen und blinzelte ihn verwirrt entgegen. Sein Gesicht schien zu strahlen und dessen Ausdruck entlockte mir ein verliebtes Lächeln.
In diesem Augenblick kam mit der Wucht eines ICE's die Realität zurück und fuhr mich glatt über den Haufen.
Entsetzt wicht ich einige Schritte zurück, meine Hand fuhr reflexartig zu meinem Mund. Er hatte mich geküsst.
Fassungslos und entgeistert starrte ich ihn an.
Sein Lächeln fror für einen winzigen Augenblick ein, als er sich der gaffenden Menge bewusst wurde, der wir hier ein Drama von der allerfeinsten Sorte vorgespielt hatten, aber dann zog er mich kurzerhand in eine Umarmung, die ich irgendwie nicht erwidern konnte. Ich fühlte mich noch immer wie ein überdimensionaler Pudding.
Mehr zu sich selbst murmelte er in meine Haare: "Das war jetzt mal endgültig überfällig gewesen" und ich fragte mich, was er damit gemeint hatte.
Dann ließ er mich los und verschwand ohne sich umzudrehen im Klassenzimmer.
Die einzige Handlung zu der ich fähig war, war Kopfschütteln und so stand ich da und blickte ihm nach, bis ich bemerkte, wie dämlich das auf die Dauer aussehen musste. Also härte ich damit auf und ging mit wackeligen Schritten zurück zu meinen Freundinnen. Ihre Gesichtsausdrücke bemerkte ich nicht. Gefangen in einer Welt zwischen Traum und Realität, liefen die letzten Minuten wie ein Stummfilm vor meinem inneren Auge ab. Als Luke mich in Gedanken erneut küsste, fragte ich ohne es zu merken: "Hat noch jemand das Gefühl nicht alles mitbekommen zu haben?" Aber ich erwartete keine Antwort.
Texte: Michaela Tunik-Brecht
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2012
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