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Prolog

Lucas liebte Bücher über alles. Schon seit er denken konnte. Früher hatte ihm immer seine Großmutter vorgelesen, er war begierig an ihren Lippen gehangen und hatte jedem Wort gelauscht. Ihre Geschichten hatten stets farbenfrohe Bilder in seinem Kopf heraufbeschworen, so klar, dass er sich sicher war, in Wirklichkeit sähe es genauso aus, wie in seinen Gedanken.

Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt und Frida, seine Großmutter verlor nie ein Wort über sie. Für ihn war es wie selbstverständlich gewesen bei seiner Großmutter zu leben, bis ihm ein Buch zeigte, dass er keine Eltern hatte. Bisher hatte er dieses Wort nicht einmal gekannt. Eine Weile lang versuchte er seine Großmutter auszufragen, aber sie gab ihm nie eine Antwort. Das ein oder andere Mal meinte er eine Träne ihre alten, leicht runzeligen Wangen hinablaufen zu sehen, aber im Dunkel ihrer Hütte, nur durch das Feuer erhellt, dass den ganzen Tag in einer Ecke brannte, konnte er sich auch getäuscht haben.

Das erste Wort, was er sprechen konnte, war „Uch“ gewesen. Buch. Früher als alle anderen Kinder aus seinem Dorf hatte er das Lesen erlernt. Während die anderen draußen herumtollten, saß er in seinem Zimmer oder auf seinem Lieblingsbaum im nahegelegenen Wald und las. Buch um Buch verschlang er. Den ganzen Tag war er auf der Suche nach neuen ungelesenen Büchern. Egal welche Art, ob Kinderbücher oder auch die alten, staubigen Bücher seiner Großmutter, die beinahe auseinanderfielen, wenn man sie öffnete. Zur Not taten es auch die stets langweiligen Bekanntmachungen des Königs, wenn es nichts anderes gab.

Frida unterstützte ihn, wo sie konnte und brachte ihm oft neue Bücher mit, wenn sie vom Markt kam, wo sie jeden Samstag ihre Kräuter verkaufte. Nur ihre Koch- und Heilbücher schützte sie eifersüchtig vor ihm, denn Lucas hatte ein ungewöhnliches Talent: Denn immer, wenn er einen Text las, verschwand Wort für Wort aus dem Buch und brannte sich unwiderruflich in sein Gehirn ein. Zurück blieben nichts als leere Seiten.

Woher er das Talent hatte, wusste Lucas nicht, denn seine Großmutter konnte es nicht und sein Großvater Wilem anscheinend ebenfalls nicht, soweit er wusste. Auch ihn hatte er nie kennen gelernt.

Jedes Mal, wenn er ein Buch ausgelesen hatte, gab er es seiner Großmutter und diese warf es in das Feuer. Niemand durfte wissen, was er konnte, das hatte ihm Frida oft genug gesagt. Warum wusste er nicht, aber wahrscheinlich würden ihn alle mit Misstrauen behandeln, weil er anders war als sie.

Kapitel 1

Seufzend klappte Lucas das Buch zu. Manchmal wollte er nicht zu einem weiteren Buch greifen, aber irgendetwas in seinem Inneren zwang ihn. Leise aufstöhnend streckte er sich, hatte er doch seit mehreren Stunden in ein und derselben Haltung verharrt. Wenn las, vergaß er alles um sich herum. Er hatte keinen Hunger, keinen Durst, er wurde nicht müde und hör und sah nichts. Selbst wenn jemand neben ihm stand und ihn ansprach reagierte er nicht und konnte sich später nicht daran erinnern etwas gehört zu haben. Lucas stand auf und ging aus seinem kleinen Zimmer in den Hauptraum der kleinen Hütte, die er mit seiner Großmutter bewohnte.

Frida stand an der Feuerstelle und rührte in einem großen Kessel, aus dem leicht grüner Dampf aufstieg. Es duftete nach Frühlingswiese. Hin und wieder nannte er ihre Kräutertinkturen "Zaubertränke", aber auch nur dann, wenn er seine Großmutter ärgern wollte.

Bei seinem Eintreten wandte sich Frida um.

"Du bringst mir wieder Nachschub für mein Feuer?", fragte sie ihn scherzhaft.

Lucas nickte nur und gähnte.

"Dann gib es mal her, das gute Stück", sprach sie, nahm ihm das Buch aus der Hand und blätterte kurz darin.

Jedes Mal dieselbe Prozedur. Lesen und verbrennen. Immer aufs Neue.

Impressum

Texte: Michaela Tunik-Brecht
Bildmaterialien: Michaela Tunik-Brecht
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2012

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