Austausch in England
Der Brief
Heute musste der Brief doch endlich kommen. Ich war gerade von der Schule zurück, stieg die paar Stufen zu unserer Haustür hinauf, zückte schon im Gehen meinen Schlüssel, um möglichst wenig Zeit zu verlieren. Hektisch drehte ich den Schlüssel im Schloss und riss die Haustür auf. Nichts. Kein Brief. Das Hochgefühl, die Vorfreude, die ich schon den ganzen Tag gespürt hatte, war verpufft. Aber warte, da lag doch ein Brief auf der Kommode. Ich hatte ihn in der Aufregung fast übersehen. Und tatsächlich er war an mich adressiert. So jetzt würde ich also erfahren, wie meine englische Gastfamilie heißt, bei der ich meine Ferien verbringen würde. Meine Eltern hatten mich für eine Sprachreise angemeldet, naja das heißt gezwungen. Anfangs habe ich mich geweigert, weil keine meiner Freundinnen Zeit hatte, aber so nach und nach begann ich mich doch damit abzufinden. Voller Ungeduld riss ich den Umschlag auf. Wo steht es denn? Ich faltete den Brief auseinander. Ganz unten stand:
Ihre Gastfamilienkarte:
Mrs. Fidler
Na toll. Bin ich jetzt bei einer alten Frau, oder was? Das wird bestimmt echt lustig. Oh Darling, kannst du mir mal beim Aufstehen helfen, bla bla.
Jetzt war meine Laune vollends im Keller. Meine Mum kam aus der Küche und blickte mich fragend an. Na wer ist deine Gastfamilie?
„Irgendsoeine Mrs. Soundso. Klingt total spannend.“
„Zeig mal her.“
Ich streckte ihr den Zettel hin.
„Na so übel klingt Mrs. Fidler auch nicht.“
„Ich habe aber überhaupt keine Lust, meine Ferien bei so einer alten Oma zu verbringen“
„Wieso alte Oma? Es steht doch überhaupt nichts über ihr Alter drin.“
„Na warum wird sie sonst alleine wohnen?“
„In England führt quasi die Frau den Haushalt und kümmert sich um die Gastschüler. Deswegen steht da nur der Name der Frau.“
„Oh…“
„Kommst du zum Essen?“
Wir fuhren von dem Busparkplatz mit einem Mini-Auto zu ihrem Haus. Christchurch war doch nicht so klein wie angenommen. Aber was mich sehr erstaunte war, dass fast jedes Haus gleich aussah. In der Straße, in die wir nun einbogen, standen etwa 60 kleine Einfamilienhäuser. Alle hatten die gleiche Hausfarbe und sahen sich auch sonst zum Verwechseln ähnlich. Oh mein Gott, wie soll ich mich hier nur zurecht finden. Gedanklich sah ich mich schon bei allen Häusern klingeln. Hallo, Entschuldigung, wohnt Frau Fidler hier? Und das 60 Mal. Na das würde auf jeden Fall spannend werden. Vielleicht klingele ich einfach mal so woanders. Ich grinste in mich hinein.
Wir hielten vor einem Haus, das auf den ersten Blick genauso wie die anderen Dutzend aussah. Doch auf den zweiten Blick fielen mir auch Unterschiede auf:
Erstens waren die Fensterrahmen blau und auch die Haustüre und zweitens stand eine Katze vor der Tür. Keine Echte. Sie war aus Metall.
Na wenigstens was. Dann frage ich nach der metallenen Katze vor der Haustüre.
Mrs. Fidler stieg aus und ich beeilte mich, ihr zu folgen. Bis ich mich aus meinen Taschen erfolgreich rausgeschält hatte, stand sie schon am Kofferräumchen und machte sich an meinem Koffer zu schaffen.
„Oh, schwer.“
„Lassen Sie mich das bitte machen.“
Ich zerrte an meinem Koffer, der sich irgendwo im kleinen Kofferraum verklemmt haben musste, denn er bewegte sich keinen Zentimeter. Wie hab ich den nur da reingequetscht? Ich merkte nicht, dass ich beobachtet wurde. Im zweiten Stock des Hauses, stand jemand halb versteckt hinter der Gardine und lachte. Endlich löste sich der Koffer und ich konnte ihn aus dem Auto hieven. Was hatte ich nur wieder Überflüssiges eingepackt. Ich musste grinsen, als ich daran dachte, wie ich auf meinem überfüllten Koffer sitzend versuchte den Reisverschluss zu schließen und meine Mutter ins Zimmer kam. Ihren verzweifelten Gesichtsausdruck würde ich wohl nicht mehr vergessen.
Ich rollte und trug meinen Trolley zur Haustür. Mrs. Fidler hatte die Türe schon aufgeschlossen und lies mich vorgehen. Entschlossen hob ich den Koffer über die Türschwelle und stellte ihn mir vor Überraschung auf den Fuß, als ich aufblickte und direkt in das grinsende Gesicht eines etwa 19 jährigen Jungen. Als ich schmerzvoll aufstöhnte, wurde sein Grinsen noch breiter. Ich lief sofort rot an. Das begann ja wunderbar.
„Kann ich dir helfen?“
“Ähh, ja … bitte”, stotterte ich sofort ziemlich unbeholfen. Super was denkt der jetzt von mir.
Während er meinen Koffer anhob, als wäre es eine Feder, schaute ich ihn mir genauer an. Er sah wirklich gut aus. Braune Augen, blonde verstrubbelte Haare, braun gebrannt und muskulös. Er stieg mit meinem Koffer eine kleine Treppe hoch und verschwand im zweiten Stock. Verwirrt blickte ich ihm nach. Hilfesuchend drehte ich mich zu meiner Gastmutter um, die mich anlächelte.
„Also, zieh deine Schuhe aus und stell sie da hin.“
Schnell befolgte ich ihre Anweisungen. Wer war der Junge. Ihr Sohn? Oder auch ein Austauschschüler? Gedanklich bereitete ich mich schon auf unser nächstes Zusammentreffen vor. Den Triumpf, mich total aus dem Konzept gebracht zu haben, wollte ich ihm nicht noch einmal gönnen. Laute Kinderstimmen rissen mich aus meinen Gedanken. In der Tür zur Wohnung erschienen zwei kleine Kinder.
„Nick und Annie“, stellte die Mutter vor.
„Hallo“, sagte ich.
„Soll ich ihr das Zimmer zeigen?“, ertönte es hinter mir. Erschrocken fuhr ich zusammen.
Ich hatte nicht bemerkt, dass er schon wieder heruntergekommen war. Doch sofort hatte ich mein Gesicht wieder unter Kontrolle und drehte mich um.
„Oh das wäre nett.“
Ich war stolz, dass ich diesmal nicht gestottert hatte, aber der Blick mit dem er mich bedachte, brachte mich schon wieder durcheinander.
Auf dem Gesicht vor mir zeichnete sich wieder der Anflug eines Grinsens ab.
„Okay. Hier entlang”, wandte er sich an mich.
Ich beschränkte mich auf ein Nicken, da ich meiner Stimme im Moment nicht vertraute. Wie selbstverständlich nahm er mir meine Tasche ab und stieg die Treppe hoch. Auf der Hälfte wartete er und drehte sich mit einer hochgezogenen Augenbraue zu mir um. Gedanklich knirschte ich mit meinen Zähnen, versuchte aber ein Lächeln aufzusetzen, was vermutlich eher wie eine Grimasse aussah, da er schon wieder grinste. Jetzt war ich die Jungen-Probleme zuhause losgeworden und hatte mir geschworen, mich nicht wieder so schnell zu verlieben, schon brachte mich der nächstbeste Kerl mit seinem Grinsen durcheinander. Er stand einfach nur da und sah mich an. Hä, was hab ich schon wieder verpasst?
„Was?“, fragte ich ziemlich unbeholfen.
Aus seinem Grinsen wurde ein breites Lächeln und er entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne.
„Ich habe mich gerade nur vorgestellt.“
„Oh“, war die einzige Antwort, die ich darauf hatte.
“Okay, mein Name ist immer noch Alexander, aber du kannst mich Alex nennen, wenn du willst”, sagte Mr. Superman im perfekten Oxford English (oder das was ich für Oxford English hielt), und reichte mir die Hand.
Meine Güte, was hat der für Manieren. Mich würde es kaum wundern, wenn er mir jetzt die Hand küssen würde. Verunsichert gab ich ihm meine Hand, die ich mir noch schnell an der Hose abgewischt hatte, da sie von der ganzen Aufregung schon total schwitzig war. Und tatsächlich ging er in die Knie und küsste mir die Hand. Mein Mund klappte auf. Ich musste wohl einen sehr bedröppelten Eindruck machen, denn von unten drang lachen hoch. Schnell schloss ich meinen Mund. Gott sei dank hatte ich erst letztens ein Buch gelesen, in welchem unter anderem erklärt wurde, wie sich eine Dame einem Herren vorstellt (eher mittelalterliche Vorstellungen). Nun gab ich mein bestes, möglichst anmutend einen tiefen Knicks, stehend auf zwei kleinen Treppenstufen stehend zu vollführen. Es schien einigermaßen geklappt zu haben, denn diesmal war er erstaunt. Sofort war ein Stück von meinem Selbstbewusstsein zurück.
„Mein Name ist Carolin“, fügte ich wie selbstverständlich hinzu. In seinem Blick las ich so etwas wie Anerkennung, aber ich konnte mich auch täuschen.
„Ich zeige dir jetzt das Zimmer“, sagte er.
Wie er DAS Zimmer betonte. Seltsam. Und als er die Tür öffnete wurde mir klar, wieso er nicht „dein Zimmer“ gesagt hatte. In dem „Zimmer“, das etwa die Größe einer deutschen Abstellkammer hatte, stand ein Ehebett, ein Schrank und zwei Koffer. Moment ZWEI? Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Und auf den zweiten Blick sah das Ehebett auf der rechten Seite schon so aus, als hätte jemand darin geschlafen. Fragend blickte ich zu Alex, der sich die Hand in den Mund gesteckt hatte und sich verzweifelt das Lachen verbiss. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich beschloss einfach so cool wie möglich.
„Kann ich die linke Seite haben?“, fragte ich mit einem unbeteiligten Gesichtsausdruck.
Jetzt fing er erst recht an zu lachen. Nicht, dass sein Lachen nicht schön klang, aber die Tatsache, dass er über mich lachte, machte mich wütend.
„Yeah Ich habe die Seite, die in den nächsten zwei Wochen immer noch so sauber, wie jetzt. Was ist mir deiner?”
Hä? Will er damit sagen, dass meine Seite in zwei Wochen aussieht wie ein Schweinestall? Frechheit. Na dem werde ich es zeigen.
„Kannst du mir das Badezimmer zeigen?“, fragte ich und versuchte mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.
„Die Tür auf der rechten Seite.“
Ich drehte mich nicht noch einmal um, sondern verschwand eilig im Badezimmer. Es war nicht besonders groß, aber das war mir im Moment gleichgültig. Meine Hände krampften sich am Waschbecken fest und ich starrte in den Spiegel. Mich funkelte ein Mädchen von 15 Jahren an. Braune Haare mit hellen Strähnchen, braune Augen. Wie wütend ich schaute. Davon musste ich sofort grinsen. Plötzlich viel mir ein Lied ein. Die Melodie summend, hüpfte ich im Bad herum. Sofort war meine gute Laune wieder da. Ich war in England, das Wetter war super, die Gastfamilie auch. Ich beschloss mir von Alex meine Ferien nicht versauen zu lassen. Es drangen Schritte an mein Ohr. Intuitiv lies ich das Gehopse sein. Und schon lehnte Alex im Türrahmen. Wenn man vom Teufel spricht. Diesmal grinste ich.
„Türen sind zum schließen da“, sagte er.
„Danke, das hätte ich beinahe vergessen“, antwortete ich mit meinem allerschönsten Lächeln.
„Aber ich bin schon fertig. Danke.“
Mit diesen Worten ging ich zurück ins Schlafzimmer und legte mich mit dem Rücken auf das Bett. Sogleich versank ich in der Matratze. Lachend rückte ich mich zu recht und blickte an die Zimmerdecke. Die hellblaue Tapete war voll mit kleinen gedruckten Blümchen. Süß.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen.“
Alex lehnte lässig im Türrahmen und ich konnte nicht umhin, als ihn für seine Coolness zu bewundern.
„Wie meinst du das?“, fragte ich und versuchte mich aufzurichten, was mir in dem superweichen Bett nicht gelang.
Er grinste schon wieder. Aber diesmal nett. Dann stieß er sich vom Türrahmen ab, ging auf das Bett zu und streckte mir seine Hand hin. Ich griff zu und er zog mich mit einem Ruck aus meinem Bettgefängnis. Ich war überrascht, von so viel Kraft, dass ich stolperte und in seinen Armen landete. Sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Wäre ich in einem Film, würde jetzt romantische Musik ertönen und er mich küssen. Stattdessen standen wir eine kleine Ewigkeit so da und starrten uns an. Schließlich ließ er mich wieder los. Uns beiden war die Situation unangenehm. Um meine Verlegenheit zu überspielen inspizierte ich den „Schrank“ und Alex ließ sich auf unser Bett fallen.
„Wie lange wirst du hierbleiben?“
Ich drehte mich um und sah, dass mich Alex prüfend musterte. Aber diesmal schaltete mein Gehirn nicht ab.
“Drei Wochen“, antwortete ich ihm und wand mein Interesse wieder dem Schrank zu.
Es war mehr eine Vertiefung in der Wand, die durch eine Tür verschlossen werden kann.
„Nur so kurz.“
Klang da leises Bedauern durch?
„Jep, in Deutschland haben wir nicht so lange Ferien.“
“Also bist du Deutsche?”
“Mh.”
Länger kann ich nicht mehr vor dem Schrank stehen bleiben.
„Also verstehst du nichts, wenn ich Französisch spreche“, ertönte es auf Französisch vom Bett.
Von wegen ich verstehe nichts, wenn er Französisch spricht. Ha! Ich verstehe mehr als du denkst, Freundchen. Und das sagte ich ihm auch.
«Oh ich verstehe mehr, als du denkst», antwortete ich und drehte mich um.
Seine Augen weiteten sich.
„Also sprichst du es ?“ Ich spreche es ?
„Ich spreche was?“ Was soll ich reden?
„Du sprichst Französisch.“ Neeeee, wie kommst du darauf. Ich unterhalte mich mit dir gerade auf Französisch.
„Ja, ein bisschen. Wie lange wirst du hier wohnen?» Wie lange er wohl hier wohnte ? So lange wie ich?
„Ich denke, es ist besser hier Englisch zu sprechen, wechselte er die Sprache.
“Klar, aber Französisch ist so viel leichter.”
Ich smilte ihn an. (Das ganze Sprachengewechsel bringt mich total durcheinander)
“Ich glaube, wir sollen runtergehen.”
Mit einer eleganten fließenden Bewegung stand er auf.
“Warte bitte kurz. Ich habe einige Geschenke für die Familie.”
Ich legte meinen Koffer auf den Boden und öffnete ihn. Obenauf lagen die Gastgeschenke. Honig von meinem Opa, zwei kleine Fläschchen Wein, die die Reise Gott sei Dank heil überstanden hatten und eine Packung Kekse. Wortlos nahm Alex mir die zwei Fläschchen aus der Hand und ging voran.
Unten im Wohnzimmer folgte auf meine Freude auch gleich Ernüchterung.
Meine Gastmutter, die sich als Pam vorstellte, nahm meine Gastgeschenke entgegen, dankte mir und stellte sie weg. Mein Gesicht musste wohl ziemlich enttäuscht gewirkt haben, denn Alex lehnte sich zu mir und flüsterte: „Sei nicht traurig, das ist ihre Gewohnheit.“
Was zum Teufel war habit? Naja zumindest sollte ich wohl nicht traurig sein, das hatte ich verstanden.
Doch meine Laune besserte sich ziemlich schnell, denn Nick kam die Treppe hinuntergestürmt und sah die Kekse auf dem Tisch liegen. Seine Augen wurden kugelrund. Er blickte von den Keksen zu mir und wieder zurück. Einfach goldig. Ich wusste nicht, ob ich ihm die Kekse geben durfte, schließlich hatte ich sie ja bereits verschenkt und vielleicht wollte Pam nicht, dass er jetzt Kekse aß. Doch Nick ging einfach zu dem Tisch und zack, hatte er sich die Packung bereits geschnappt und war auf dem Weg in das obere Stockwerk. Ich staunte. Eine Dreistigkeit besaß der kleine Kerl, aber es war lustig anzusehen. Pam werkelte in der Küche und hatte nichts bemerkt. Leise lachte ich in mich hinein.
„Ok dann räumen wir mal deine Klamotten in den Schrank oder?“, meinte Alex.
Ich drehte mich um. Auch Alex grinste noch über Nicks kleinen Diebstahl. Er stand sehr nah bei mir. Viel zu nah. Bei seinem Anblick wurde mir ganz warm ums Herz. Alex Grinsen wurde breiter. Mistkerl. Sicher wusste er, was er für eine Wirkung auf Mädchen wie mich hatte. Gerne hätte ich jetzt etwas gesagt, oder getan, damit das Grinsen auf seinem hübschen Gesi… nur seinem Gesicht einfror, aber mir viel nichts allzu Geistreiches ein. Deshalb drehte ich mich einfach um, stieg die Treppe hinauf und ging in unser Zimmer. Alex folgte mir. War es eigentlich überhaupt legal, dass ein Junge und ein Mädchen im gleichen Zimmer schliefen? Ich meine wer passte auf, dass nichts passierte? Woran dachte ich hier eigentlich?!
Zielstrebig steuerte ich auf meinen Koffer zu und versuchte ihn vergeblich aufs Bett zu hieven.
„Oh hey warte. Ich helfe dir“, unterbrach Alex meine Gedanken und nahm mir den Koffer aus der Hand.
Dabei streifte er wie zufällig meine Hand (oder war es doch Absicht gewesen?), was mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Fasziniert schaute ich ihm zu, wie er geschickt den Koffer anhob und auf das Bett legte. Dabei konnte ich ungeniert seinen durchtrainierten Rücken und die muskulösen Arme bewundern. Viel zu schnell drehte er sich um und bemerkte, wie ich ihn angestarrt hatte. Mist. Schon wieder stieg die Röte in mein Gesicht. Doch Alex half mir aus meiner Verlegenheit indem er so tat, als bemerke er es nicht.
„Du hast da Steine eingepackt, oder?“, sagte er und meinte damit natürlich das Gewicht meines Koffers.
Ich entschloss mich diese Frechheit zu ignorieren und widmete mich meinem Koffer.
Alex stand ein kleines Weilchen neben mir, doch nach kurzer Zeit legte er sich auf das Bett, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah mir beim Auspacken zu. Hätte ich gewusst, dass mein Zimmergenosse so heiß ist, hätte ich wohl nicht meinen Lieblingsschlafanzug mitgenommen. Der hatte nämlich lauter kleine Kätzchen aufgedruckt und sah damit so was von babyhaft aus. Zu meiner Verteidigung, er ist wirklich flauschig. Ich errötete tief, als ich das besagte Teil aus den Tiefen des Koffers zog und in meiner Hand hielt. Wohin damit? In den Schrank, oder unter das Kopfkissen? Eigentlich wollte ich Alex nicht ansehen, doch wie magnetisch angezogen, streiften ihn meine Augen. Er starrte auf etwas vor mir und grinste schon wieder. Mein Blick folgte dem seinen. Er fixierte das Teil in meinen Händen. Verdammt. Tomate. Diese Farbe hatte mein Kopf vermutlich gerade. Hektisch versuchte ich ihn hinter meinem Rücken zu verstecken, vergebens, Alex grinste über meine Reaktion nur noch mehr.
„Nett.“
Dafür hätte ich ihn wirklich hauen können. Verachtend blickte ich ihn an. Naja zumindest sollte es verachtend sein, aber es klappte nicht so ganz. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte ich zu meinem Kopfkissen, hob es an und steckte den Schlafanzug darunter. Dann ging ich wieder zurück zu meinem Koffer, packte ihn weiter aus und würdigte Alex keines Blickes. Doch als ich mich vom Schank wieder zum Koffer umdrehte, bemerkte ich, dass Alex mit seinem Ellenbogen wie zufällig mein Kopfkissen angehoben hatte und meinen Schlafanzug inspizierte. Ich schnappte vor Empörung nach Luft. Der Kerl war ja gemeingefährlich. Als ich aber sah, was als nächstes in meinem Koffer wartete, von mir in den Schrank gelegt zu werden, beschloss ich ihn weiter inspizieren zu lassen. Denn obenauf grinste mir meine Unterwäsche höhnisch entgegen. Und da konnte er von mir aus so lange meinen Schlafanzug begutachten wie er wollte, so lange er beschäftigt war. Nur aus irgendeinem Grund schien mir das Schicksal heute nicht gewogen zu sein. Denn da ich schnell die Unterwäsche aus dem Koffer in den Schrank stopfen wollte, nahm ich gleich alles auf einmal und natürlich fiel mir etwas hinunter. Wie ein Blitz war Alex neben mir und hob es auf. Wie ich ihn dafür hasste. Warum konnte er nicht einfach unhöflich sein und sich nicht darum kümmern, dass mir etwas heruntergefallen war. Nein, Mr. Super-wohl-erzogen musste mir auf jeden Fall helfen. Nur dass er in diesem Fall keineswegs eine Hilfe war. Mein Gesicht war immer noch dem Schrank zugewandt, ich sortierte meine T-Shirts nach Farbe. Fragt nicht, das war natürlich sinnlos, aber ich wollte nur Zeit schinden, meine Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle bekommen und meine Fassung wiederfinden. Zum Glück verdeckten meine Haare einen Großteil der Röte. Eine Hand fasste an mir vorbei und legte eine meiner Unterhosen in den Schrank. Peinlichst! Ich hätte augenblicklich im Boden versinken können, wobei ein Mauseloch auch willkommen wäre. Ich meine, wenn ich eine Tussi gewesen wäre, voller Selbstvertrauen, dann hätte ich wohl mit meinem String vor seinem Gesicht herumgewedelt und ihn erotisch angeschaut, aber leider war ich das nicht und leider hatte ich auch keine Strings, nur Baumwollunterhosen. Absolut unerotisch.
Zu meinem Pech hatte ich auch nicht genug T-Shirts, denn mittlerweile waren alle nach Farben sortiert, also was nun? Zurück zum Koffer konnte ich mich nicht drehen, denn da stand Alex und ich hatte immer noch nicht meine Würde zurück. Verloren. Vermutlich für immer. Immer, wenn er mich nun ansah, würde er hundertprozentig an meine Baumwollunterhosen denken. Ich hatte schon verloren, bevor ich ihn überhaupt richtig kennen gelernt hatte.
Texte: Michaela Tunik-Brecht, Idee zu deutschen Dialogen: chrissy.nightmare
Bildmaterialien: Beautifuul
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2012
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