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Vorwort

Mein größtes Geheimnis ist mein Leben, angefangen von meiner Geburt. Ich werde es wohl nie vollständig entschlüsseln können, denn dazu ist es zu kurz. Bisher war es nie besonders spannend und auch nie besonders einfach gewesen. Vor allem das letzte Jahr war voller schmerzlicher Erfahrungen und trauriger Erlebnisse, aber es war dennoch das schönste Jahr meines Lebens. 
Alles begann mit meiner Geburt, aber das sollte ich erst nach 16 Jahren meines Lebens erfahren.
Ich war schon immer anders als alle anderen. Nicht vom Aussehen, nein irgendwo innen drinnen fühlte ich mich anders. Früher einmal habe ich mir es gewünscht, im Rampenlicht zu stehen, dass alle sehen, wer ich wirklich bin und was ich wirklich kann. Seit kurzem gehe ich fast jeden Tag an meine Grenzen und bin jemand Besonderes, obwohl in meiner Rechnung das „Leben aufs Spiel setzen“ nie aufgetaucht ist.
Selbstlos? Nein das war gewiss keine Eigenschaft, die mich beschreiben würde, obwohl ich durch meine bedingungslose Hilfsbereitschaft nicht selten ausgenutzt wurde, selbst jetzt kam ich mir ausgenutzt vor. Es hatte mich ja niemand gefragt, ob ich bereit für diese Aufgabe war. Ich hatte mich einfach gefügt. Rückblickend wäre mir auch überhaupt nichts anderes übrig geblieben, als klein bei zugeben. Sonst hätte ich immer ein sehr schlechtes Gewissen gehabt, wenn im Fernsehen wieder beispielsweise die Nachricht von Tsunamiopfern käme. Mit der Gewissheit, Ihnen helfen zu können und es nicht getan zu haben, hätte ich nicht leben können. Tausende und abertausende Menschen auf dem Gewissen zu haben.

Wer bin ich? Und wie, so frage ich mich, wird diese Geschichte enden?



Kapitel 1

Ich schlug die Augen auf und sah mich um. Durch den Vorhang drängten bereits die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer. Es war schon hell draußen. Zu hell. Panisch richtete ich mich auf. Ich hatte verschlafen, an meinem ersten Schultag nach den Ferien hatte ich verschlafen. Warum hatten mich meine Eltern nicht geweckt? Schaffte ich es noch rechtzeitig? Ich griff nach dem Wecker, der über meinem Bett auf einem Regal stand und musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Es war gerade halb sechs. Wahrscheinlich würde heute ein besonders schöner Tag werden, weshalb es in meinem Zimmer schon so hell war wie zur Mittagszeit. Noch eine Stunde schlafen? Nein, jetzt da ich schon einmal wach war, würde ich es nicht schaffen wieder einzuschlafen. Ich war schon ganz aufgeregt, endlich meine Freundinnen wiederzusehen. Fast die gesamten Sommerferien über hatten wir uns nicht gesehen, weil immer eine andere Freundin im Urlaub gewesen war.

Da ich nicht mehr ruhig liegen konnte, beschloss ich, mich schon anzuziehen und meine Schultasche noch einmal zu überprüfen, damit ich am ersten Schultag auch ja nichts vergessen würde. Schließlich war es sechs Uhr und ich hatte immer noch eine halbe Stunde Zeit, bis meine Eltern aufstehen würden. Also legte ich mich wieder auf mein Bett und griff zögernd nach dem Buch „Die Hüterin“ von Trudi Canavan, das ich mir letzte Woche gekauft hatte. Ich wog es in meiner Hand und legte es weg. Obwohl es sehr spannend war, konnte ich mich jetzt doch nicht dazu entschließen weiterzulesen. In Gedanken war ich bereits in der Schule. Stattdessen zog ich meinen MP3-Player hervor und scrollte durch die Musikliste. In meinem Kopf erklang die Melodie eines ruhigen Stückes. Genau so etwas brauchte ich jetzt um wieder etwas ruhiger zu werden. Aber wie hieß es? Enya - Only Time, genau das war es. Ich steckte die Stöpsel in meine Ohren und leise strich die Musik durch meinen Kopf.

Mein Wecker klingelte. Erstaunt blinzelte ich und blickte um mich. War ich doch erneut eingeschlafen? Ich streckte mich, stand auf und ging ins Bad. Aus dem Spiegel blitzen mir zwei braune Augen entgegen. Braunes Haar umrahmte mein Gesicht. Okay, jetzt sah es eher aus wie ein undefinierbares Gestrüpp. Grinsend griff ich zur Bürste und begann mein Haar zu bändigen. Dann noch schnell Katzenwäsche, etwas Eyeliner und Mascara, fertig.

Aus der Küche strömte bereits der Duft von goldbraun getoasteten Toasts. Wie sehr liebte ich Toast zum Frühstück.

~ 

In der Schule traf ich meine Freundinnen wieder. Wenn wir uns einmal für zwei Tage nicht gesehen hatten, konnten wir schon  unentwegt reden, aber jetzt, da wir uns beinahe sechs Wochen nicht alle treffen konnten, hatten wir natürlich eine Menge zu erzählen. Leider wollte jede von meinen Freundinnen ihre Ferienerlebnisse so schnell wie möglich loswerden und so redeten wir wie wild durcheinander.

„Hey Mädels, schön euch zu sehen!“

„Steffi, du bist aber braun geworden!“

„Ich hab euch soooo vermisst!“

„Na Lucy, wie geht’s, Schwesterchen?“

„Danke Valérie, mir geht’s prima und dir?“

"Judith, wie waren deine Ferien?"

Lucy, Steffi, Judith und Valérie waren meine vier besten Freundinnen. Wir kannten uns schon seit der Grundschule. Lucy und Val waren Schwestern, besser gesagt Zwillinge, aber leider keine eineiigen. Wenn man beide zusammen sah, würde man nicht auf die Idee kommen, sie wären verwandt. Lucy war keck und oft vorlaut, aber immer für uns da. Ihre braunen Haare trug sie modisch kurz und meist traf man sie in Turnschuhen, unser Sportass. Valéries Haare waren ebenfalls braun, aber lang und glatt und im Gegensatz zu Lucy hatte sie ein sehr schmales Gesicht. Sie war die ruhigere von beiden, aber auch wenn sie meist schwieg, blitzten ihre dunklen Knopfaugen stets vergnügt in die Runde.

Steffi war eher wie Lucy. Kohlrabenschwarze Haare und selbst im Winter eine leichte Bräune, auf die man direkt neidisch werden konnte, groß, schlank und sportlich. Judith war die einzige Blondine in unserer Gruppe. Da sie sich nicht viel aus Sport machte und Süßigkeiten über alles liebte, war sie etwas pummelig. Sie selbst pflegte stets zu sagen, dass ihre Begabung wohl im Gehirnsport lag und da sie seit Jahren nur Einsen im Zeugnis hatte, schien dies wohl zu stimmen.

Während Steffi und Lucy versuchten sich in der Lautstärke zu übertrumpfen und Val mit einem leicht irritierten Grinsen von der einen zur anderen blickte, stand ich daneben und schwieg. Meine Familie hatte den Großteil der Sommerferien in einem kleinen Ort mitten in den Bergen verbracht. Meine Oma, die Mutter meines Vaters, wohnte dort oben und jedes Jahr zog es meinen Vater zurück in seine Heimat. Genauso spannend, wie es klang, war es auch. Vor einigen Jahren noch durfte ich wenigstens noch alleine umherwandern. Ich packte mir immer etwas zu essen ein und suchte mir ein ruhiges Plätzchen, inmitten eines riesigen Blumenfeldes oder an einem anderen schönen Ort, beobachtete Tiere oder genoss einfach die Stille. Auch wenn ich meine Ferien zur Abwechslung gerne wo anders verbracht hätte, war ich eigentlich gerne in die Berge gefahren. Nach vielen Diskussionen hatte ich es schließlich aufgegeben, meine Eltern davon zu überzeugen, einmal nach Spanien zu fliegen oder nach Italien. Als schließlich mein Bruder vor zwei Jahren begonnen hatte zu laufen, war es auch dort oben vorbei mit meiner Freiheit und die folgenden Ferien verbrachte ich meist als Babysitterin im Haus meiner Oma. Die anderen merkten nichts. Sie hatten schließlich unglaublich tolle Ferien gehabt.

„Wie wäre es, wenn wir alle nacheinander erzählen? Sonst versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr bei dem Geschrei.“ Val war die Vernünftigste von uns. „Wer fängt an?“ Sie blickte in die Runde.

Steffi war in den Ferien in Spanien gewesen und hatte einen süßen Spanier kennen gelernt. Stolz zeigte sie uns einige Bilder, die wir ihr beinahe aus den Händen rissen. Sie hatte ja ein riesiges Glück. Ich beäugte neidisch das Bild, auf dem sie mit ihrem Pablo an einem riesigen Pool lag. Von uns vier war ich die Einzige, die noch nie einen Freund gehabt hatte. Lucy war zur Zeit vergeben an David aus unserer Klasse, Val war seit zwei Jahren mit einem Jungen zusammen, den sie aus dem Schulorchester kannte, und Judith hatte zumindest schon einmal einen Kuss bekommen, auch wenn es beim Flaschendrehen gewesen war. Ich seufzte. Die Einzige, für die sich die Jungen bisher nicht interessiert hatten, war ich. Val blickte mich mitfühlend an und zwinkerte, was wohl „der Richtige wird schon kommen“ bedeuten sollte. Na, so sicher war ich mir da nicht mehr.

Nun war Lucy an der Reihe, ihre Ferienerlebnisse mit uns zu teilen, aber in diesem Augenblick kam unser Lehrer den Flur entlang und wir betraten das Klassenzimmer.

„Später“, flüsterte sie mir noch zu.

Natürlich wollte jeder den besten Platz ergattern und so drängten und schubsten sich alle durch die viel zu enge Tür. Schon bald war ich in der wogenden Masse verschwunden und wurde vor und zurückgeschoben. Plötzlich bekam ich einen Stoß von hinten und da ich keinen Platz hatte, um ihn abzufangen, stolperte ich gegen Anna, eine Mitschülerin von mir, die strauchelte und hinfiel. Die Klasse lachte. Sofort war ich bei ihr und half ihr auf. Sie blickte verstört auf ihre Hand und betastete ihren Arm, doch sie schien sich nicht verletzt zu haben. Es dauerte eine Weile, bis jeder einen Platz gefunden hatte, doch schließlich begann der Unterricht.

 ~

In der Mittagspause liefen wir schnell nach draußen in die große Gartenlaube am Rand des Schulgrundstücks. Sie war unser Treffpunkt. Hier konnte man toll quatschen und über Jungs lästern. In diese Ecke des Schulgrundstücks kamen nur selten Schüler und so waren wir einigermaßen ungestört.

„Leute, ihr könnt nicht glauben, was mir in den Ferien passiert ist.“

„Was denn?“

„Wie ihr wisst, hat mir mein Stiefvater zum Geburtstag eine Safari geschenkt.“ Valéries Augen glühten vor Freude.

"Damit du ihn endlich Papa nennst?", grinste Lucy. Ein harter Zug erschien um ihren Mund. Val umarmte Lucy. "Das wird nie passieren. Unser Vater wird immer mein Vater bleiben und nicht dieser Möchtegern, der unsere Familie kaputt gemacht hat", zischte sie. Lucy und Valéries Eltern hatten sich vor etwa einem Jahr getrennt, doch den Mädchen zu liebe, entschlossen sich beide Eltern in der Stadt zu bleiben. So lebte Lucy jetzt zwar bei ihrem Vater und Valérie bei ihrer Mutter und deren neuem Freund, aber die beiden trafen sich sooft es ging.

Oha gefährliches Gebiet, dachte ich. Das schien nicht nur mir so zu ergehen. Judith versuchte sofort das Thema zu wechseln:

„Apropos Geburtstag, am Samstag gibt es ja eine neue Gelegenheit zu feiern".

Da wird unsere Kleinste auch 16, stimmt’s Vicky?“, lachte Lucy und umarmte mich.

Vicky, das war mein Spitzname. Eigentlich hieß ich Victoria, aber Vicky klang nicht so feierlich. Jaja, die Kleinste. Lucy hatte gut reden. Sie und ihre Schwester wurden ja erst nächste Woche 16 und waren damit noch etwas jünger als ich. Doch da die beiden sehr groß waren, sah man ihnen ihr Alter oft nicht an. Was konnte ich dafür, dass ich nur normalgroß war? Dass Judith genauso groß wie ich war zählte nicht. Sie war ja fast ein halbes Jahr älter. Manchmal war das Leben auch einfach ungerecht. Aber als nächstes hatte ich erst mal Geburtstag und eine Idee hatte ich auch schon.

„Ja, darüber wollte ich auch noch mit euch reden.“

„Interessiert es euch gar nicht, was ich erzählen will?“, rief Lucy empört.

„Doch“, lachten wir einstimmig.

Und so erzählte erst Lucy von ihrer tollen Safari und dann Judith von dem Feriencamp auf Mallorca, in dem sie drei Wochen lang gewesen war. Ich konnte nicht viel erzählen. Mein Urlaub war lange nicht so spannend gewesen. Mein Bruder hatte eine von Omas Vasen zertrümmert und ich hatte Ärger bekommen, weil ich nicht aufgepasst hatte. Tolle Ferien.

 

Schließlich hatten wir unsere Urlaubserlebnisse ausgetauscht und das Gespräch wandte sich meinem 16. Geburtstag am kommenden Samstag zu.

„Sag, Vicky, hast du schon was geplant für Samstag?“

„Ich dachte an einen Filmabend mit Cocktails.“

„Das klingt super!“

Genau in diesem Moment klingelte der Schulgong und die Pause war leider schon vorbei.

Lachend rannten wir zurück zum Gebäude mitten durch eine Traube Tussis, die leider auch in unsere Klasse gehörten.

Lotte war die klare Anführerin und insgeheim bewunderte sie jedes Mädchen dafür. Sie hatte lange glänzende rote Haare, eine tolle Figur und ihre Eltern jede Menge Geld. Ihre Stellvertreterin und Freundin war Paulina. Ebenso groß und schlank, aber mit langen blonden Haaren. Mit ihrem Gehabe ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie sich für etwas besseres hielt und seit sie in den Ferien mit Chris dem Klassenschwarm zusammen gekommen war, glaubten das viele auch. Lotte und Paulina hatten viele Anhängerinnen, die die ganze Zeit um sie herumscharwenzelten und ihnen erzählten wie toll sie waren. Warum Chris sich für Paulina und nicht für Lotte entschieden hatte, war meinen Freundinnen und mir schleierhaft gewesen, da Lotte nicht nur gut aussehend und beliebt, sondern auch netter war als Paulina. Aber vielleicht wollte Lotte Chris ja gar nicht.

Ich lachte laut auf und gab mir Mühe mit meinen Freundinnen Schritt zu halten. Da war ich wieder. Die Kleinste.

Kapitel 2

Mitten in der Nacht schreckte ich aus meinen Träumen. Schlaftrunken blickte ich auf meinen Wecker. 00:01 Uhr. Komisch, wovon war ich aufgewacht? Hatte ich schlecht geträumt? Nein, eigentlich nicht. Ich spürte einen seltsamen Druck in meiner Magengegend, wie eine Art Nervosität, eine dunkle Vorahnung. Der Vollmond schien zu meinem Fenster herein. Wie gefesselt starrte ich ihn an. Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch meine linke Schulter. „Au.“ Vorsichtig betastete ich sie, das Gesicht immer noch dem Mond zugewandt. Dank des klaren Himmels war er heute sehr gut zu sehen und sehr hell.

Wie lange ich so dasaß und den Mond anstarrte, weiß ich nicht mehr. Irgendwann schob sich eine Wolke davor und ich konnte meinen Blick abwenden. Sofort hörte der Schmerz auf. Komisch.

Vielleicht hatte ich Durst und war deshalb aufgewacht. Also beschloss ich, in die Küche zu schleichen und mir ein Glas Wasser zu holen. Gesagt, getan.

Ich öffnete den Küchenschrank und nahm ein Glas heraus, mit dem ich zum Wasserhahn ging. Noch leicht verschlafen hielt ich das Glas unter den Wasserhahn, als ich plötzlich merkte, dass das Wasser nicht in mein Glas floss, sondern außen herum. Ich blinzelte. Mein Glas war immer noch leer, aber das Wasser floss ganz normal. Vermutlich war ich so müde, dass ich das Glas neben den Wasserstrahl gehalten hatte. Diesmal achtete ich darauf, das Glas unter das Wasser zu halten und es füllte sich, als wäre nichts gewesen.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch und fuhr herum. Da zerplatzte das Glas in meiner Hand. Vor Entsetzen schrie ich aufund sprang zurück. Heftig atmend lehnte ich mich gegen einen Küchenschrank und versuchte mich zu beruhigen. Sicher hatte ich zu heftig zugedrückt, als ich das Geräusch hörte. Dadurch hatte das Glas einen Sprung bekommen und ich hatte es vor Schreck fallen gelassen. Es gab für alles eine Erklärung.

Erleichtert ging ich zur Spüle um Schaufel und Besenzu holen, aber als ich mir das zerborstene Glas genauer ansah, bekam ich einen neuen Schreck. Das Wasser im Glas war gefroren. Ich war wie erstarrt. Wie war das passiert?! Mein Gehirn suchte verzweifelt eine logische Erklärung, aber es fand sie nicht. Mit dem Besenstiel klopfte ich vorsichtig auf den Eisklumpen, der inmitten von Glasscherben in der Küche lag, als wäre es ein giftiges Insekt oder als könnte er jeden Moment explodieren. Ehrlich gesagt, war ich mir auch nicht ganz sicher, ob das nicht passieren würde. Er bewegte sich nicht. Natürlich nicht. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Wie in Trance sammelte ich die Glasscherben und den Eisklumpen ein und warf alles in den Mülleimer. Dann schlurfte ich zurück in mein Zimmer.

Der Vollmond lächelte wieder klar und hell durch das Zimmer. Ich hatte das Zimmer noch nicht einmal halb durchquert, fing meine linke Schulter erneut an zu brennen. In Windeseile riss ich mir mein T-Shirt vom Leib und starrte entsetzt auf meine Schulter. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Der Schmerz wurde immer stärker, es war kaum mehr auszuhalten. Fast panisch, griff ich nach meinem Kissen und stopfte mir eine Ecke in den Mund. Plötzlich riss meine Haut auf und ich schrie schmerzerfüllt auf. Es war als würde jemand mit einem Messer ein Muster in meine Schulter schneiden. Eine weitere Linie. Erneut schrie ich auf und mir liefen Tränen über das Gesicht. Und noch eine Linie. Das Kissen in meinem Mund dämpfte meine Schreie und doch klang es so, als würde ein Tier geschlachtet werden. Ich glaubte, bewusstlos zu werden, so schlimm waren die Schmerzen jetzt geworden. Von Weinkrämpfen geschüttelt, kniete ich vor meinem Bett, eine Ecke des Kissens im Mund, dem Mond zugewandt und schlug mit meinen Fäusten auf die Matratze, um den Schmerz zu stillen.

Eine Wolke schob sich vor den Mond und so schnell, wie die Schmerzen gekommen waren, waren sie wieder verschwunden. In meinem Zimmer herrschte auf einmal gespenstische Stille. Um mich herum war alles schwarz. Minutenlang saß ich zusammengesunken auf meinen Knien und atmete heftig. Ich wagte es nicht, meine Schulter anzusehen.

Da spürte ich, wie etwas Warmes und Feuchtes meinen linken Arm hinunter lief. Sofort wurde mir eiskalt. Mit meiner rechten Hand fuhr ich vorsichtig über meinen Ellenbogen und schnupperte daran. Blut. Mein Arm war voller Blut. Mir wurde schlecht. Was sollte ich tun? Das Licht anzuschalten traute ich mich nicht, da ich mich vorerst nicht in der Verfassung fühlte, das ganze Blut zu sehen. Ich erinnerte mich an den Erste-Hilfe-Kurs: Blutung stillen. Nicht, dass ich jetzt und hier in meinem eigenen Zimmer verblutete.

Ich sprang auf und sofort drehte sich alles um mich. Haltsuchend lehnte ich mich an meinen Kleiderschrank, bis der Schwindel nachgelassen hatte. Dann schwankte zu meinem Schreibtisch und ignorierte die vielen hellen Pünktchen, die ich zu sehen begann. Jetzt nicht auch noch ohnmächtig werden. Schwer atmend zog ich eine Packung Papiertaschentücher zu mir heran, riss zwei heraus und fing an, wie wild meinen Arm abzuwischen. Ziemlich schnell waren beide feucht und auch das Dritte und das Vierte, obwohl ich meine Schulter noch nicht einmal erreicht hatte. Was machte ich nur? Hörte ich denn nicht mehr auf zu bluten? Mist, jetzt waren auch noch die Papiertücher leer. Im Dunkeln tastete ich über meinen Schreibtisch und konnte mein Glück kaum fassen. Tatsächlich hatte ich ein frisch gewaschenes Handtuch gefunden. Warum es auf meinem Schreibtisch lag, wusste ich nicht, aber das war ja jetzt auch egal. Es war sauber und saugfähig. Erleichtert nahm ich es an mich und meinen gesamten Mut zusammennehmend drückte ich es auf meine Schulter, doch der erwartete Schmerz blieb aus. Ich spürte nur noch ein dumpfes Pochen. Mit dem Handtuch auf die Schulter gedrückt torkelte ich zurück in Richtung Bett. Auf der rettenden Bettkante sitzend versuchte ich meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Irgendwann schien die Blutung nachzulassen. Ich tupfte mit einer noch trockenen Ecke meines Handtuches über meine Schulter und die Ecke blieb trocken. Geschafft. Warum hatte es plötzlich auf meiner Schulter zu bluten begonnen? Hatte ich mich irgendwo geschnitten? Unsinn. Der Schmerz, den der Anblick des Vollmondes mir bereitet hatte, drang urplötzlich wieder in mein Bewusstsein. Es hatte sich angefühlt, als hätte ein Messer meine Haut zerschnitten. Aber es war ja niemand da gewesen. Dennoch war die ganze Schulter voller Blut. Es sei denn…? Das konnte nicht möglich sein. Wenn ich vom Vollmond Phantomschmerzen bekam, dann war das sicher eine Reaktion auf den heutigen Tag oder so. Eine Einbildung. Aber wenn mir der Vollmond eine Wunde zugefügt hatte, dann… ja, was dann? War der Vollmond gewalttätig geworden? Das war doch idiotisch. Vollmond und gewalttätig. Genauso wie “mein Bett hat Aggressionen”. Haha. Ich wurde offensichtlich verrückt.

Es half alles nichts, ich musste mir meine Schulter ansehen. Mit einer zitternden Hand drückte ich auf den Lichtschalter. Das Erste, was ich erblickte, war das Handtuch. Voller Blut. Ich musste würgen und ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.

Ganz langsam drehte ich den Kopf nach links. Ich hatte panische Angst, was wohl dort auf meiner Schulter war. Mein Herz klopfte wie verrückt. Zuerst einmal war meine Schulter nur rot. Rot vom mittlerweile getrockneten Blut. Ekelhaft. Ich wollte das Zeug schnell loswerden, also stand ich auf, lief mit zitternden Knien ins Bad und schaltete das Licht an. Aus dem Spiegel starrte mir ein leicht gerötetes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen entgegen.

Mein Blick wanderte zu meiner linken Schulter. Ich musste mich zusammenreißen, damit ich nicht schrie. “Weg mit dem Blut”, war das Einzige, was ich dachte. “Mach es weg.” Mit bebenden Fingern, zerrte ich einen Waschlappen aus der Schublade, hielt ihn unter das Wasser und wrang ihn schließlich aus. Ganz vorsichtig begann ich meine Schulter sauber zu wischen. Doch das, was unter all dem getrockneten Blut zum Vorschein kam, brachte mich erneut an den Rand einer Ohnmacht. Mit einem kleinen spitzen Schrei ließ ich den Waschlappen fallen. Auf meiner Schulter war eine sternförmige Wunde. Ein Pentagramm. Das Hexenmal.

Jetzt bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Phantomschmerzen okay, eine blutende Schulter war noch irgendwie zu erklären, aber ein eingeritztes Pentagramm? Wie zur Hölle war das da hingekommen? Und viel wichtiger: Warum hatte ich einen Drudenfuß auf der Schulter? Wie bekam ich ihn wieder weg?

Ein Geräusch durchbrach meine Gedanken. Meine Eltern waren wahrscheinlich aufgewacht. Wenn sie ins Bad kommen und meine Wunde sehen würden...

Panisch riss ich die Tür auf und rannte auf leisen Sohlen in mein Zimmer. Gott sei Dank hatten sie nichts gemerkt. Normalerweise konnte ich meinen Eltern alles erzählen, aber ich war mir sicher, dass sie das Pentagramm nicht so cool aufgenommen hätten. Von Panik bis “Wieso ritzt du dich?”, konnte ich mir alles als Reaktion vorstellen. Und das konnte ich momentan überhaupt nicht gebrauchen.

Schnell kroch ich unter die Bettdecke, löschte das Licht und zog das blutige Handtuch ebenfalls darunter. Gerade noch rechtzeitig, denn eine Sekunde später öffnete meine Mutter die Tür.

„Schläfst du?“, flüsterte sie.

Ich gab keine Antwort und bemühte mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.

Nach einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, schloss sie die Tür leise wieder. Vor der Tür hörte ich meinen Vater fragen, was denn los sei. Und in diesem Augenblick, schon bevor meine Mutter antwortete, wusste ich, was passiert war. Sie hatten den blutigen Waschlappen gefunden, den ich fallen gelassen hatte. Mist.

Dafür würde ich mir morgen früh eine gute Ausrede einfallen lassen müssen. Nasenbluten zum Beispiel.

Eine seltsame Mutlosigkeit überkam mich. Was war nur los mit mir? Ich hatte das Hexenmal auf meiner Schulter! Von den ganzen Ereignissen war ich so durcheinander, dass ich beschloss, mir nachher erst den Kopf darüber zu zerbrechen. Jetzt war ich viel zu müde, als dass etwas Sinnvolles dabei herausgekommen wäre. Heute war wahrscheinlich die seltsamste Nacht meines Lebens gewesen. Kopfschüttelnd zog ich die Vorhänge vor meinem Fenster zu und schloss den Vollmond aus.

Kapitel 3

Am Morgen wachte ich früh auf. Es war noch dunkel draußen. Ich fühlte mich wie gerädert. Deshalb beschloss ich, weiterzuschlafen und drehte mich auf die linke Seite, da schoss ein sengender Schmerz in meine linke Schulter. Plötzlich war ich hellwach. Mit dem Schmerz kam die Erinnerung an die vergangene Nacht.

Ich blickte auf meinen Kalender. Heute war mein Geburtstag. Hatte ich das alles nur geträumt? Hoffentlich. Ich setzte mich auf und mein Blick fiel auf meine linke Schulter. Entgegen aller Hoffnungen prangte ein leuchtend dunkelrotes Pentagramm darauf. Also nicht geträumt. Vorsichtig fuhr ich mit der Hand über das verkrustete Blut. Unter meiner Berührung schien einer der Zacken des Pentagramms bläulich zu schimmern, aber ich konnte es mir auch eingebildet haben.

Was nun?

„Nicht verzagen, Google fragen“, murmelte ich leise und obwohl mir wirklich nicht danach war, musste ich grinsen. Wenn ein Schüler eine Definition braucht, wen fragt er zuallererst? Nicht den Lehrer, sondern das gute alte Wikipedia.

Vielleicht konnte es mir auch bei der unschönen Verzierung auf meinem Arm weiterhelfen. Ich tippte also Pentagramm ein und erhielt folgende Antworten: Zum einen schien es ein Symbol für Gesundheit darzustellen und war ein Zeichen für den Kreislauf des ewigen Lebens. Vielleicht war ich ja jetzt unsterblich oder unverwundbar? Nein, das sicher nicht. Außerdem sollte es die fünf Wunden Jesu Christi versinnbildlichen. Das alles war ja schön und gut, aber ich hatte nicht fünf Wunden, sondern nur eine und jetzt, da ich an sie dachte, fing meine Schulter unangenehm an zu jucken.

Die Freimaurer verwendeten das Pentagramm auch sehr häufig, da es die fünfte Wissenschaft, die Geometrie darstellen sollte und somit Vernunft repräsentierte.

Irgendwie half mir das alles nicht wirklich weiter.

Weitere symbolische Deutungen seien angeblich die fünf Elemente Wasser, Erde, Luft, Feuer und Äther oder die vier Himmelsrichtungen, wobei ich mich fragte, wie sie in fünf Zacken vier Richtungen unterbrachten. Alles ziemlich seltsam.

Im Mittelalter war es auch ein Bannzeichen gegen das Böse und gegen Dämonen.

Also für den Fall, dass es wirklich gegen Dämonen war, funktionierte es wohl nicht richtig. Denn mit diesem komischen Teil auf der Schulter sah ich vielmehr wie ein Dämon aus.

Alles in allem hatte ich also viele verschiedene Informationen gefunden, aber nichts, das mir erklärte, warum ich jetzt so ein Ding mit mir herumtragen musste. Warum ließ mich Wikipedia ausgerechnet heute im Stich?

Passend dazu hörte ich, wie es im Schlafzimmer meiner Eltern lebendig wurde. Na toll, und was sollte ich jetzt machen? Verdammt. Wenn sie mich mit dem Teil auf der Schulter sähen, dann hatte ich ein Riesenproblem. Also musste ich meine Schulter vor ihnen verstecken, bis ich eine Möglichkeit gefunden hatte, dieses Pentagramm wieder zu entfernen.

Genau in diesem Moment öffnete sich meine Zimmertür. Ich warf mich zurück ins Bett und zog die Decke bis ans Kinn.

„Guten Morgen, Mäuschen. Alles Gute zum Geburtstag.“ Das war meine Mutter.

Ich gähnte demonstrativ und tat so, als wäre ich eben erst aufgewacht.

„Guten Morgen.“

„Na los, aufstehen, du Langschläferin, das Frühstück ist fertig. Außerdem müssen wir uns beeilen, du kommst sonst zu spät in die Schule.“

„Ich bin gleich da“, antwortete ich, machte aber keine Anstalten, mich aufzusetzen. Gott sei Dank war es die linke Schulter, von meiner Mutter abgewandt

„Sag mal, gehört dir der blutige Waschlappen im Bad?“

„Oh ja. Tut mir leid. Ich hatte gestern Nacht plötzlich richtig heftiges Nasenbluten und das war das Einzige, was ich auf die Schnelle gefunden habe, was die Blutung stoppen könnte.“

„Dann ist ja gut. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Kommst du dann frühstücken?“

„Bin gleich da.“ Noch immer blieb ich unter der Decke stecken. Meine Mutter blickte mich mit leichtem Stirnrunzeln an, lächelte dann leicht, drehte sich um und zog die Türe wieder zu. Einige Sekunden blieb ich noch liegen, für den Fall, dass sie zurückkäme, dann warf ich die Decke von mir und sprang aus dem Bett. Was sollte ich anziehen? Doch als ich mich zu meinem Schrank umdrehte, bekam ich einen neuen Schreck und konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken, der sicher sofort meine Mutter geholt hätte. Am Schrank klebte eine weitere unschöne Überraschung. Als ich in der Nacht auf der Suche nach etwas war, um meine Blutung zu stillen, hatte ich mich kurz an den Schrank gelehnt und einen wunderschönen Abdruck hinterlassen. Etwa in Schulterhöhe war ein Blutfleck, der nach oben hin zweieinhalb Zacken hatte und als rote Spur nach unten in auslief. Gott sei dank konnte man von der Türe nicht auf den Schrank schauen, sonst hätte meine Mutter mir das Nasenbluten definitiv nicht geglaubt. Ich war mich ja selbst jetzt nicht sicher, ob sie es mir abgekauft hatte. Denn so viel Blut, wie im Waschlappen war, konnte unmöglich aus einer Nase kommen. Suchend sah ich mich nach weiteren Spuren um. Und siehe da, auf den Klamotten und anderen Dingen, die bei mir auf dem Boden lagen, waren vereinzelt Blutstropfen. Ein kleines Schlachtfeld. Mein Herz begann sofort wieder schnell zu klopfen. Ich konnte von Glück reden, dass meine Mutter nichts davon gesehen hatte. Schnell schoss ich mit meinem Handy ein Foto von dem Schrank. Vielleicht konnte mir jemand erklären, was mit mir geschah und ich würde dieses Bild brauchen. Doch ich musste aufpassen, dass es sonst niemand zu Gesicht bekam.

In Windeseile warf ich die verdächtigen Klamotten auf einen Haufen und säuberte Schrank und Schreibtisch. Immer wenn ich den linken Arm benutzte, spannte die verkrustete Wunde gefährlich und ich hatte Angst, dass sie gleich wieder aufreißen würde. Schließlich waren alle verdächtigen Spuren beseitigt und ich suchte mir eine Jeans und ein dunkles Oberteil aus meinem Schrank. Für den Fall, dass die Wunde aufriss, wollte ich nicht plötzlich auf meiner Schulter ein dunkelrotes feuchtes Pentagramm durch den Stoff scheinen sehen. Und bei schwarz sah man es wenigstens nicht. Zur Sicherheit steckte ich einige Päckchen Taschentücher in meinen Ranzen.

Aufs Duschen verzichtete ich heute, nicht, dass jemand die Wunde sah oder sie wieder zu bluten anfing. Ich fuhr mir nur schnell mit einem feuchten Waschlappen über das Gesicht, um den Rest Müdigkeit zu vertreiben, und stieg angezogen die Treppe hinunter in die Küche.

Meine Familie saß bereits am Tisch und wartete nur auf mich.

„Guten Morgen“, sagten sie einstimmig und meine Mutter fügte im gleichen Atemzug hinzu: „Hol doch bitte noch ein Glas aus dem Schrank.“

„Mach ich.“

Als ich die Hand am Türgriff hatte, durchzuckte mich eine Erinnerung wie ein Déjà-vu.Viele Bilder flitzten in rasender Geschwindigkeit vor meinem inneren Auge entlang. Das Wasser, was nicht ins Glas floss, der Eisklumpen inmitten der Scherben, dann die Wunde und das blutige Handtuch.

Das Pentagramm auf meiner Schulter war echt, so viel stand fest. Doch hatte ich das mit dem Glas nicht geträumt?

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte mein Vater und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich drehte mich um. Meine Familie blickte mich erstaunt an. Da realisierte ich, dass ich immer noch vor dem geschlossenen Schrank stand, die Hand am Griff. Kein Wunder, dass sie so erstaunt waren. Durch meine Überlegungen hatte ich die Realität völlig vergessen. Ich lachte, öffnete den Schrank und nahm ein Glas heraus. Damit ging ich zum Tisch und setzte mich. Der Tisch war wunderschön gedeckt, sogar frische Blumen standen in einer Vase und eine Geburtstagstorte mit 16 Kerzen. Hatte ich schon erwähnt, dass meine Mutter die weltbeste Kuchenbäckerin war? Zumindest für mich.

„Los, mach Kerzen aus, ich will Kuchen“, quängelte mein fünfjähriger Bruder Flori.

„Ja, wünsch dir was Schönes“, versuchte meine Mutter seine Forderung abzuschwächen.

„Ich muss bald los in die Arbeit“, fügte mein Vater hinzu.

Ziemlich nervig, wenn man an einem Schultag Geburtstag hatte. Aber auch ich wollte ein Stück Torte und so hielt ich kurz inne und überlegte. Was sollte ich mir wünschen? Ich hatte tolle Freundinnen, eine super Familie. Bis auf die Tatsache, dass ich noch ungeküsst war, war mein Leben eigentlich ziemlich perfekt - perfekt gewesen. Denn dass ich seit heute Nacht ein unheimliches Pentagramm auf meiner Schulter mit mir herumtrug war wohl ziemlich abnormal und alles andere als perfekt. Irgendwas stimmte mit diesem Pentagramm nicht und ich vermutete, das komische Ding war erst der Anfang. Und das Ding wegzuwünschen ging sicher nicht. Was also dann? Ich blickte auf und sah die freudigen Gesichter meiner Familie mich anblicken. Konnte ich es ihnen erzählen? Was sollte ich mir wünschen? Mein Kopf war wie leergefegt.

"Mach schon", nörgelte mein Bruder erneut und holte mich aus meinen Gedanken. Kein Babysitting nächstes Jahr. Ich möchte nächstes Jahr im Sommer in den USA Urlaub machen, wünschte ich mir und pustete die Kerzen aus. Im selben Moment, fühlte es sich an, als hätte ich den Wunsch verschwendet. Doch gleich darauf  krakeelte Flori laut "Kuchen!" und der Wunsch war vergessen.

Meine Mutter schnitt den Kuchen auf und gab jedem ein Stück auf den Teller. Der Kuchen war wirklich lecker, doch irgendwie ging mir die gestrige Nacht nicht aus dem Kopf. Und immer wieder drehte ich meinen Kopf und fragte mich, ob im Mülleimer Glasscherben liegen würden. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich brauchte Gewissheit, ich musste nachsehen.

Als ich den Kuchen gegessen hatte, erhob ich mich und stellte den leeren Teller auf die Spülmaschine. Einmal holte ich tief Luft und ging zur Spüle. Meine Hand am Türgriff, hielt ich inne. Was, wenn Scherben darin waren? Was, wenn dieser seltsame Eisklumpen darin war? Was dann? Langsam öffnete ich die Tür. Im Mülleimer lagen Glasscherben und der Eisklumpen war wohl auch da gewesen, nur hatte sich dieser bereits aufgelöst, denn unverkennbar war alles ziemlich feucht. Entsetzt von dieser Entdeckung wurde mir schwindelig.

Meine Mutter kam in die Küche.

„Warum starrst du den Mülleimer an?“, wollte sie verwundert wissen.

„Tu ich das? Nein, ich starre nicht den Mülleimer an, ich hatte nur… ich war nur eben in Gedanken“, antwortete ich ziemlich verwirrt und verschwand schleunigst in mein Zimmer, bevor ich weitere Fragen gestellt bekam, die ich nicht beantworten konnte.

Dort sah ich mit Schrecken, dass es bereits sehr spät war und mich ziemlich beeilen musste, um nicht zu spät in die Schule zu kommen.

Kapitel 4

In der Schule wurde ich von meinen Freundinnen fröhlich begrüßt und umarmt. Nach und nach kamen alle Klassenkameraden zu mir und wünschten mir alles Gute. Ich war glücklich und hatte die seltsamen Erlebnisse der Nacht bereits verdrängt, doch schon bald holten sie mich wieder ein.

Heute hatte ich erst zwei Stunden Physik, dann Chemie und am Schluss Mathe. Normalerweise mochte ich Donnerstage nicht besonders, aber da heute mein Geburtstag war, beschloss ich, mir die Laune von den Fächern nicht verderben zu lassen. Allerdings wurde mein guter Wille auf eine harte Probe gestellt. Mein Lehrer war zwar zu Beginn glänzender Laune und riss einen Witz über die drei Elemente (Wie heißen die drei Elemente? Luft, Erde und Feuerwasser), den er überaus lustig fand, aber seine Laune trübte sich sofort, als er sah, dass die Tafel nicht gewischt war. Wenn er irgendetwas hasste, dann waren es ungewischte Tafeln. Er taxierte uns reihum mit seinem stechenden Blick und zeigte auf einen Schüler, der unter seinen Argusaugen die Tafel blitzblank wischen sollte. Und dieser Schüler war ich. Na toll. Schönes Geburtstagsgeschenk, dachte ich. Ergeben seufzend ging ich vor zur Tafel, nahm den Schwamm aus der Ablage und öffnete den Wasserhahn. Sofort spritzte eine riesige Fontäne hervor und mit einem lauten Schrei warf ich mich geistesgegenwärtig auf den Boden. Die Wassermassen schossen über mich hinweg und trafen meinen Lehrer mitten ins Gesicht. Dieser stolperte rückwärts und begann zu fluchen. Immer mehr Wasser strömte aus dem geöffneten Wasserhahn und sammelte sich vor der Tafel in der Luft wie eine riesige tropfende Kugel. Ich traute meinen Augen kaum, aber auf einmal schwebte die Wasserkugel in Richtung meiner Klassenkameraden und begann, die Schüler anzugreifen. Richtig! Dünne Wasserschnüre zischten aus dem Wasserball und peitschten einigen Schülern auf die Köpfe, ins Gesicht oder auf die Hände. Andere wiederum glitten wie Schlangen über die Tischreihen und setzten gleichsam alles unter Wasser, was sich darauf befand. Schreiend und kreischend suchten alle das Weite, nur ich lag immer noch unter dem Waschbecken, unfähig, mich zu rühren. Plötzlich saugte der Wasserball die Schnüre wieder ein und schwebte drohend vor zum Lehrerpult. Ich drückte mich enger in die Nische und bibberte vor Angst. Hoffentlich entdeckte er mich nicht. Oder war es ein es? War es überhaupt ein Lebewesen? Die Kugel bestand ja eigentlich nur aus Wasser, aber aus unerfindlichen Gründen schien sie sich selbstständig bewegen zu können. Und als hätte sie verstanden, was ich dachte, kam sie langsam und unaufhaltsam auf mich zugeschwebt. Was konnte ich nur tun? Weglaufen kam nicht infrage. Mein ganzer Körper schlotterte so vor Angst, dass ich sicher nach ein paar Metern hingefallen wäre. Denk nach! Wenn ich es erhitzen könnte, wäre die Kugel Wasserdampf. Aber dazu bräuchte ich wohl einen Flammenwerfer. Ich verwarf die Idee. Die Kugel war mittlerweile nur noch etwa einen Meter von mir entfernt und bereits auf einen Durchmesser von bestimmt anderthalb Metern angeschwollen. Abwehrend streckte ich meine Hände aus, als wollte ich sie verscheuchen und tatsächlich hielt sie an. Ich fuchtelte erneut probehalber mit den Händen und die Kugel zuckte zurück. Langsam kroch ich unter dem Waschbecken hervor und stand auf, immer weiter mit den Händen wedelnd. Jeden Schritt, den ich mich vorwärts bewegte, schwebte sie zurück. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und mein Physiklehrer kam mit Verstärkung hereingestürmt. Die Kugel gab mir einen heftigen Stoß vor die Brust, sodass ich rückwärts hinfiel, sauste über den Lehrertisch und nahm dabei die ganzen Papiere in sich auf, die darauf lagen. Dann machte sie einen Satz und sprang zum Fenster raus. Fassungslos und bewegungsunfähig starrte ich ihr nach. Erst mein Lehrer riss mich aus meiner Starre.

„Victoria, ist dir etwas passiert?“ Er kniete neben mir.

Weitere Lehrer waren ins Klassenzimmer gekommen und da sah auch ich die Verwüstung, die diese Wasserkugel angerichtet hatte. Alles lag durcheinander. Stühle waren umgeworfen, Hefte zerrissen und durchnässt und einige Bechergläser, die auf einem Nebentisch standen, waren umgeworfen und zerbrochen. Zerbrochen war auch die Fensterscheibe, durch die sich das Monster hinausgestürzt hatte.

Vorsichtig stand ich auf.

„Was war das?”, fragte ich und verwünschte im selben Augenblick meine Zähne, die munter drauflos klapperten.

Ich bekam keine Antwort.

Meter für Meter ging ich auf das Loch in der Fensterscheibe zu, jederzeit bereit zurückzuspringen, sollte die Kugel wiederkommen. Unten im Rasen vor der Schule bot sich mir ein komischer Anblick. Ein Kreis von etwa 1,5 Metern war mit weißem Papier gekleistert. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass da unten das Unterrichtsmaterial meines Lehrers lag. Die Kugel hatte wohl genau dort den Erdboden getroffen und war im Boden verschwunden. Nur das Papier war noch übrig. Ich grinste. Obwohl es ein Riesenschock gewesen war, dieser Kugel ausgeliefert zu sein, freute ich mich doch insgeheim, dass der Physikunterricht für diesen Tag wohl gelaufen war.

Also beschloss ich, meine Schulsachen einzupacken, die wie durch ein Wunder noch trocken waren, und meine Freundinnen zu suchen. Die Lehrer tappten immer noch wie eine Horde verwirrter Tiere im Zimmer umher und begutachteten Wasserhahn und Fensterscheibe ohne sich einen Reim auf das Geschehen machen zu können.

Meine Freundinnen saßen im Aufenthaltsraum, genauso wie alle anderen, die im Raum gewesen waren. Bis auf mich.

Sorge, Panik und Angst stand in ihren Gesichtern, doch auch Erleichterung.

„Vicky, wo warst du?“

„Wir dachten, dieses Ungeheuer hätte dich erwischt.“

Der Reihe nach nahmen sie mich in die Arme.

„Mir geht’s gut“, antwortete ich, doch sie sahen mich zweifelnd an.

„Sie steht wohl noch unter Schock“, flüsterte Lucy Steffi zu.

„Hey Leute, ich kann euch hören. Wirklich, mir geht es gut.“

Wir gingen zu einer kleinen Sitzgruppe und ließen uns nieder.

„Was ist noch passiert?“, wollte Judith wissen. Von den vieren sah sie am gelassensten aus. Mit einem Grinsen zog sie einen Kaugummi aus ihrer Tasche und begann genüsslich zu kauen.

„Die Kugel hat das Unterrichtsmaterial aufgesaugt und ist aus dem Fenster gesprungen“, fasste ich ziemlich nüchtern zusammen.

„Warum bist du nicht weggerannt, als wir es dir zugerufen haben?“, fragte mich Lucy vorwurfsvoll.

„Was?“, antwortete ich erstaunt. „Das habe ich gar nicht gehört.“

„Du saßt unter dem Waschbecken und hast die Kugel angestarrt wie der Hase die Schlange.“

Ich lachte. „Ich war wie erstarrt.“

„Was das wohl für ein Ding war?“, fragte Valérie schaudernd.

„Ich weiß es nicht, aber normal war das nicht“, antwortete Steffi düster.

„Zuerst dachte ich, dass ich verrückt werde“, gab ich zu. Ich überlegte, ob ich ihnen von meinem seltsamen Mal erzählen solle, doch irgendwas hielt mich zurück. Die Angst, dass sie mir nicht glauben oder mich abweisen würden. Eigentlich hatte ich ihnen bisher alles anvertraut.

„Warum denkst du, du wirst verrückt?“, wollte Steffi wissen.

Gott sei Dank betrat in diesem Moment mein Physiklehrer den Aufenthaltsraum und so konnte ich mich vor einer Antwort drücken. Wir sollten unsere Schulsachen aus dem Raum holen. Ich sprang sofort auf, obwohl ich meine Schulsachen bereits bei mir hatte, und merkte nicht, dass sich Lucy und Steffi einen Blick zuwarfen und die Augenbrauen hochzogen.

 

In der großen Pause saßen wir zusammen an einem Fenster im Gang vor dem Chemieraum. Da lief unser Oberklassenclown an uns vorüber, ließ sich zu Boden fallen und starrte an die Decke.

„Bitte tu mir nichts“, heulte er übertrieben und hob die Hände nach oben.

„Ich tu alles, was du willst, oh große böse Wasserkugel.“

Meine Klassenkameraden wieherten fast. Erst da wurde mir bewusst, dass er mich nachmachte und sofort schoss Blut in meine Wangen. Lachend stand er auf. „Heulsuse“, rief er mir zu, rieb sich die Augen und machte laut „Wääääh“.

Meine Freundinnen blieben stumm. Fragend schaute ich sie an.

„War es wirklich so?“

„Nein“, beeilte sich Steffi zu sagen. „Aber es sah schon etwas seltsam aus, wie du da unter dem Waschbecken rumgekrochen bist.“

Na danke, dachte ich leicht erbost. Wer ist denn hier so schnell weggerannt, wie es nur ging? In diesem Augenblick riss mich ein lauter Schrei aus meinen Gedanken.

Ein paar Meter entfernt stand Clownie und hielt eine Dose Cola in der Hand, aus der es nur so spritzte und schäumte. Schon bald war er über und über mit dem klebrig süßen Zeug bedeckt. Geschieht dir recht, dachte ich.

„Wer war das?“, fluchte er und blickte umher.

Ich bemühte mich rasch, einen neutralen Gesichtsausdruck zu machen.

Gerade kam unsere Chemielehrerin die Treppe hoch, schloss die Türe auf und ließ uns hinein. Nach der Begrüßung wurden wir in Gruppen eingeteilt und sollten Experimente durchführen: Eine wässrige pinke Lösung erhitzen und beobachten. Wir bauten also brav die Versuchsanordnung auf: Schutzplatte, Reagenzglasständer, Reagenzgläser, ein großes Becherglas, Heizplatte und Schutzbrillen und begannen zu experimentieren. Das Wasser im Becherglas war schon am Kochen, als plötzlich ein Luftzug durch den Raum pfiff und ich fröstelte. Vor meinen Augen begann das gerade noch kochende Wasser einzufrieren und mir wurde schwindlig. Viele kleine schwarze Punkte tanzten in meinem Blick herum. Doch geistesgegenwärtig griff ich danach und sprang auf mit den Worten: „Ich fülle wohl noch etwas Wasser rein.“ Meine Freundinnen sahen sich fragend an.

Warum ich nicht wollte, dass sie das gefrorene Wasser sahen, wusste ich selbst nicht. Ich hatte nur den Verdacht, dass die ganzen seltsamen Ereignisse etwas mit mir zu tun hatten. Siedend heiß fiel mir das Pentagramm ein. Damit hatte es wohl zu tun, dass heute Nacht das Glas geplatzt und das Wasser gefroren war, genauso wie eben. Und diese riesige Wasserblase? Die war dann wahrscheinlich von mir. Stöhnend lehnte ich mich im Nebenzimmer an die kalte Fensterscheibe. So langsam drehte ich wohl durch. Vorsichtig hielt ich das Becherglas tief in das Waschbecken und kippte es vorsichtig. Und wie heute Nacht rutschte ein Eisbrocken heraus und fiel ins Waschbecken.

Gerade wollte ich den Wasserhahn öffnen, um es erneut zu füllen, da durchzuckte mich eine Erkenntnis. Es war Wasser gewesen, das heute gefroren oder explodiert war. Woher wusste ich, dass der Spuk nun vorbei war? Wer weiß, vielleicht explodierte der Wasserhahn, wenn ich ihn öffnete. Eine große Angst ergriff von mir Besitz. Sollte ich von nun an kein Wasser mehr berühren dürfen? Mich nicht mehr waschen? Und nichts mehr trinken? Aber ich musste das Becherglas füllen, sonst würden meine Freundinnen wer weiß was denken. Entweder Freundinnen, die mich für verrückt hielten oder ein explodierender Wasserhahn? Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, hätte ich keines von beidem gewählt. Nur leider hatte ich keine. Vorsichtig öffnete ich den Wasserhahn und sprang im selben Augenblick weit zurück. Nichts passierte. Das Wasser lief normal ins Waschbecken. Langsam begann ich, an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Mit dem Becherglas in der Hand ging ich zurück zu meinen Freundinnen. Sie waren zwar nicht begeistert, dass wir noch einmal warten mussten, bis das Wasser sieden würde, sagten aber nichts.

Der Rest des Tages verlief einigermaßen ereignislos. Als ich nachmittags daheim war, öffnete ich meine Geschenke. Eine neue Digitalkamera kam zum Vorschein und ein neues Tagebuch. Letzteres hatte bei uns irgendwie Tradition.

Als ich mich abends umzog, bemerkte ich, dass das Mal auf meiner Schulter bereits zu heilen schien. Vorsichtshalber schmierte ich etwas Creme darauf. Und wieder, als ich vorsichtig darüberstrich, verfärbte sich die rechte mittlere Zacke leicht bläulich. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, aber da ich momentan vieles nicht verstand, verwunderte es mich nicht sonderlich.

In der Nacht träumte ich von zwei Fischen, die durch tiefblaues Wasser schwammen. Plötzlich stiegen sie immer weiter auf und verließen das Wasser. Gefangen in einer blauen tropfenden Kugel.

Erschrocken wachte ich auf. Die gleiche Kugel war gestern durch den Physikraum geschwebt.

Was würde wohl heute verrücktes passieren?

Naja, verglichen mit gestern war es wirklich nicht viel. Ich musste in Deutsch wieder die Tafel wischen. Diesmal explodierte zwar nicht der Wasserhahn, aber der Tafelschwamm fing plötzlich an zu kochen und ich warf ihn in hohem Bogen von mir, was mir ein paar Lacher seitens der Klasse und einen schiefen Blick von meinem Lehrer einbrachte. Zum Glück war der Schwamm so schnell wieder abgekühlt, wie er zu kochen begonnen hatte und niemand schöpfte Verdacht.

Zum Mittagessen wollte ich daheim ein Glas Saft trinken und gab vorsichtshalber drei Eiswürfel zu, dass ich sofort sehen würde, falls sich es aus unerfindlichen Gründen erhitzte. Leider trat genau das Gegenteil ein. Als ich einen Schluck trank, gefror das Wasser in meinem Mund. Meine Zunge war in einem Eisklumpen gefangen, der leider im Glas endete. Meine Mutter war glücklicherweise gerade mit ihrem Mittagessen beschäftigt, sodass sie nicht merkte, was mit meiner Zunge passiert war. Ich lief in die Küche, stellte das Glas ab und verschwand in den Flur. Im Spiegel sah ich die Bescherung. Meine Zunge hatte nun einen gefrorenen Vorbau, der etwa zehn Zentimeter aus meinem Mund raushing. Toll. Und was jetzt? Ich zog kräftig daran, aber es war wirklich gut mit meiner Zunge verbunden. Verdammt. Vielleicht konnte man es mit einem Hammer in Stücke schlagen. Schnell lief ich in den Keller, holte mir einen Hammer aus dem Werkzeugkoffer meines Vaters und huschte damit in mein Zimmer. Dort wickelte ich meine Zunge und den Eisklumpen in ein Handtuch ein, legte ihn auf meinen Schreibtisch und kniete mich davor. Dann schlug ich mit dem Hammer auf meine Zunge, betend, dass jetzt niemand ins Zimmer kommen würde. Nach einigen Hammerschlägen war das Eis gebrochen und ich bekam meine Zunge wieder frei.

Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Augenblick kam meine Mutter ins Zimmer.

„Was machst du denn? Dein Essen wird kalt.“

„Ich…“ Mir fiel beim besten Willen keine Ausrede ein, aber meine Mutter schien keine Antwort zu erwarten.

„Wir müssen nachher noch für deine Geburtstagsparty heute Abend einkaufen, vergiss das nicht.“

„Okay.“

Kapitel 5

Beim Einkaufen versuchte ich mich von allen Flüssigkeiten fernzuhalten, aus Angst, dass sie plötzlich auch verrückt spielten. Doch leider war das Glück heute wieder so gar nicht auf meiner Seite.

Wir waren beinahe schon bei der Kasse, da fiel meiner Mutter ein, dass wir noch keine Getränke hatten.

„Gehst du noch schnell in die Getränkeabteilung? Such dir zwei Flaschen raus, die du möchtest.“

„Nein, ist schon okay, wir trinken heute nur Saft und Wasser.“

„Aber du musst doch deinen Freundinnen auch etwas anderes anbieten können.“

„Das macht denen bestimmt nichts aus.“

„Los geh’ und hol dir zwei Flaschen.“

„Ist ja gut.“

Mir rutschte das Herz in die Hose, als ich die Regalreihe mit den Flüssigkeiten betrat. Panisch hielt ich Ausschau, ob irgendeine Flüssigkeit aussah, als würde sie gleich gefrieren oder kochen. Aber alles blieb ruhig. Ich nahm zwei Plastikflaschen aus dem Regal, in der Hoffnung, dass wenn diese gefrieren würden, die Flasche nicht kaputt ginge. Aber meine Rechnung ging nicht auf. Kaum, dass ich die zweite Flasche in meiner Hand hielt, fing der Inhalt an zu sprudeln. Entsetzt stellte ich die Flaschen auf den Boden und suchte das Weite. Hinter mir hörte ich, wie die Deckel der Flaschen aufsprangen und sich die klebrige Flüssigkeit über Regale, Einkaufswägen und Kunden verteilte. Schnell verschwand ich in der nächsten Regalreihe. Säfte. Na gut, neuer Versuch.

Mit den Säften kam ich heil zur Kasse und heil nach Hause. Aber von Flüssigkeiten hatte ich für heute genug. Leider war der Tag noch nicht zu Ende. Mir schwante Übles, als ich an die Cocktailparty dachte, die ich heute mit meinen Freundinnen bei mir machen wollte. Cocktails waren leider ziemlich flüssig. Zu flüssig.

Ich half meiner Mutter bei den Vorbereitungen für die Party, aber von der Küche und allen Flüssigkeiten versuchte ich mich fernzuhalten. Am Abend kamen meine Freundinnen. Wir wollten uns einige Cocktails machen und bis Mitternacht Filme schauen, doch schon das Zubereiten gestaltete sich als schwierig. Ich stellte meinen Freundinnen Gläser hin, die Zutaten hatte meine Mutter schon bereitgestellt.

„Hier habe ich einige Rezepte. Sucht euch aus, was euch am besten gefällt und mixt sie euch zusammen. Eiswürfel haben wir in der untersten Schublade unseres Eisschrankes. Judith, du weißt ja wo.“

„Und was machst du solange?“

„Ich ähm, mache ein paar Orangenscheiben, die können wir noch ans Glas stecken“, antwortete ich geistesgegenwärtig und griff mir eine Orange.

Meine Freundinnen schauten mich fragend an.

„Vicky, ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, prima, alles bestens.“

Der Versuch, zu grinsen, endete wahrscheinlich in einer Grimasse, denn meine Freundinnen wirkten nicht überzeugt.

„Na ja, ich habe etwas schlecht geschlafen und bin schon irgendwie aufgeregt.“

„Na, das verstehen wir doch“, lächelte Val.

Die Orangen waren schnell geschnitten, also drehte ich mich um, um mich zu vergewissern, dass mit den Zutaten alles in Ordnung war. Lucy hob in diesem Moment die Flasche mit dem Sirup an. Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht vor Schmerz und sie schrie auf.

„Au, ist die heiß!“

Steffi stupste ebenfalls vorsichtig an die Flasche.

„Das Zeug kocht ja.“

Sie schauten mich an.

„Ich hab keine Ahnung, wie das passiert ist, ehrlich. Kühlt euch am besten eure Hände unter dem Wasserhahn, ich geh’ eben auf Toilette.“

Zu spät fiel mir ein, dass sich in diesem Raum auch gefährlich viel Wasser befand. Fluchtartig verließ ich ihn wieder.

Lucy grinste über meinen Fluchtversuch.

„Hast du eine Spinne gesehen?“

„Nein, ich… Ja, ich dachte, da wäre eine gewesen. Ich schalte schon den Fernseher an, okay?“

„Ja, mach nur. Wir kommen mit den Cocktails gleich nach.“

Schließlich saßen wir alle vor dem Fernseher. Meine Freundinnen mit den Cocktails in der Hand, meiner stand auf dem Couchtischchen. Ich war schon beinahe mit den Nerven am Ende. Was stand mir wohl noch bevor? Das Licht war aus und wir freuten uns auf den Film. Gerade kam noch Werbung. Steffi und Judith lachten über einen Witz. Zack, plötzlich war der Bildschirm schwarz. Ich wunderte mich, ob vielleicht der Fernseher kaputt sei, doch plötzlich ertönte eine männliche, geheimnisvolle Stimme: „Die Welt braucht dich! Versuch, dich zu erinnern!“

Fragend blickten wir uns an.

„Was soll man denn kaufen? Wofür werben die?“, fragte Val verwundert, aber wir wussten die Antwort ebenso wenig wie sie.

Steffi nahm die Fernbedienung und schaltete um. Im nächsten Kanal war das Bild ebenfalls schwarz. Und im übernächsten auch. Schnell zappte ich durch die Kanäle. In jedem Sender war dieses schwarze Bild und diese männliche Stimme.

„Echt komisch.“

„Warum ist überall der Bildschirm schwarz?“

„Glaubt ihr, die Sender werden kontrolliert?“

„Sicher Außerirdische.“

Meine Freundinnen quasselten aufgeregt durcheinander, nur ich war stumm und starrte bewegungsunfähig auf den Bildschirm.

Wieder ertönte die sonderbare Stimme. Dumpf verkündete sie: „Sieh hin, wie viel Leid es auf der Welt gibt. Schau genau hin. Die Welt braucht dich! Versuch, dich zu erinnern.“

Eine mit merkwürdigen Zeichen beschriftete fünffarbige Hand erschien und zeigte ins Wohnzimmer. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich und ich fröstelte. Ich hatte das Gefühl, diese Hand zu kennen. Aber woher? Meinte diese Hand mich? Nein, sicher fühlte sich jeder andere, der Zeuge dieser seltsamen „Werbung“ geworden war, genauso. Der Bildschirm war ungefähr eine Viertelstunde schwarz und die Stimme wiederholte sich immer und immer wieder. Und dann, so plötzlich wie der Bildschirm schwarz wurde, wurde er wieder normal.

Ein Nachrichtensprecher entschuldigte sich vielmals für das Versagen der Technik, wie er es nannte, und wünschte viel Spaß bei dem nun folgenden Film.

Schon bald waren meine Freundinnen vom Film gefesselt, doch aus unerklärlichen Gründen musste ich die ganze Zeit über die Stimme nachdenken, sodass ich den Film gar nicht richtig genießen konnte. Der Abend war ein einziges Chaos geworden.

Es dauerte viel zu lange, doch irgendwann war der Film vorbei. Ich atmete auf. Wir gingen hoch in mein Zimmer und bereiteten das Matratzenlager aus. Vorsichtshalber durchsuchte ich es unauffällig auf etwaige Flaschen mit Wasser, konnte jedoch keine finden. Nacheinander putzen wir die Zähne und zogen uns um. Ich zog mich nur um. Die Angst vor dem Wasser war mittlerweile so groß, dass ich heute lieber auch auf das Zähneputzen verzichtete, als von kochendem, gefrierendem oder explodierendem Wasser verfolgt zu werden. Auch wenn es sehr eklig war. Schließlich krochen meine Freundinnen in ihre Schlafsäcke und ich in mein Bett.

Der Tag war so stressig gewesen, dass ich ziemlich schnell einschlief.

Meine Träume waren in dieser Nacht sehr wirr. Ich hörte die Stimme aus dem Fernsehen. „Die Welt braucht dich! Versuch, dich zu erinnern! Du bist nicht, wer du zu sein glaubst.“ Alles wurde schwarz.

Wieder hatte ich ziemlich unruhig geschlafen.

Wenn ich es nur schaffte, meine Freundinnen aus dem Haus zu bekommen, bevor noch etwas explodierte und sie vollends glaubten, dass ich verrückt geworden war oder es bei uns spukte. Das Verabschieden zog sich in die Länge. Jeder umarmte jeden und meine Freundinnen versicherten mir, dass sie einen unvergesslichen Abend hatten. Irgendwie konnte ich das überhaupt nicht nachvollziehen.

Kapitel 6

Nach dem verrückten Abend gestern und der noch verrückteren Nacht vorgestern war ich ziemlich fertig. Meine Freundinnen waren gegangen und hatten nichts Komisches bemerkt. Na ja, fast nichts. Nur den kochenden Sirup und diese Werbesendung. Ich ging in die Küche. Jetzt wollte ich doch den ganzen seltsamen Vorfällen auf den Grund gehen und wie in der Nacht meines Geburtstages nahm ich ein Glas aus dem Küchenschrank und hielt es unter den Wasserhahn. Was wohl jetzt wieder passierte? Vor lauter Nervosität vergaß ich zu atmen. Ich öffnete den Wasserhahn und was passierte? Nichts. Es lief kein Wasser. Hatte jemand das Wasser abgedreht? Aber wieso? Zischend atmete ich aus und im gleichen Moment floss das Wasser wieder. Das war jetzt aber ein merkwürdiger Zufall gewesen. Zu merkwürdig. Versuchsweise atmete ich wieder ein und hielt die Luft an. Sofort hörte das Wasser auf zu fließen. Atmete ich normal sprudelte es munter in mein Glas. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte das Wasser auf meinen Atem reagieren? Sicher gab es irgendeinen Trick oder eine logische Erklärung. Verwundert schloss ich den Wasserhahn und ging an die Anrichte. Auf ihr stand eine Flasche Saft. Ob es wohl mit Saft auch ging? Saft ist ja irgendwie auch Wasser, oder? Also, neues Spiel, neues Glück, oder besser gesagt frisches Glas. Genauso wie vorhin atmete ich ein, hielt die Luft an und öffnete die Flasche. Als ich sie drehte, weigerte sich der Saft, aus der Öffnung zu fließen. Er klebte am Flaschenboden, der jetzt am höchsten war. Physikalisch unmöglich. Ich atmete aus und der Saft platschte in das zweite Glas. So langsam wurde mir alles klar.

Gestern war ich erschrocken. Das Wasser im Glas gefror. Ich war genervt und das Wasser schoss aus dem Wasserhahn, fröstelte und das Wasser gefror wieder, war wütend und die Cola spritzte durch die Gegend, war nervös und hatte plötzlich eine Zungenverlängerung, hatte Panik und die Flaschen im Laden explodierten. Schön und gut. Alles, seit ich dieses komische Pentagramm auf der Schulter hatte. 

Aber warum war diese Kugel herumgeschwebt, warum hatte ich sie mit meinen Händen weggescheucht?

Konnte ich jetzt Wasser mit meinen Händen bewegen? Klang ziemlich unmöglich, aber wenn mir jemand vor zwei Tagen erzählt hätte, dass das Wasser um mich herum verrücktspielen würde, hätte ich das auch nicht geglaubt.

Ein Versuch war es ja zumindest wert, oder?

Ich nahm das Glas mit Wasser in die Hand, bemühte mich, möglichst gleichmäßig und ruhig zu atmen, und trug es ins Esszimmer, wo ich es auf den Tisch stellte. Mit einer langsamen Bewegung zog ich einen Stuhl zu mir heran und setzte mich. Das Wasser hatte sich nicht bewegt.

Gespannt fixierte ich es und begann, bewusst langsam aus- und einzuatmen. Ganz winzige Wellen breiteten sich auf der Wasseroberfläche aus. Ich hätte beinahe vor Verwunderung aufgekeucht, aber rechtzeitig erinnerte ich mich, dass das Wasser dann auch reagieren würde und versuchte, ruhig zu bleiben.

Eine Haarsträhne fiel mir ins Gesicht. Unbewusst hob ich die Hand, um sie zurückzustreichen, als im selben Moment in der Mitte des Glases das Wasser einen kleinen Berg machte. Ich erstarrte in der Bewegung und der Berg sank in sich zusammen. Vorsichtig senkte ich die Hand wieder. Jetzt glaubte ich, eine kleine Mulde zu erkennen. Das gab es doch nicht!

Diesmal hob ich meine Hand schneller und dementsprechend größer war der Berg. Das Wasser schwoll an und füllte das ganze Glas aus, dann stieg es höher, bis es etwa fünf Zentimeter über den Glasrand reichte, aber dennoch floss es nicht darüber hinaus. Fasziniert beobachtete ich, wie das Wasser auf meine Handbewegung reagierte. Hand hoch - Berg, Hand runter - Tal, langsam - kleiner Berg, schnell - größerer Berg. Ich hatte gerade einen Berg geschaffen, der zehn Zentimeter über dem Glasrand war, da kam mein Vater um die Ecke, meine Konzentration brach ab und das Wasser schwappte zurück ins Glas. Langsam senkte ich meine Hand wieder.

„Was machst du denn da?“

„Ich? Wieso?“

Mein Vater wiederholte die Bewegungen, die ich die ganze Zeit gemacht hatte.

Super und jetzt? Was erzähle ich ihm… Gedankenblitz.

„Kennst du das denn nicht? Man hebt die Hand so und wenn sie über dem Mund ist grinst man und drunter schaut man traurig. Ungefähr so“, sagte ich und machte die gleichen Wisch-Bewegungen wie vorher.

„Aha“, machte mein Vater und ging kopfschüttelnd wieder.

Ob er es mir geglaubt hatte? Auf jeden Fall war es hier für solche Übungen zu gefährlich, das wusste ich nun. Fröhlich grinsend verschwand ich mit dem Glas in mein Zimmer. Unterwegs schnappte ich mir noch das Telefon, denn ich wollte diese Neuigkeiten sofort mit meinen Freundinnen teilen. In meinem Zimmer ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Wen sollte ich als Erstes anrufen? Wer würde mir am ehesten glauben?

Val schied schon einmal aus, sie war zu vernünftig, etwas zu glauben, dass es eigentlich nicht geben dürfte.

Also Lucy, Steffi oder Judith? Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für Lucy. Ich wählte ihre Nummer und gleich nach dem ersten Klingeln hob sie den Hörer ab.

„Hallo Vicky. Was gibt’s? Hab ich was bei dir liegen lassen?“

„Hey Luce, nein, du hast nichts bei mir liegen lassen. Ich wollte dich etwas fragen.“

„Was denn?“

„Also…“ Ich schluckte. Einmal die Worte ausgesprochen, konnte ich sie nicht mehr zurücknehmen.

„…würdest du mich für verrückt halten, wenn ich dir sagen würde, dass ich mit meinen Händen oder meinem Atem Wasser bewegen könnte?“

Ziemlich lange war es still am anderen Ende der Leitung.

„Nachdem du mich ja nur fragst, was ich antworten würde... Also, ehrlich gesagt, ich finde es ziemlich seltsam. Dein gesamtes Verhalten in letzter Zeit.“

„Aber du würdest mir doch glauben?“

„Würde ich das?“, fragte sie mich zweifelnd.

„Oder nicht?“

„Es klingt einfach zu verrückt, aber ich weiß nicht, warum du dir so etwas ausdenken solltest.“

„Was ist mit dieser schwebenden Wasserkugel vorgestern im Physikraum?“

„Das war dein Werk?“ Das klang ziemlich scharf.

„Ich, nein, also ich…“ Das Wasser im Glas begann zu zittern.

„Was denn nun?“

„Also ich hab es nicht bewusst gemacht, aber ich schätze…“

„Dir ist sicher klar, das wegen dir mein Physikaufschrieb unbrauchbar ist, meine Bücher durchweicht und meine neue Bluse kaputt gegangen ist, oder?“

„Aber das war doch keine Absicht.“

„Absicht oder nicht, sei lieber froh, dass ich nicht darauf bestehe, dass du sie mir ersetzt, weil sie sehr teuer war.“

„Was habe ich denn getan?“

„Hast du das immer noch nicht verstanden? Du mutierst zum Freak und ich will nicht ausgelacht werden, nur weil ich mit dir befreundet bin. Also versuch einfach, ein bisschen normal zu sein.“

„Oder du willst nicht mehr mit mir befreundet sein?“ Eine kalte Hand legte sich um meine Kehle.

„Das hast du gesagt.“

„Und was ist mit den anderen? Denken sie genauso?“, fragte ich leicht aufgebracht, doch mit einem Blick auf das Glas zwang ich mich wieder zu beruhigen. Es war doch zu gefährlich.

„Ja.“

„Jetzt, wo bei mir gerade alles drunter und drüber geht? Und wo ich euch doch brauche?“ Mir war zum Heulen zumute. Hätte ich sie nur nicht gefragt.

„Ist das mein Problem?“ Mir verschlug es fast die Sprache.

„Was schlägst du jetzt vor?“

„Wie wäre es mit du hältst dich in Zukunft von uns fern?“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Hörst du mich etwa lachen?“

„Wir kennen uns seit dem Kindergarten!“

„Wege führen zusammen und auch wieder auseinander. Und dieser hier führt auseinander.“

„Dein letztes Wort?“

„Mein letztes Wort.“ Und mit diesen Worten legte sie wieder auf.

Sprachlos saß ich da und blickte auf das Telefon. Das Glücksgefühl, das ich eben noch gespürt hatte, war verschwunden. Meine Freundinnen hatten mir die Freundschaft gekündigt und das nur, weil ich mich seltsam benahm?

Wenn einem nicht einmal mehr die besten Freundinnen glauben, weil es so verrückt ist, wer glaubt mir dann? Meine Eltern wohl kaum. Glaube ich es selbst?

Zu was für einem Monster war ich nur geworden? Gott sei Dank hatte ich ihr nichts vom Pentagramm erzählt. Das Pentagramm war an allem schuld! Ich zog mein T-Shirt aus und starrte es böse an, als würde es so verschwinden. Was es natürlich nicht tat.

Seufzend erhob ich mich und ging ins Bad. Dann putzte ich kurz meine Zähne und wusch mich, immer noch um eine ruhige Atmung bemüht. Erschöpft und traurig kroch ich unter die Bettdecke. Ich fühlte mich leer, einsam und verlassen.

„Verfluchtes Pentagramm.“

Kapitel 7

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich lag lange wach im Bett und grübelte über die vergangenen Tage nach. Es war offensichtlich: Ich hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. An meinem Geburtstag war ein blutendes Pentagramm auf meiner Schulter erschienen und seit dem spielte alles Wasser in meiner Nähe verrückt. Meine Freundinnen fanden mich absonderlich und wollten nichts mehr mit mir zu tun haben… das konnte einfach nicht passiert sein. Ich wollte es nicht glauben. Gestern hatte ich mir eingebildet, dass ich das Wasser in einem Glas kontrollieren könnte. Vielleicht träumte ich ja oder ich fantasierte. Sollte ich einen Psychologen besuchen? Unsinn. Ich fühlte mich ja nicht anders als sonst.

Wikipedia wusste nichts von einem blutendem Pentagramm und Google ebenso wenig. Wenn selbst Google davon noch nie gehört hatte, was war dann nur los mit mir?

Vielleicht musste ich mich auch nur einfach heftig kneifen, dann würde ich aufwachen. Nach dieser grandiosen Idee hatte ich zwar einen Abdruck von meinen Nägeln auf meinem Handrücken, aber ich war nicht aufgewacht. Wäre wohl zu schön gewesen. Und zu einfach.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf.

Wenn mir niemand helfen konnte, dann musste ich mir eben selbst helfen. Offensichtlich gab es eine Verbindung zwischen dem Pentagramm und Wasser, also würde ich… ja was würde ich?

Was, wenn es keine Einbildung war, dass ich Wasser bewegen konnte?

Die Schmerzen, die ich gespürt hatte, als sich das Pentagramm in meine Schulter brannte, waren ja auch real gewesen. Und das Pentagramm war eindeutig da.

Nun packte mich die Neugier.

Ich stand auf und noch im Schlafanzug lief ich zu meinem Schreibtisch, wo das Glas stand, das ich gestern mit in mein Zimmer genommen hatte. Es war immer noch mit Wasser gefüllt. Ich ließ mich in meinen Schreibtischstuhl fallen und starrte das Glas nachdenklich an. Gestern hatte das Wasser auf die Bewegungen meiner Hand reagiert.

Vorsichtig hob ich meine Hand. Nichts passierte. Ich senkte sie wieder. Nichts. Diesmal versuchte ich es schneller und fuchtelte vor dem Glas herum. Es passierte nichts.

Enttäuscht lehnte ich mich zurück.

Da entstanden plötzlich kleine Kreiswellen auf der Wasseroberfläche, von der Mitte des Glases ausgehend. Erstaunt hielt ich die Luft an und die Wellen verschwanden. Da erinnerte ich mich. Das Wasser hatte ja auch irgendwie auf meine Atmung reagiert. Warum klappte es plötzlich. Ich atmete doch immer. Vielleicht nicht, wenn ich wegsah. Aber dann würde ich nicht wissen, ob es sich bewegte. Wie konnte ich das überprüfen? Ja genau, meine Kamera. Ich stand auf, um aus dem obersten Fach meines Regals meine Kamera herauszuholen, plötzlich schwoll das Wasser im Glas zu einer Wassersäule heran, die genauso hoch war, wie mein nach oben gestreckter Arm. Erschrocken schrie ich auf und wie in Zeitlupe fiel die Wassersäule in sich zusammen. Tropfen spritzten mir entgegen, panisch sprang ich rückwärts. Eine kleine Flutwelle schwappte über meinen Schreibtisch und endete in einer Wasserlache. Fassungslos starrte ich auf das Glas. Es war randvoll. Wie war das möglich? Um das Glas herum auf dem Schreibtisch war so viel Wasser, wie in ein zweites Glas gepasst hätte. Hatte sich das Wasser vermehrt? Ich musste über meine naiven Gedanken grinsen, weil ich keine Ahnung hatte, wie das passiert war und es mir überhaupt nicht erklären konnte. Dahinter steckte keinerlei Logik. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Okay, hier begab ich mich also in etwas, das ich nicht erklären konnte. Na schön, meinetwegen.

„Dann zeig mal, was du noch so drauf hast“, sagte ich zu dem Wasser.

Konzentriert blickte ich auf das Glas, hielt die Luft an, hob meine Faust vor das Glas und harrte dort einen Moment aus. Dann öffnete ich sie, sodass sie zum Glas zeigte. Sofort spürte ich etwas zwischen meinen Fingerspitzen. Ein seltsames Gefühl. Irgendwie glibbrig. Als würde man seine Hand in Wackelpudding drücken. Während ich ausatmete führte ich sie in die Höhe, wobei sie irgendwie automatisch nach unten abknickte. Und im gleichen Moment entstand eine kleine Wassersäule. Nicht so groß wie die eben, aber größer als die Mini-Hügel gestern.

Ich keuchte auf. Es klappte. Doch sofort fiel sie wieder in sich zusammen. Was machte ich falsch? Warum konnte ich sie nicht halten? Also auf ein Neues. Viele Male versuchte ich es. Einatmen. Luft anhalten. Hand anheben und gleichzeitig ausatmen. Das Wasser schwoll jedes Mal an, doch immer schrumpfte sie sofort wieder. Irgendwas hatte ich übersehen. Lag es an meiner Hand? Oder an der Atmung? Na gut, nächster Versuch. Diesmal atmete ich erst aus, um beim Einatmen die Hand zu heben. Das Ergebnis war das gleiche. War es egal ob ich ein- oder ausatmete? Offensichtlich. Ich versuchte das gleiche und atmete normal. Wieder entstand die Wassersäule und wieder sank sie.

War es gar nicht möglich sie zu halten? Ich wusste es nicht.

Nachdenklich lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Das glibbrige Gefühl in meiner Hand verstärkte sich augenblicklich. Verwundert öffnete ich meine Augen wieder. Es wurde sofort wieder schwächer. Versuchshalber öffnete und schloss ich meine Augen einige Male. Es fühlte sich so an, als würde ich meine Hand in den Wackelpudding reindrücken und wieder hinausziehen. Auch wenn ich meine Hand bewegte, wurde es stärker und schwächer. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich konnte das Wasser fühlen! So seltsam es auch klingt, als ich es dachte, wusste ich intuitiv, dass ich Recht hatte. Wenn ich meine Hand vom Glas entfernte, wurde das Glibbern schwächer, das war die einzige Erklärung. Und wenn ich meine Augen schloss, dann spürte ich es stärker, weil… ja wieso? Weil… ich es dann nicht sehen konnte?

Vielleicht.

Ich konzentrierte mich auf das Gefühl in meiner Hand und hob sie an, genau wie vorhin. Das Wasser folgte sofort meinem Arm nach oben, doch dann kribbelte es in meinen Fingerspitzen und die Säule schrumpfte wieder, genau wie das Glibbern weniger wurde. Gleich versuchte ich es erneut. Wieder das Kribbeln und dann sank die Säule. Was war das Kribbeln für ein Zeichen? Zeigte es mir womöglich, dass sich die Verbindung zwischen meiner Hand und dem Wasser löste? Und wenn ja, wie konnte ich das hinauszögern? Vielleicht, wenn ich es oft genug versuchte?

Nach 50 Mal hatte ich aufgehört zu zählen. Es hatte tatsächlich funktioniert. Das Gefühl hinauszögern, die Verbindung länger zu halten. Mittlerweile konnte ich entscheiden, wann ich sie lösen wollte, dann kribbelte es und das Wasser fiel in sich zusammen.

Puh. Das bisschen Wasser zu halten strengte ziemlich an.

Was lässt sich denn noch machen?, fragte ich mich. Der kochende Sirup, die explodierende Coladose, die Wasserkugel, das Eis an meiner Zunge.

Ich grinste. Die ganze Sache fing an mir irgendwie Spaß zu machen.

Jetzt, da ich wusste, dass ich verrückt war.

Nur zwei Dinge konnte ich nicht erklären. Diese Werbesendung und das Pentagramm. Dass diese Werbung etwas mit mir zu tun hatte, davon ging ich mittlerweile aus. Aber woher ich das Pentagramm hatte, wusste ich immer noch nicht.

Kapitel 8

Voller Tatendrang schlich ich mich aus meinem Zimmer. Komisch, meine Eltern schliefen noch. Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war halb sechs. Kein Wunder, dass noch niemand außer mir wach war, aber umso besser. Aus der Küche klaute ich mir ein paar Plastikbeutel, dazu unsere Salatschüssel und eine Plastikflasche mit Wasser und schlüpfte wieder in mein Zimmer. Dort breitete ich die Tüten auf dem Boden aus, stellte die Schüssel darauf und füllte das Wasser hinein. Stolze anderthalb Liter.

So jetzt würde ich das Ganze mal noch mit mehr Wasser versuchen. Ich schloss die Augen, fühlte das Glibbern, diesmal war es eher groß wabbelig. Ich öffnete die Augen. Eine große Ruhe überkam mich. Dann hob ich die Hand und die Wassersäule entstand. Die ganze Zeit über atmete ich ruhig und konzentriert. Langsam stand ich auf, hob meine Hand und das Wasser folgte ihr. Ebenso langsam setzte ich mich wieder hin, es kribbelte und das Wasser schwappte zurück in die Schüssel. Wow.

Meine Hände zitterten. Aber ich war unglaublich stolz auf mich.

Es schien mir, als hätte ich das schon ewig gemacht, so vertraut kam es mir vor. So, wie ich scheinbar intuitiv wusste, was ich zu tun hatte. Unheimlich. Aber unglaublich spannend.

Okay, jetzt die Wasserkugel. Vielleicht erst mit dem Glas oder?

Ich hielt die Hand vor das Glas wie vorhin. Was musste ich verändern, dass es diesmal ganz aus dem Glas herausschwebte? Ach probieren wir’s doch einfach mal. Langsam und bewusst atmete ich ein und spürte das Wasser vor mir. Dann hob ich ganz einfach die Hand, doch diesmal zeigte die Handfläche immer noch nach vorne zum Wasser und nicht wie vorhin über dem Wasser.

Plötzlich fühlte sich mein Arm an, als würde jemand ein Gewicht daran hängen. Erschrocken wollte ich schon die Verbindung lösen, als das Wasser sich ganz langsam, Millimeter für Millimeter hob. Fasziniert beobachtete ich, wie das Wasser langsam höher stieg, bis es etwa fünf Zentimeter über dem Glas schwebte. Höher, dachte ich verbissen. Mein Arm wurde immer schwerer, doch stieg es weiter, wie ein leicht länglicher unförmiger Ballon. Auf einmal begannen vor meinem Blick kleine silbrig-schwarze Punkte zu tanzen und meine Hand begann heftig zu zittern. Schnell ließ ich das Wasser in das Glas zurückschweben und mich in den Stuhl fallen. Ich fühlte mich komplett ausgelaugt. Hatte ich meine Kraft überschätzt? Auf jeden Fall brauchte ich eine Pause. Mit weichen Knien wankte ich in mein Bett, um mich zu erholen.

 

Einige Stunden später weckte mich meine Mutter. Auf die Frage hin, was ich denn mit der Salatschüssel in meinem Zimmer wollte, entgegnete ich: „In die Zukunft sehen.“ Dass sie mir das nicht glaubte, nahm ich ihr nicht übel. Es war ja klar gewesen, aber die Realität war noch unglaubwürdiger.

Beim Frühstück mit meiner Familie hatte ich so etwas wie ein Dauergrinsen auf dem Gesicht, was meine Mutter froh und meinen Vater zugleich misstrauisch stimmte. Mein Bruder dachte wohl, dass ich einen Knall hätte, nun so ganz Unrecht hat er da ja auch nicht.

Nach dem Frühstück verschwand ich gleich wieder in mein Zimmer. Ich hatte schließlich noch viele „Hausaufgaben“ zu erledigen.

Mich juckte es, ich wollte unbedingt ausprobieren, was ich mit dem Wasser noch alles anstellen konnte.

Oben in meinem Zimmer setzte ich mich wieder vor das Glas und versuchte das Wasser schweben zu lassen. Diesmal gelang es mir schon besser, doch nach einer Minute spürte ich die Schwäche erneut. Nach einer kurzen Pause startete ich den nächsten Versuch. Konnte ich auch nicht alles Wasser aus dem Glas heben? Je weniger Wasser ich zu kontrollieren versuchte, desto weniger Kraft verbrauchte ich. Nur wie sollte ich das Wasser teilen? Ich war ja schließlich nicht Moses. Sollte ich erst das gesamte Wasser rausheben und dann teilen oder nur ein bisschen schweben lassen? Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für letzteres, schloss die Augen, atmete ruhig und konzentrierte mich. Wieder spürte ich das Glibbern, diesmal gemischt mit einem leichten Kribbeln, wohl vor Vorfreude. Ich hob den Arm über das Glas, die Fingerspitzen dem Wasser zugewandt, das Handgelenk leicht abgeknickt und während ich einatmete hob ich die Hand an und wie vorhin folgte die Wassersäule meiner Hand. Probehalber führte ich sie ein bisschen nach rechts, dann nach links, nach vorne und nach hinten. Gott sei Dank sah mich gerade niemand. Es sah beinahe aus, wie bei einer orientalischen Schlangenbeschwörung. Die Schlangen folgten der Flöte, wie das Wasser meiner Hand. Aber eigentlich wollte ich das Wasser ja trennen. Ohne Nachzudenken nahm ich meine zweite Hand, drehte meine Handfläche zur Wassersäule und hielt sie direkt daran. Je näher ich mit meiner Hand kam, desto weiter wich die Säule davon weg und desto dünner wurde sie an dieser Stelle. Als ich meine Hand direkt über das Glas hielt und die Wassersäule außen herum floss, drehte ich meine Hand nach oben. Die Säule brach ab und teilte sich. Der eine Teil schwappte zurück ins Glas, der andere Teil war nun wie eine unförmige Blase zwischen meinen Händen gefangen. Ich hatte es geschafft!

Nur jetzt musste ich vorsichtig sein, nicht dass meine Kräfte mich verließen. Konnte ich aus der Blase eine Kugel formen, wie sie im Physikunterricht herumgeschwebt war?

Spontan spannte ich beide Hände an und wie ein Gummiball sprang die Blase in eine Kugelform. Vorsichtig senkte ich meine Hände wieder und ließ das Wasser ins Glas zurückfließen, ich wollte nicht bewusstlos werden. Komischerweise spürte ich keinerlei Schwäche oder Ermüdung. Konnte es sein, dass sich mein Körper bereits daran gewöhnt hatte? Ich war verwundert. Gut, warum nichts, dann mache ich eben weiter, dachte ich. Erneut hob ich die Hand, um die Wassersäule entstehen zu lassen, griff mit der anderen darunter und trennte das Wasser, spannte die Hände an und vor mir schwebte eine Kugel. Eine Kugel aus Wasser. Unwillkürlich musste ich grinsen. Jeder, aber auch wirklich jeder, dem ich das erzählen würde, musste mich für verrückt halten. Konnte ich die Kugel mit mir herumtragen? Sofort verzog sich mein Mund erneut zu einem Lächeln. Auf was für komische Ideen ich nur wieder kam. Jedoch wollte ich es wirklich wissen, ob es möglich war. Wieso eigentlich nicht?

Ganz vorsichtig stand ich auf, schob mit einem Fuß meinen Stuhl zurück und drehte mich nach rechts, die Hände weiterhin über und unter der Kugel. Es funktionierte! Langsam setzte ich einen Schritt vor den anderen und ging in meinem Zimmer umher. Hoffentlich kommt meine Mutter jetzt nicht rein, betete ich. Denn ich würde schwer in Erklärungsnot kommen, wenn sie das sah, so viel stand fest. Doch glücklicherweise schien mir das Schicksal heute gewogen zu sein, denn niemand kam.

Musste ich eigentlich die ganze Zeit eine Hand über und eine Hand unter die Kugel halten, oder konnte ich wenigstens die obere weglassen. Nach oben wegfließen konnte das Wasser ja schließlich nicht.

Wie sollte ich aber dann die Oberflächenspannung halten, damit die Kugel nicht auseinanderfiel? Vorsichtig nahm ich die obere Hand auf die Seite und schließlich ganz weg. Ich war erstaunt. Nichts passierte. Die Kugel blieb wie sie war und schwebte nun einige Zentimeter über meiner Handfläche. Hin und wieder stieg sie ein bisschen höher und senkte sich dann aufs Neue ab. Erst nach mehreren Zyklen merkte ich, dass sie wieder auf meine Atmung reagierte, was ja nicht wirklich neu war. Beim Einatmen stieg sie auf und beim Ausatmen ab, fast als würde sie selbst atmen oder Energie aus meiner Atmung ziehen.  Konnte ich sie auch weiter von mir wegdrücken?

Ich schloss die Augen, fühlte nach dem Kribbeln in meiner Hand und spürte das Wasser. Dann stellte ich mir vor ich würde es weit wegschieben und sofort ließ das Kribbeln nach. Panisch riss ich die Augen auf. Wo war die Kugel hin? Sie war weg! Das konnte doch nicht sein, ich spürte sie immer noch, wenn auch nur schwach. Unwillkürlich fuhr mein Blick nach oben und ich erstarrte. Wie ein Butterbrötchen, dass man mit der bestrichenen Seite an die Decke gedrückt hatte, klebte die Kugel ohne zu platzen unter der Decke. Es tropfte nicht einmal.

 

Plötzlich riss mein kleiner Bruder ohne Vorwarnung meine Zimmertür auf und stürmte herein. Ich bekam einen riesigen Schreck und schrie auf. Die Kugel an der Decke verformte sich gefährlich, doch ich hatte mich sofort wieder unter Kontrolle und ließ meine Hand unauffällig sinken, ohne sie umzudrehen. Warum konnte er nicht anklopfen und musste immer in den unpassendsten Augenblicken auf die Idee kommen mir einen Besuch abzustatten und gerade jetzt war es wirklich brenzlig, nun ja, an meiner Zimmerdecke klebte eine feuchtfröhliche Überraschung. Hoffentlich sah er nicht hoch. Zwischen zusammengepressten Lippen zischte ich ihn an:

"Raus."

Doch mein Bruder lies sich davon überhaupt nicht beeindrucken.

"Was machst du da?", fragte er neugierig und deutete auf meine Hand, die ich immer noch mit der Handfläche nach oben vor meinen Körper hielt. Okay zugegeben, es sah wirklich bescheuert aus, aber was hätte ich denn tun sollen? Verzweifelt suchte ich in meinem Kopf nach einer Lösung, nach einer Antwort auf seine Frage. Sie musste zugleich glaubhaft und sinnlos sein, dann würde er das Interesse verlieren. Nur was sollte ich antworten? Da bekam ich eine Idee. Im großen Spiegel am Schrank sah ich, dass meine Mundwinkel verräterisch zuckten.

"Das ist eine neue Diät", erklärte ich ihm. "Die Hand-macht-schlank-Diät". Diese Idee war wirklich sinnlos.

Mein Bruder blickte mich zweifelnd an. Dann schüttelte er den Kopf und erklärte wissend: "Frauen, wer soll die denn verstehen".

Ich grinste in mich hinein.

Einen letzten Blick warf er mir noch zu, der mir zeigte, dass mein Bruder mich für ziemlich verrückt hielt. Aber es war einfach besser so. Wahrscheinlich hatte er ja Recht. Wer hatte schon eine Wasserkugel an der Decke kleben? Wo wir gerade davon sprachen, die Wasserkugel. Ich hob meinen Kopf und bekam einen neuen Schreck. Sie war weg. Suchend blickte ich mich an meiner Decke um und fand sie schließlich in einer Ecke meines Zimmers. Wie ein ängstlicher Hund hatte sie sich dorthin verkrochen. Wirklich seltsam. Ich ging zu ihr hin, atmete ruhig und dachte an das Gefühl, wenn man ein Getränk durch einen Strohhalm saugt. Sofort schoss die Kugel mit rasender Geschwindigkeit auf meine Hand zu und hielt kurz darüber an.

Es war einfach nur verrückt. Die ganze Sache hier. Aber irgendwie auch faszinierend. Mit meiner anderen Hand stupste ich vorsichtig in die Kugel, wie in einen Ballon.

Ich kam mir beinahe vor wie eine Bedienung im Restaurant oder ein Jongleur im Zirkus, als ich mit der Wasserkugel auf  der Hand durch mein Zimmer lief. Das war schon ein ziemlich absurder Gedanke, aber warum eigentlich nicht? Momentan hielt ich nichts für unmöglich.

Wenn man das Wasser teilen konnte, warum denn nicht auch zweimal? Ohne dass ich es bewusst steuerte, tippten sich plötzlich meine Fingerspitzen an und streckten sich sofort wieder. Und sofort reagierte das Wasser und teilte sich in zwei kleine Kugeln, die in einer Linie angeordnet über meiner Handfläche schwebten. So langsam wurde es ziemlich unheimlich. Woher wusste mein Körper, wie er reagieren musste? Und warum reagierte er, ohne dass ich ihn steuerte. Es war, als würde das Wasser gewissermaßen meinen Körper kontrollieren.

Je schneller ich wusste, was für seltsame Fähigkeiten ich besaß, desto besser. Ich fühlte mich einfach nur schrecklich unwissend. Diesmal verließ ich mich auf meine Intuition, mein kleiner Finger und mein Ringfinger spreizten sich plötzlich ab und die Kugel, die über ihnen schwebte, bekam einen Impuls und flog hinüber zu meiner anderen Hand, die sie spielerisch auffing. Bald darauf warf ich die Kugeln zwischen meinen Händen hin und her. Staunend sah ich zu, wie das Wasser einer noch so kleinen Bewegung meiner Finger folgte. Immer schneller sprangen die Kugeln zwischen meinen Händen hin und her.

Plötzlich wurde meine Türe aufgerissen und erneut rannte mein Bruder sofort in mein Zimmer und rief im hereinstürmen: "Du sollst runterko…". Da erblickte er die Kugeln, die über meinen Händen schwebten und erstarrte mitten im Laufen. Seine Augen wurden kugelrund, wie in Zeitlupe riss er seinen Mund auf und begann zu schreien.

"Mama, Mamaaaaa, Vicky spielt mit Wasser, Vicky hat zwei Wasserkugeln auf ihren Händen!" Er drehte sich um und rannte laut rufend aus meinem Zimmer.

Verdammt. Er hatte es gesehen. Was sollte ich jetzt machen?

Schnell ließ ich das Wasser zurückfließen, öffnete das Fenster und kippte es kurzerhand hinaus. Dann riss ich meinen Kleiderschrank auf und versteckte das Glas, die Schüssel und die Plastikbeutel darin. Wenige Sekunden später hatte ich mich schon auf meinen Schreibtischstuhl geworfen, ein Heft herausgezerrt und begann zu schreiben. Krampfhaft versuchte ich meine Atmung zu beruhigen.

Kurz darauf erschien meine Mutter in meinem Zimmer, setzte sich auf mein Bett und erkundigte sich, was ich machen würde.

"Hausaufgaben", antwortete ich unschuldig.

Nach einer kurzen unangenehmen Pause, sah sie mich ernst an.

"Ist alles in Ordnung mit dir? Du verhältst dich seltsam in letzter Zeit."

"Ja, alles prima", sagte ich und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Es war falsch.

Meine Mutter war nicht überzeugt, sie blickte mich zweifelnd an.

"Wenn irgendetwas ist, du weißt, dass du immer mit mir reden kannst, oder?" Jetzt fühlte ich mich schuldig. Früher hatte ich meiner Mutter alles erzählt und nun hatte ich Geheimnisse vor ihr. Aber so lange ich nicht wusste, was es mit den Fähigkeiten auf sich hatte, würde ich sie nicht einweihen. Sie hatte schon genug Sorgen.

"Klar Mama. Ist nur so eine Pubertätssache", grinste ich, stand auf, setzte mich neben sie und umarmte sie.  Meine Mutter küsste mich auf die Stirn.

"Meine Große wird erwachsen."

Schließlich beruhigt verließ sie wieder mein Zimmer, drehte sich aber noch kurz um und grinste mich an.

"Erschreck deinen Bruder nicht mehr. Er war völlig durch den Wind, als er zu mir in die Küche gerannt kam."

"Okay."

"Oh und wir essen gleich, bring bitte die Salatschüssel mit."

"Klar, mach ich."

Dann verschwand sie wieder und zog meine Zimmertür hinter sich zu.

Erleichtert atmete ich auf. Das war wirklich knapp gewesen. Gott sei dank war die Pubertät eine gute Ausrede. Nie wieder würde ich hier drin mehr mit Wasser experimentieren. Selbst wenn meine Eltern meinem Bruder nicht glaubten, wenn sie es selbst sähen, dann hätte ich ein Problem. Grinsend sprang ich von meinem Bett auf, lief zum Schreibtisch und wollte das Heft wegräumen, da sah ich, was ich in Gedanken geschrieben hatte.

"Ich kontrolliere das Wasser."

Lange starrte ich auf diese Worte, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Da kam was sehr Großes auf mich zu, so viel stand fest. Und ich war bereits mitten drin. Irgendwann klappte ich es energisch zu, holte die Schüssel und das Glas aus meinem Schrank und ging hinunter in die Küche zum Mittagessen.

Kapitel 9

Nach dem Mittagessen sagte ich meinen Eltern, dass ich heute noch etwa eine Stunde spazieren gehen wollte, da das Wetter so schön war.

Sie waren zwar etwas verwundert, aber erlaubten es mir, wenn ich mein Handy dabei hatte.

Kurze Zeit später hatte ich mich auch schon auf den Weg gemacht. Ich genoss die Sonne, die mir ins Gesicht schien, und lauschte den Vögeln.

Wo sollte ich hingehen? Wo war Wasser?

Kurz außerhalb des Dorfes begann eine Schlucht, in der ein reißender Bach strömte. Dieser hatte früher die große Mühle betrieben. Das war genau das Richtige. Langsam kletterte ich die nassen, bemoosten Felsen hinab in die Tiefe. Einmal rutschte ich beinahe aus, konnte mich aber noch festhalten. Hier war es schön kühl und feucht. Irgendwie fühlte ich mich wohl. Auf halber Höhe setzte ich mich auf einen trockenen, sonnenbeschienenen Felsvorsprung und ließ meine Beine in die Tiefe baumeln. Unter mir rauschte der Bach eine senkrechte Felswand viele Meter in die Tiefe hinab. Die Gischt spritzte sogar bis hoch zu mir. Nach einer Weile kletterte ich weiter in die Tiefe. Die Schlucht war einst ein beliebtes Ausflugsziel gewesen und dementsprechend hingen noch überall Stahlseile als Geländer und teilweise waren Holzbrücken gebaut worden, die über besonders gefährliche Stellen führten. Doch als einmal ein kleines Kind in die reißenden Fluten abgestürzt und weggespült worden war, machten alle Menschen einen großen Bogen um die Schlucht. Nur hin und wieder verirrte sich ein Wanderer hier her.

Das war also der ideale Ort, wenn man nicht entdeckt werden wollte. So wunderbar grün. Die Pflanzen hatten reichlich Wasser und wuchsen und gediehen dementsprechend.

Irgendwann kam ich am Fuß der Felswand an, was aber noch lange nicht das Ende der Schlucht war. Hier sammelte sich das Wasser in einem natürlichen Felsenbecken und floss dann weiter über dessen Kante. Am Rande des Beckens waren viele Felsen, die leichte Mulden hatten, in denen sich das Wasser sammelte. Hier würde ich üben. Etwas weiter hinten begann eine kleine Lichtung, gesäumt von einigen Bäumen und Büschen. Ich legte mich auf die Wiese und erholte mich von der strapaziösen Klettertour. Schließlich ging ich zu einem jungen Felsen mit einer handtellergroßen Mulde, die mit kristallklarem kaltem Wasser gefüllt war, beruhigte meine Atmung und setzte meine Übungen da fort, wo ich zu Hause aufgehört hatte.

Ich jonglierte Wasserbälle, spielte eine Art Wasser-Jojo, übte Weitwurf und ließ Wassersäulen aus dem Felsenbecken aufsteigen. Diese einfachen Übungen schwächten mich beinahe überhaupt nicht mehr, doch mir fiel auf, dass es mich unterschiedlich viel Kraft kostete. Je nachdem, wie viel Wasser ich bewegen wollte und wie weit es von mir entfernt war. Zeitweise übte ich auch mit kleinen Kugeln Zielwerfen auf einen Stein. Mir kam es vor, als hätte ich unendliche Möglichkeiten, was ich mit meinen neuen Fähigkeiten tun konnte. Und in mir brannte die Neugier, alles auszuprobieren. Ich schaffte es bereits, zwei Wassersäulen gleichzeitig aufsteigen zu lassen, mit jeder Hand eine. Herausgefunden hatte ich auch, dass man mithilfe unterschiedlicher Handbewegungen die Form einer Wasserkugel verändern konnte. Zog man die Hände auseinander und hielt die Handflächen in einem bestimmten Winkel, wurde aus der Kugel ein langer Schlauch, fast wie eine Schlange. Es war auch möglich, eine Kugel platt zu drücken und mit der Hand ein Loch hineinzumachen, dann sah das Wassergebilde fast wie ein Donut aus. Diesen Donut ließ ich wie einen Heiligenschein über meinem Kopf kreisen. Ich hatte wirklich sehr viel Spaß. Den ganzen Nachmittag dachte ich mir irgendwelche neue Übungen aus und vergaß darüber total die Zeit.

Die Sonne war bereits hinter den Bäumen verschwunden, als ich fröstelte, merkte ich erst, wie spät es bereits war und schleunigst begab ich mich auf den Heimweg. Hoffentlich machten sich meine Eltern nicht schon Sorgen.

Doch meine Angst erwies sich als unbegründet.

Als ich daheim vor der Haustür stand und meine Mutter mir öffnete, begrüßte sie mich, als wäre ich nur schnell beim Bäcker Brötchen holen gewesen. Dabei hatte ich geschlagene fünf Stunden in der Schlucht verbracht.

Der Tisch war bereits gedeckt und bald darauf aßen wir zu Abend. Mein Bruder warf mir eine Reihe misstrauischer Blicke zu, die mich eher zum Grinsen brachten, als dass sie mir Angst einjagten. Ich musste nur in Zukunft vorsichtig sein. Weder er noch meine Eltern durften mich bei meinen Experimenten sehen.

Nach dem Abendessen verschwand ich sogleich in meinem Zimmer, um meine Erfahrungen festzuhalten. Ich schlug mein Tagebuch auf, zeichnete das Pentagramm von meiner Schulter ab und beschrieb genau, was ich die letzten Tage herausgefunden hatte. Dass das Pentagramm etwas mit meinen neuen Fähigkeiten zu tun hatte, stand fest. Nur woher es kam und was es bedeutete, darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Die Wunde begann langsam zu verheilen, aber wenn ich darüberstrich, wurde immer derselbe Zacken blau. Vor ein paar Tagen hatte ich gedacht, ich würde es mir einbilden, doch mittlerweile war das Blau nicht mehr zu übersehen. Es war dunkler und kräftiger als früher, als es noch ein zartes durchscheinendes Hellblau gewesen war.

 

In der Nacht träumte ich von diesem seltsamen Werbespot. Immer wieder ertönte diese Stimme: "Die Welt braucht dich! Versuch, dich zu erinnern!“

Kapitel 10

Mein Wecker riss mich unsanft aus den Träumen. Es war Montag Morgen. In einer Stunde würde die Schule beginnen. Die Schule. So viel war am Wochenende passiert. Eigentlich würde ich lieber wieder in die Schlucht gehen und üben, aber vielleicht konnte ich mich heute Nachmittag noch einmal unbemerkt davonschleichen. Außerdem würde ich meine Freundinnen wiedersehen. Diesem Zusammentreffen sah ich mit eher gemischten Gefühlen entgegen, hatte Lucy mir doch am Samstag gesagt, sie wolle nichts mehr mit mir zu tun haben. Und die anderen teilten ja anscheinend ihre Meinung. Je mehr Zeit verrann, desto nervöser wurde ich. Wie würden sie sich verhalten? Wie sollte ich mich verhalten? Beim Frühstück bekam ich keinen Bissen herunter, obwohl es Nutella-Toast gab. Meine Mutter runzelte die Stirn, als ihr auffiel, dass ich nichts aß. Hoffentlich dachte sie nicht, ich würde magersüchtig werden. Vorsichtshalber packte ich mir noch ein zweites Brötchen für die Schule ein, damit sie beruhigt war.

 

Auf dem Gang vor dem Vertretungsplan traf ich auf Valérie. Dass sie die Meinung ihrer Zwillingsschwester teilte, war für mich außerfrage. Dennoch war ich neugierig, wie sie sich verhalten würde. Sie ignorierte mich einfach und tat so, als wäre ich nicht anwesend oder als würde sie mich nicht kennen. Ein scharfer Schmerz stach in meine Brust. Würden sie mich jetzt alle ignorieren? Ich hoffte nicht. Nun, meine Hoffnungen wurden teilweise erfüllt. Valérie ignorierte mich, Judith und Steffi standen mit betroffenen Gesichtern daneben und wandten sich ab, als Lucy mir "Freak" zuzischte. Na toll. So innig war unsere Freundschaft also gewesen, dass sie so leicht zusammenbrach. Erst wenn es vorbei ist, erkennt man mancher Menschen wahres Gesicht, dachte ich verbittert.

Die Mathe-Klassenarbeit, die wir in der ersten Stunde zurückbekamen trug nicht gerade dazu bei, dass sich meine Laune hob. Während die Zwillinge zwei glatte Einsen hatten, lag meine etwas weiter darunter. Normalerweise legten sie die Klausur sofort auf die Seite und pflichteten mir bei, wie schwer sie doch gewesen war, aber heute zeigten sie ihre Hefte überall herum. Wollten sie mir unter die Nase reiben, dass sie besser waren? Dass sie etwas Besseres waren? Ich war einfach nur enttäuscht vom Verhalten der beiden.

Als es zur großen Pause klingelte, ließ ich alles stehen und liegen und flüchtete mich nach draußen. Hinter mir hörte ich noch ein gehässiges Lachen, aber ich beschloss, dass es nicht mir gegolten hatte. Nur weg hier.

So schnell, wie mich meine Beine trugen, lief ich zum Haupteingang. Ich wollte allein sein, die frische Luft genießen und mich abreagieren.

 

Kaum war ich wenige Schritte gegangen, sah ich sie. Auf dem Parkplatz unserer Schule hielt ein furchtbar teures Auto und zwei Anzug-Menschen stiegen aus. Ich beobachtete, wie sich die beiden zielstrebig unserer Schule näherten, während das Auto geparkt wurde. Offenbar hatten sie einen Chauffeur. Je näher sie kamen, desto mehr Einzelheiten konnte ich erkennen. Ich stand nur da und starrte den beiden neugierig entgegen, ohne zu merken wie auffällig das war. Sie trugen perfekt sitzende schwarze Anzüge, sicher maßgeschneidert, und blütenweiße Hemden mit schwarzer Krawatte. Auf ihnen war ein Zeichen eingraviert, aber ich konnte nicht erkennen, was es darstellen sollte. Der eine hatte eine dunkle Hautfarbe, der andere war eher bleich. Die Gesichter waren ausdruckslos, gefühlslos, wie sie mir durch ihre dunklen Sonnenbrillen entgegenstarrten. Kein einziges Haar wuchs auf ihren Köpfen.

Plötzlich begann ich zu frösteln. Ich wusste nicht, weshalb, doch hatte ich auf einmal ein schlechtes Bauchgefühl. Es versuchte mich zu warnen. Vor den beiden. Als wären sie gefährlich. Vorsichtshalber trat ich einen Schritt zur Seite und ließ sie passieren. Innerlich atmete ich auf, als sie vorbeigegangen waren, doch mein Glücksgefühl währte nur kurz, denn der Hellhäutige drehte sich vor der Eingangstür zu mir um und musterte mich. Ich dachte mein Herz würde stehen bleiben und mein Blut gefror mir in den Adern, als ich die Narbe an seiner Schläfe entdeckte. Die Haut war dort ganz rosa und hob sich unschön von seinem restlichen Gesicht ab. Irgendwie verlieh es ihm noch mehr Bedrohlichkeit. Schließlich entschloss er sich und kam auf mich zu. Jeden Schritt, den er näher kam, wollte ich rückwärts gehen, aber ich befand mich bereits direkt vor einer Wand. Mein Herz begann zu rasen und schrie mir zu: "Flieh! Lauf um dein Leben!", aber ich blieb wie festgefroren stehen.

"Hallo." Es klang wie aus einer Gruft. Scheppernd, metallen und doch düster und gefährlich. Meine Nackenhaare stellten sich auf.

"Hallo", antwortete ich eingeschüchtert.

Er streckte mir seine Hand entgegen, bleich und ebenfalls vernarbt. Kurz zögerte ich, entschied aber, dass ich keine Wahl hatte und reichte ihm meine Hand. Eine Gänsehaut vor lauter Ekel kroch von meiner Hand über den gesamten Körper und meine Hand fing seltsam an zu kribbeln. Seine Hand war eiskalt und zerquetschte die Meine wie ein Schraubstock. Doch schnell ließ er los und ging einen Schritt zurück. Hatte er bemerkt, wie sehr er mich verängstigte?

"Ich suche jemanden", sprach er und am liebsten hätte ich mir die Ohren zu gehalten. Heute Nacht würde ich sicher Albträume haben von seiner Stimme und seinem Aussehen.

"Oh", brachte ich heraus und ärgerte mich sogleich darüber, dass er so eine Kontrolle über mich hatte.

"Kennst du", er holte einen zerfledderten verschmutzten Zettel heraus, dessen Ecken abgerissen waren. Dieser Zettel passte so gar nicht zu seiner restlichen Erscheinung.

"Kennst du", setzte er erneut an und blickte stirnrunzelnd auf den Zettel, "Lucy Müller und Valérie Schneider?"

Ich spürte genau, wie mein Herz einen Schlag aussetzte, als er ihre Namen nannte. Was wollte er von ihnen?

Der Mann drehte den Zettel um und ich sah, dass es wie ein Fahndungsaufruf war. Zwei Bilder von den Mädchen, eines von vorne, eines das aussah, als wäre es aus dem Hinterhalt fotografiert worden.

Ohne dass es mir bewusst wurde, schüttelte ich den Kopf, meine Lippen zusammengepresst. Wie konnte ich meine Freundinnen an diese Männer verraten. Dann wäre ich Schuld, sollte ihnen etwas zustoßen.

"Du kennst sie nicht?", wollte er wissen. "Bist du dir sicher?", verlangte er zu wissen und kam bedrohlich einen Schritt auf mich zu. Ich drängte mich an die Wand in meinem Rücken. Er flößte mir so viel Angst ein. Jetzt kam auch noch der Dunkelhäutige auf uns zu, legte dem anderen eine Hand auf die Schulter und fixierte mich.

"Lass uns reingehen. Du erschreckst das arme Mädchen noch zu Tode." Unwirsch schüttelte der Narbenmann die Hand ab und riss sich in einer fließenden Bewegung die Brille vom Gesicht.

Vor Entsetzen schrie ich laut auf und schlug mir sogleich die Hand vor den Mund. Der Dunkelhäutige reagierte sofort und zog den anderen von mir weg. Ich fing haltlos an zu zittern und meine Beine fühlten sich an als wären sie Pudding geworden. Sie konnten mein Gewicht nicht mehr halten und langsam rutschte ich an der Wand herunter, bis ich auf dem kalten Boden saß, immer noch zitternd und heftig atmend. Beide Anzug-Menschen drehten sich zum Eingang und gingen davon, ohne zurückzublicken. Ich hatte seine Augen gesehen. Stahlblau, eiskalt hatten sie sich durch mich gebohrt. Erbarmungslos. Die Augen eines Killers. Hilflos schloss ich die Augen, doch auch von dort starrten sie mich an. Dieses Bild hatte sich in meine Netzhaut eingebrannt. Unaufhaltsam flossen Tränen über meine Wangen und ich schlug die Hände vor mein Gesicht.

Lucy und Val! Die Typen suchten sie. Ich musste sie finden und warnen. Panisch sprang ich auf, schwankte sofort und musste mich an der Wand festhalten. Mit der freien Hand wischte ich meine Tränen fort und wenige Augenblicke später stürmte ich zum Eingang und machte mich auf die Suche. Auch wenn das bedeutete, dass ich Narbenmann noch einmal sehen würde, ich musste sie warnen. Verzweifelt rannte ich durch die Gänge, aber sie waren nicht zu sehen. Plötzlich lief ein kleiner heulender Junge aus einem Klassenzimmer und mir in den Weg. Beinahe hätte ich ihn umgerannt, doch unwillkürlich zuckte mein Kopf nach rechts und durch die halb offene Tür, sah ich sie. Valérie und Lucy saßen an einem Tisch, der dunkelhäutige Mann ihnen gegenüber. Narbentyp war nicht zu sehen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er auch irgendwo da drin war. Der dunkelhäutige Mann stellte den Mädchen Fragen, aber ich war zu weit weg, um sie zu verstehen. Die beiden blickten den Mann verstört an und schüttelten immer wieder den Kopf. Ich sah, dass sie einander unter dem Tisch an den Händen hielten. Vorsichtig schlich ich mich heran und versteckte mich hinter einem Schrank, damit sie nicht merkten, dass ich sie belauschte.

"Ist euch beiden in letzter Zeit etwas Komisches passiert?", hörte ich den dunkelhäutigen fragen.

Erneut schüttelten die beiden ihre Köpfe.

"Wasser?"

Verständnislos blickten sie ihn an.

"Sie sind es nicht", meinte er.

"Bist du dir sicher?", zischte Narbenmann, ich holte vor Schreck zischend Luft bekam schon wieder eine Gänsehaut. Er stand unweit der Tür. Sofort verkroch ich mich hinter den Schrank, keine Sekunde zu früh, denn er blickte um die Ecke.

"Da war etwas. Na, wenn ich den Winzling erwische, der uns hier ausspioniert."

"Bleib hier", befahl der andere kalt und erstaunlicherweise gehorchte Narbenmann. Ich hörte, wie er sich von der Wand abstieß und auf den Tisch zuging.

"Du lässt deine Brille auf, dass das klar ist", wies der Dunkle ihn zu Recht.

"Und was, wenn es doch eine von beiden ist. Dann bekommen wir großen Ärger."

"Es ist keine von beiden. Ich spüre nichts bei ihnen."

"Und wenn du dich täuschst?"

"Ich habe mich noch nie getäuscht." Jemand schnaubte belustigt und ging zum Waschbecken an der Wand und öffnete den Wasserhahn. Wasser floss rauschend ins Becken und übertönte was gesprochen wurde. Ich fluchte innerlich, doch sofort wurde der Wasserhahn geschlossen und Schritte gingen wieder zum Tisch.

"Was hast du vor?", wollte der Dunkelhäutige wissen.

"Vielleicht sieht man ja etwas." Was sollte man sehen? Vorsichtig lugte ich um die Ecke und sah, dass Narbenmann ein Gefäß vor die Mädchen hinstellte und den Inhalt genau beobachtete. Aber offensichtlich passierte nicht das, was er sich erhoffte, denn er nahm es in die Hand und warf es mit einer Wucht gegen die Wand, dass es zu Bruch ging.

"Beherrsche dich", fuhr ihn der Dunkelhäutige wütend an.

Meine beiden Freundinnen waren auf ihren Stühlen beträchtlich geschrumpft.

"Ich habe dir doch gesagt, dass es keine von beiden ist. Da nützt dein lächerliches Experiment mit dem Wasser auch nichts", höhnte er. Dann wandte er sich an die Mädchen.

"Seid ihr irgendwie verwandt? Ihr seht euch ähnlich."

Lange blieb es still. Schließlich flüsterte Lucy: "Zwillinge."

Ich sah, wie Narbenmann die Gesichtszüge entgleisten und dem anderen ebenfalls die Kinnlade herunterklappte.

"Ihr seid Zwillinge", fragte er entgeistert. "Warum habt ihr dann unterschiedliche Namen?"

"Eltern geschieden", pipste nun Val.

Mit einem Ruck stand der Dunkelhäutige auf, so dass der Stuhl nach hinten umkippte und drehte sich zu Narbenmann. Sofort verschwand ich wieder hinter meinem Schrank und betete, das sie mich nicht gesehen hatten. Doch sie waren von dieser Neuigkeit offenbar so schockiert, dass sie nicht mitbekommen hatten, dass ich sie belauschte.

"Sagte ich doch, keine von beiden ist es, aber du wolltest mir ja nicht glauben."

"Zwillinge", schnaufte Narbenmann. "Lass uns gehen, wir müssen noch viel mehr testen, sonst werden wir heute nicht fertig."

Grunzend stimmte ihm der andere zu und mit großen Schritten verließen sie das Klassenzimmer und verschwanden in Richtung Ausgang. Ich presste mich hinter meinen Schrank, aber keiner von beiden blickte zurück.

Sollte ich zu den beiden ins Zimmer gehen, oder den Typen folgen? Irgendwie sagte mir ein Gefühl, dass beides nicht sonderlich schlau war und so schlich ich mich davon und setzte mich zu meinen Mitschülern vor das Klassenzimmer, in dem wir gleich Unterricht haben würden.

Kapitel 11

Heute hatte ich so viel merkwürdiges erlebt. Was wollten diese Männer von Lucy und Valérie? Warum hatte der eine demonstrativ ein Glas vor sie hingestellt und sich Wasser eingeschenkt? Und warum schienen sie enttäuscht, als nichts passierte? Moment, Wasser...

Könnte es sein, dass diese Männer...

War das möglich?!

Nun, jetzt ergab vieles für mich endlich einen Sinn.

Zum einen der Werbespot an meinem Geburtstag. Ich war mir ziemlich sicher, dass er nichts mit meinen Freundinnen zu tun hatte. Vielmehr mit mir. Seit diesem Tag war das Pentagramm auf meiner Schulter. Seit diesem Tag konnte ich Wasser bewegen. Seit diesem Tag war alles anders.

Offensichtlich gab es andere Menschen, die wussten, dass... Ja, nur was wussten sie? Sie hatten ja nicht mich aufgerufen und ausgefragt. Sondern die Zwillinge. Konnte es sein, dass die beiden jetzt auch diese Fähigkeiten hatten? Nein, sie hatten sich eigentlich normal verhalten, wenn man es normal nennen will, dass sie mich einfach ignoriert haben. Und sie hatten mich als Freak bezeichnet. Warum hatten diese Typen mich dann nicht aufgerufen? Vielleicht wussten sie einfach nicht, dass ich es war, den sie suchten? Aber was hatten die Zwillinge mit mir gemeinsam? Wir sahen uns weder besonders ähnlich, noch hatten wir einen ähnlichen Namen, ähnliche Interessen. Da dämmerte es mir. Wir hatten einen ähnlichen Geburtstag. Also zwischen unseren Geburtstagen lagen nur wenige Tage. Aber was hatte der Geburtstag damit zu tun? Nun mit meinem 16. Geburtstag fing alles an.

Ich begann zu frösteln. Diese Typen waren mir nicht geheuer. Vorsichtshalber sah ich über die Schulter, ob ich verfolgt wurde, was aber nicht der Fall war.

Was wusste ich jetzt? Es gab Leute, die jemanden suchten, der Anfang August Geburtstag hatte. Diese Leute wussten, dass Wasser in dessen Nähe komisch reagieren würde, deshalb der Test mit dem Wasserglas. Und der eine meinte, er könne etwas nicht spüren bei den Zwillingen. Aber warum hatte der Dunkelhäutige bei mir nichts gespürt? Eines wussten sie nicht, nämlich, dass die Person, die sie suchten, direkt unter ihrer Nase gewesen, ihnen aber durch die Lappen gegangen war. Aber wie war das möglich?

Und was wollten sie von den Zwillingen? Was hätten sie mit ihnen angestellt, wenn sie ich gewesen wären? Oder wenn sie mich gefunden hätten? So langsam bekam ich wirklich Angst. Ich hatte keine Ahnung in was für einem verrückten Spiel ich mich befand und der Narbentyp wirkte auch nicht so vertrauensvoll, als dass ich ihn danach fragen wollte.

Und wozu der Werbespot “Du bist nicht, was du glaubst” oder so ähnlich, darauf konnte ich mir wirklich keinen Reim machen, wenn sie dann in der Schule Schüler befragten. Was meinte der eine mit "andere testen?" Durchsuchten sie vielleicht jetzt in diesem Augenblick noch andere Schulen?

Ich wusste so rein gar nichts.

Fest stand nur, dass ich aufpassen musste, nicht, dass sie noch herausfanden, was ich konnte und dass sie das Pentagramm entdeckten. Aber zuerst musste ich rausfinden, wer sie waren und noch wichtiger, wer ich war, denn so langsam schien es größere Ausmaße anzunehmen, als gedacht.

Ich bog in einen von Bäumen gesäumten Weg ein, in Richtung Heimat.

Auf einmal schlich sich ein dumpfer Schmerz in meine Brust. Verwundert hielt ich an und tastete meinen Körper ab, um zu erkennen, wo der Schmerz herkam. Nichts. Er kam einfach nur aus meinem gesamten Oberkörper. Leicht irritiert und beunruhigt ging ich weiter, doch mit jedem Schritt wurde der Schmerz größer. Versuchsweise lief ich ein paar Schritte zurück und der Schmerz nahm ab. Wie war das möglich? Nahm er wirklich ab, oder bildete ich es mir nur ein? Und warum hatte ich überhaupt so plötzlich Schmerzen? War es eine Warnung? Sollte ich umkehren und einen anderen Weg nehmen? Lauerte hier womöglich eine Gefahr? Waren diese Männer hier irgendwo? Mir war ziemlich mulmig zu Mute. Hatten sie nur vorgegeben nichts zu wissen und wollten mich in einen Hinterhalt locken?

Dennoch entschloss ich mich weiterzugehen. Ich wollte wissen, was diesen Schmerz verursachte, denn obwohl er mittlerweile so stark geworden war, dass ich nur noch keuchend einen Fuß vor den anderen setzen konnte, die Hände in die Seiten gepresst, den Blick von Tränen verschleiert, die mir das Stechen in meiner Brust in die Augen trieb. Trotzdem zwang ich mich weiterzugehen. Immer langsamer. Urplötzlich hielten meine Beine von selbst an, unwillkürlich drehte sich mein Kopf nach links und ich schrie leise schmerzerfüllt auf. Das Stechen gipfelte in ein heftiges Ziehen in meiner Herzgegend und verschwand schließlich so schnell, wie es gekommen war. Zurück blieb eine fremdartige Erleichterung.

Jetzt wusste ich, wer so litt. Vor mir stand ein Baum. Eine Buche, um genau zu sein, aber was mich so erschreckte war nicht der Baum, nein es war die Wunde. Eine riesige blutende Wunde...

Eine riesige blutende Wunde klaffte auf Höhe meiner Schulter in der Rinde. Ich stellte meine Schultasche ab und trat zu dem Baum heran.

“Oh nein, wer hat dir das nur angetan?”, presste ich zwischen meinen Lippen hervor.

Aber ich wusste sogleich die Antwort auf meine Frage.

“Sicher irgendwelche kleinen, dummen Kinder, die sich dabei echt großartig gefühlt haben.”

Wütend ließ ich meine Augen über die Rinde gleiten und entdeckte weiter unten außerdem tiefe Schnitte. Da hatte jemand wirklich ganze Arbeit geleistet. Wenn ich die erwische.

Ich wollte ihm helfen, seinen Schmerz lindern. Moment mal, das war ein Baum?! Hallo ein Baum?!, brüllte mein Verstand. Ich redete mit einem Baum. Na und, schob ich den Gedanken zur Seite.

Sanft legte ich meine Hände auf die Wunde.

Plötzlich erschien zwischen meinen Händen und dem Baum ein zartes, hellgrünes Licht, das immer stärker zu leuchten anfing. Fassungslos sah ich, wie die Wunde an den Rändern begann zuzuwachsen, doch sofort spürte ich, wie ich schwächer wurde. Die Energie floss einfach so aus mir heraus, ich konnte sie nicht stoppen, meine Hände vom Stamm nehmen. Sie gehorchten mir nicht mehr, als wären sie festgewachsen. Meine Kräfte schwanden, verzweifelt versuchte ich nicht ohnmächtig zu werden, irgendwas zu tun, doch es gelang mir nicht. Schon bald begannen die vertrauten silbernen Punkte vor meinem Blick zu tanzen und ich konnte nur dabei zusehen, wie die Wunde zusehends verheilte und in rasender Geschwindigkeit eine neue Rinde wuchs. Als das Loch sich schließlich schloss, war ich so erschöpft, dass ich mich nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte. Wie ein Kartenhaus klappte ich einfach so zusammen. Kurz bevor ich ohnmächtig wurde, durchströmte mich eine Welle der Erleichterung und der Dankbarkeit. Dann verlor ich das Bewusstsein und sank hinab in eine tiefe Schwärze, die mich umhüllte.

Kapitel 12

Irgendwann kamen mein Bewusstsein und damit meine Wahrnehmung zurück. Ob es nach fünf Minuten oder einigen Stunden war, konnte ich nicht sagen, denn ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Um mich herum hörte ich Vögel zwitschern und spürte den kalten rauen Fußweg unter mir. Langsam nahm ich auch meinen Körper wieder wahr. Ich fühlte mich komplett ausgelaugt. Der Baum hatte mir meine vollständige Energie entzogen! Panisch setzte ich mich auf und blickte um mich. Doch sofort begannen silberne Punkte in meiner Sicht zu tanzen und mir wurde schwindelig. Ich war so schwach, dass ich mich kaum im Sitzen halten konnte.

"Vorsicht", hörte ich hinter mir jemanden murmeln und ein Arm legte sich um meine Schultern. Vor lauter Schreck schrie ich laut auf, schüttelte den Arm ab und fuhr herum. Aber als ich erkannte, wer hinter mir saß, entspannte ich mich und mein Herz, das eben wie nach einem Marathon geklopft hatte, schlug wieder langsamer.

"Ach du bist es, Chris." Ich verzog den Mund zu einem schwachen Grinsen und seufzte erleichtert. "Du hast mich gerade total erschreckt."

"Was denkst du, wie ich mich erschreckt habe, als ich dich hier einfach so auf dem Boden habe liegen sehen! Ich dachte im ersten Augenblick, du wärst tot, aber du hast geschnauft und bevor ich den Krankenwagen rufen konnte, hast du dich auch schon wieder aufgesetzt. Was ist denn passiert?"

So ein Monsterbaum hat versucht mich umzubringen, das ist passiert. Aber das sagte ich ihm natürlich nicht. Aaah der Baum! Sofort sprang ich auf und sah mir die Rinde an. Die vormals blutige Wunde war verschwunden und eine leicht grüne Haut hatte sie geschlossen. Vorsichtig legte ich meine Hand auf die Stelle und spürte jäh Dankbarkeit aufwallen. Wie als hätte ich mich verbrannt, riss ich meine Hand sofort wieder weg. Wer weiß, vielleicht würden dem Baum auch noch Tentakeln wachsen, mit denen er mich fangen konnte. Inzwischen war auch Chris aufgestanden und begutachtete verwundert die Stelle.

"So eine seltsame Rinde habe ich ja noch nie gesehen", murmelte er. Da hatte er wohl recht. Irgendetwas war hier gewaltig faul. Der Baum hatte mich einfach angezapft. Und irgendwelche kranken Psychopaten versuchten mich zu finden. Und meine Freundinnen wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Und alles wegen diesem verdammten Pentagramm! Wie auf ein Stichwort, begann es unter meiner Jacke zu brennen.

Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte nichts hiervon! Ich wollte mein altes ruhiges normales Leben zurück! Kein Leben, in dem Tafelschwämme anfingen zu kochen und Wasser im Mund gefror. Warum musste so etwas ausgerechnet mir passieren? Ich war doch kein Superheld aus irgendeinem Actionfilm. Ich war doch nur Vicky. In Gedanken verfluchte ich meinen 16. Geburtstag, denn an diesem Tag hatte alles angefangen, das ganze Chaos! Und auch wenn ich immer diese merkwürdigen "Versuch dich zu erinnern"-Träume hatte, die Leute, die sie mir schickten hatten jetzt eben Pech gehabt. Ich würde nicht ihren Helden spielen. Ich würde nie wieder mit Wasser experimentieren, denn diese Fähigkeiten hatten mir nur Ärger eingebracht und konnten mir wirklich getrost gestohlen bleiben. Und ich würde daheim zuallererst eine Narbensalbe aus Mamas Apothekerschrank holen und der Narbe auf meiner Schulter den Krieg erklären.

Ich fühlte mich so entsetzlich alleine. Warum war ich so ein Freak, warum nicht Chris? Warum konnte sein Leben so perfekt sein?

Ohne dass ich es bemerkte, schluchzte ich laut auf.

"Hey", murmelte Chris mitfühlend und nahm mich vorsichtig in den Arm. Verzweifelt klammerte ich mich an ihn und vergrub mein Gesicht in seinem T-Shirt. Beliebt, hübsch, schlau, perfekt, sportlich, ein nettes Lachen, süße Grübchen, perfekt. Warum nur war mein Leben ein einziges Chaos?! Warum musste es mir passieren, dass ich dieses vermaledeite Pentagramm auf die Schulter bekam, wenn ich doch nichts mit diesem Zeug zu tun haben wollte.

Ein Weinkrampf schüttelte mich.

"Alles wird gut", versuchte Chris mich zu überzeugen, aber irgendwie half es nicht. "Komm, ich bring dich nach Hause", beschloss er schließlich. In normalem Zustand hätte mein Herz in diesem Augenblick wohl einen Satz gemacht, aber heute stolperte es nur kurz. Nicht einmal darüber konnte ich mich freuen, so fertig war ich. Entschlossen wischte ich mir die Tränen ab, Chris legte seinen Arm um mich und führte mich wie eine Sterbenskranke oder nein, eher wie eine Betrunkene, den Weg entlang. Die ganze Zeit schwiegen wir, hin und wieder brach ein Schluchzen aus mir heraus, das ich sofort unterdrückte. Er sollte mich nicht für eine Heulsuse halten. Wer weiß, vielleicht erzählte er es sofort herum? Er würde sicher nicht verstehen, was mit mir passierte, wenn selbst meine besten Freundinnen nichts mehr mit mir zu tun haben wollten, nur weil ich mich seltsam verhielt.

Ich weiß nicht, wann der Wunsch aufkam, wieder ganz normal zu sein, vielleicht war es schon lange ein kleiner Gedanke, tief in mir, aber irgendwann stand mein Entschluss fest. Ich würde alles und zwar wirklich alles, was seit meinem 16. Geburtstag geschehen war in eine kleine Kammer irgendwo in meinem Gehirn zwingen und es nie wieder heraus lassen. Nie wieder.

 

Zu Hause bekam meine Mutter beinahe einen Zusammenbruch, als sie mich, von Chris gestützt, herantaumeln sah. Wie ein aufgeschrecktes Huhn flatterte sie um mich herum. Sofort wollte sie mit mir ins Krankenhaus fahren, aber ich konnte sie gerade noch davon überzeugen, dass ich nur in mein Bett wollte. Eine weitere Bestätigung für mich, dass ich ihr nichts von den Typen, nichts von meinen seltsamen Fähigkeiten und schon dreimal nichts von dem Pentagramm erzählen sollte.

Umkippen war ja wenigstens halbwegs normal, doch was würde sie tun, wenn sie das Unnormale erfuhr? Ich wollte es nicht wissen.

Chris stand einfach nur da und sah verwirrt von mir zu meiner Mum und zurück. Eigentlich wäre mir das alles ziemlich peinlich gewesen, aber dazu fehlte mir einfach die Kraft. Ich wollte nur noch in mein Bett. Hallo?! Ein verrückter Monsterbaum hat mich fast umgebracht und mir meine Lebensenergie abgezapft, wenn man es so nennen wollte!

Und ich wagte es stark zu bezweifeln, dass mir im Krankenhaus damit geholfen werden konnte. Soweit ich wusste, gab es ja noch keinen Energiespender, denn Baum-Übergriffe waren ebenfalls nicht wirklich normal.

Irgendwann bedankte ich mich bei Chris und meine Mutter flitze in die Küche, um ihm als Dankeschön noch etwas Süßes zu holen, doch als sie wieder kam, hatte Chris sich bereits verabschiedet und war geflohen.

Die Schokolade nahm ich meiner erstaunten und auch etwas enttäuschten Mutter aus der Hand und verschwand damit in meinem Zimmer. Dort ließ ich mich mit einem lauten Seufzer auf mein Bett fallen und ehe ich mich versah, waren mir schon die Augen zugefallen.

 

Durch meine Erschöpfung schlief ich tief und traumlos. Als ich wieder erwachte, war es bereits Nacht. Erstaunt setzte ich mich auf und blickte auf die Leuchtziffern meines Weckers. Es war genau 00:01 Uhr. Eine Erinnerung zuckte durch meinen Kopf. Um diese Uhrzeit war ich an meinem Geburtstag aufgewacht, als der ganze Spuk begonnen hatte, als ich vom Anblick des Mondes Phantomschmerzen bekommen hatte, Wasser unkontrolliert gefror oder explodierte und sich ein wunderschönes Pentagramm in meinen Arm gebrannt hatte.

Oh nein, was stand mir wohl diese Nacht bevor? Es war definitiv kein Zufall, dass ich schon wieder um die gleiche Uhrzeit aufgewacht war, so viel stand fest.

Unruhig lauschte ich in mein tiefschwarzes Zimmer hinein, doch alles blieb still. Draußen war es ebenfalls dunkel. Zu dunkel. Keine Laterne brannte in meiner Straße, kein Licht in den Fenstern. Seltsam. Unheimlich. Um diese Uhrzeit schliefen doch normalerweise nicht schon alle.

Während ich in meinem Bett saß und darauf wartete, dass etwas passierte, zog die vergangene Woche in meinen Erinnerungen vorbei.

Doch das Glücksgefühl, dass ich verspürte, als ich erneut das Wasser kontrollierte, wandelte sich jäh in Abscheu. Ich war ein lebender Freak. Was, wenn mich diese Männer einsperren wollten, damit ich niemanden verletzte?

Ich schlug die Hände vors Gesicht. Das war einfach alles zu viel! Ohne ein bestimmtes Ziel setzte ich mich auf und ließ meine Beine über den Rand meines Bettes baumeln. Sie streiften etwas, das auf dem Boden vor meinem Bett lag und vor Schreck zuckte ich zurück. Ah das war die Schokolade. Sie musste mir aus der Hand geglitten sein, als ich eingeschlafen war. Naja, dann gibt es jetzt eben einen kleinen Mitternachtssnack für die Nerven, dachte ich und grinste ironisch in mich hinein. Schokolade sollte ja angeblich glücklich machen. Doch mit jedem Stück wurde ich nicht wirklich fröhlicher, sondern eher deprimierter. Meine Gedanken wanderten zu Chris. Er hatte mich bis nach Hause gebracht! Aber so wie meine Eltern reagierten, würde er es bestimmt kein zweites Mal machen. Irgendwie sind sie genauso verrückt wie ich, nur irgendwie anders. Nicht so schlimm. Was, wenn sie auch solche Fähigkeiten hatten?

Aber ich konnte mich nicht erinnern jemals ein Pentagramm auf ihnen gesehen zu haben und dass sie Wasser kontrollieren konnten war mir schleierhaft. Andererseits hatte meine Mutter erschreckend gelassen reagiert, als ich die Salatschüssel in meinem Zimmer hatte und selbst wenn sie zu diesem Zeitpunkt nur eine vage Ahnung gehabt hatte, dann hatte sich diese bestimmt durch Flori bestärkt, als er mich mit den Wasserkugeln gesehen hatte.

Aber selbst wenn sie etwas davon wusste, damit war jetzt Schluss. Kein Hokus Pokus mehr! Aus! Ende! Vorbei!

 

Chris. Wie er seinen Arm um mich gelegt und mich nach Hause gebracht hatte, wie er mich einfach in den Arm genommen und getröstet hatte und wie besorgt sein Blick war, als ich aufwachte. Ein Stückchen Schokolade nach dem anderen nahm ich aus der Schachtel und ließ es mir im Mund zergehen. Plötzlich wurde ich ganz ruhig. Die Schokolade schien zu wirken. Ich lachte leise humorlos auf. Es hatte mich niemand gefragt, ob ich das alles wollte und ich wollte es nicht. Ab morgen würde ich wieder ein normales Leben führen. Ein winziger Teil in mir trauerte den spannenden Übungen nach, aber der Rest brachte ihn ziemlich schnell zum Schweigen. 

Impressum

Texte: Cover von http://www.hexe-ashira.net/schalter.htmDie Rechte an der Geschichte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Benny, meinen Liebling, den ich jeden Tag vermisse. Für Jenny, deine Ruhe ist wirklich erstaunlich. Und für meine Familie, die ich über alles liebe.

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