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Stromschlag



Dieser eine Tag, der vorgab genau so zu sein, wie jeder andere, sollte mein Leben von Grund auf verändern.
Diese Nacht sollte für lange Zeit die letzte sein, in der ich ruhig geschlafen hatte.

Es begann alles mit einem schmerzhaften Vorfall, dem ich vorerst keine Bedeutung schenkte. Meine Klasse stand vor der abgeschlossenen Tür zu unserem Klassenzimmer. Unser Lehrer war zu spät, wie eigentlich immer. Schließlich kam er doch irgendwann den Flur entlang, bahnte sich den Weg zur Türe und schloss auf. Alles drängte und schob sich in den Klassenraum. Als ich gerade unter dem Türrahmen war, bekam ich von hinten einen Stoß und stolperte vorwärts. Panisch versuchte ich mich an etwas festzuklammern, um nicht zu fallen. Dabei streifte ich die Handinnenfläche des Jungen vor mir und bekam einen heftigen Stromschlag. Gleichzeitig schrien wir auf und während ich vergeblich noch versuchte mich an ihm festzuhalten, um nicht zu fallen, sprang er wie von der Tarantel gestochen auf die Seite und ich schlug der Länge nach auf den Boden. Die Klasse lachte. „Trampel-Anna“, rief Celly, die Klassenqueen. Am liebsten wäre auf der Stelle ich in ein Mauseloch gekrochen. Meine Freundinnen halfen mir auf und fragten besorgt, ob mir etwas wehtue. Mein rechter Arm, durch den ich den Stromschlag bekommen hatte, fühlte sich taub an, die Fingerspitzen kribbelten, aber sonst spürte ich nichts. Hatte ich mir durch den Sturz etwas eingeklemmt? Vorsichtig betastete ich ihn, konnte oberflächlich aber nichts feststellen. Chris, der Held, der lieber aus dem Weg gesprungen war, als mich aufzufangen, lehnte an der Wand neben der Türe und betrachtete mit gerunzelter Stirn ebenfalls seinen Arm. Auf einmal hob er den Kopf, fixierte mich und blickte wieder zurück auf seinen Arm. Ich hatte plötzlich eine Gänsehaut. Langsam ging ich zu meinem Platz, setzte mich und holte mein Mäppchen aus dem Ranzen. Meine Hand war immer noch taub und das Kribbeln sogar stärker geworden. Und zu allem Überfluss bekam ich auch noch Kopfschmerzen. Angestrengt versuchte ich dem Unterricht zu folgen, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Plötzlich verschwamm das Klassenzimmer vor meinen Augen und ich sah nur noch flimmernde graue Pixel. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er auf die doppelte Größe angeschwollen. Was war nur los mit mir? Erst fiel ich der Länge nach vor der gesamten Klasse auf die Nase und jetzt?
„Habe ich Fieber?“, flüsterte ich meiner Freundin zu. Sie legte die Hand auf meine Stirn und schüttelte den Kopf.
„Nein, fühlt sich normal an“.
„Irgendwas stimmt nicht mit mir“, murmelte ich.
„Wollen die Damen uns mitteilen, was Sie zu erörtern haben, das wichtiger sein kann, als meinem Unterricht zu folgen?“, ertönte die Stimme meines Lehrers von vorne. Sofort lief ich rot an und zog schuldbewusst den Kopf ein.
„Na bitte“.
Nach der Rüge meines Lehrers versuchte ich mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Vergebens. Immer und immer wieder entglitten mir meine Gedanken. Mein Arm kribbelte wie tausend Ameisen und die Kopfschmerzen wurden noch schlimmer, falls das überhaupt möglich war. Von Zeit zu Zeit stachen sie besonders fies, als ob mir jemand glühende Nägel in den Kopf schlagen würde. Der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen und das Atmen fiel mir unglaublich schwer. Bei jedem Einatmen fühlte es sich an, als wenn mein Brustkorb zusammengepresst würde. Was um mich herum geschah, nahm ich schon lange nicht mehr wahr. Weder, was mein Lehrer vorne erzählte, noch was meine Mitschüler taten. Ich litt Höllenqualen, mein Kopf dröhnte wie ein Flugzeug beim Starten. Mit einem schmerzerfüllten Aufkeuchen stützte ich den Kopf in beide Hände und verzog das Gesicht. Tränen verschleierten meine Sicht und tropften ungehindert auf mein Schulheft. Auf einmal erreichte die Folter einen neuen Höhepunkt, es pochte und stach zugleich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und ehe ich es realisierte, öffnete sich mein Mund und ich schrie die ganzen Schmerzen hinaus. Meine ganzen Klassenkameraden drehten sich zu mir um und starrten schockiert an und der Lehrer vorne war erst perplex und dann sofort wütend, da ich ihn in seinen Ausführungen unterbrochen hatte.
„Es tut so weh“, jammerte ich und meine Klasse fing an zu tuscheln.
„Anna, was störst du meinen Unterricht schon wieder“, bellte mein Lehrer von vorne und kam auf mich zu. „Du weinst ja, was ist passiert?“ Sofort glotzten mich alle wieder an und begannen zu lästern.
„Mein Kopf platzt“, presste ich heraus und versuchte zu verhindern, dass ich erneut lossschrie.
„Am besten du gehst zur Krankenschwester und legst dich ein bisschen hin“, meinte er. „Wer begleitet sie?“
Meine Freundin Sophia meldete und erhob sich sogleich, um mir aufzuhelfen. Ich zitterte und meine Beine waren wie Wackelpudding. So gut es ging, verließ ich schwankend das Klassenzimmer, beide Hände an die Schläfen gedrückt. Nach einigen Metern gaben meine Beine einfach nach und ich stürzte zum zweiten Mal an diesem Tag. Da lag ich nun auf dem Boden und heulte mir meine Seele aus dem Leib. Meine Freundin versuchte vergeblich, mich zum Aufstehen zu bewegen, ich blieb einfach liegen, wie ein nasser Mehlsack. Eigentlich wollte ich ja aufstehen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Doch ich hatte Glück im Unglück, denn in diesem Augenblick kam mein Sportlehrer um die Ecke und sah mich dort wimmernd auf dem Fußboden liegen. Schnell erklärte meine Freundin, dass ich Kopfschmerzen hätte, mein Sportlehrer kniete sich zu mir nieder, nahm mich mit den Worten „Na, na so schlimm wird’s doch nicht sein“ auf seinen Arm und trug mich zur Schulkrankenschwester. Diese gab mir ein schmerzstillendes Medikament und eine Schlaftablette. Bald darauf versank ich im Reich der Träume.

Als ich aufwachte, war es bereits dunkel. Wo war ich? Verwundert setzte ich mich auf, der erwartete Schmerz blieb aus. Ich fühlte nur noch ein dumpfes Pochen, wie betäubt. Da merkte ich, dass ich in meinem Zimmer war. Wer hatte mich hierhergebracht?
Wie auf das Stichwort ging meine Zimmertüre auf und meine Mutter blickte herein.
„Gott sei Dank, du bist wach. Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht.“ Sie ging zu mir und setzte sich auf das Bett.
„Wie…“ Obwohl ich die Frage nicht aussprach, wusste sie was ich meinte.
„Die Schulkrankenschwester hat mich angerufen. Sie meinte, du hast so starke Kopfschmerzen, dass sie dir eine Schlaftablette gegeben hat. Papa und ich sind sofort zu dir gefahren. Selbst im Schlaf hast du dein Gesicht verzerrt, als hättest du immer noch Schmerzen. Es hat mir so wehgetan, das zu sehen. Wir haben dich gleich mitgenommen und Papa dich hoch in dein Bett getragen.“
Wow

. Ich war sprachlos. Die Tablette hatte mich richtig ausgenockt.
„Wie lange war ich weggetreten?“, wollte ich wissen.
„Bald sieben Stunden.“ Kalt kroch es mir den Rücken hinunter. Was, wenn ich nicht mehr aufgewacht wäre?


„Wie geht es dir jetzt?“, fragte meine Mutter.
„Die Schmerzen sind weg“, antwortete ich. Hoffentlich kommen sie nicht wieder, wenn die Tablette nachlässt.


„Das ist gut. Hast du Hunger? Du hattest schließlich kein Mittagessen.“
Oh ja, jetzt wo ich darüber nachdachte, spürte ich das große Loch in meinem Magen.
„Riesigen Kohldampf“, bestätigte ich.
Meine Mutter lachte leise.
„Na wenn du Hunger hast, dann geht es dir bestimmt wieder gut. Kommst du?“
Ich schob die Bettdecke zur Seite, kletterte aus dem Bett und folgte meiner Mutter nach unten in die Küche. Das Abendessen verlief ziemlich schweigsam, da ich in Gedanken bei heute Morgen war und somit auf Fragen nur mit „hm“ oder Kopfnicken antwortete. Meine Eltern glaubten wahrscheinlich, es wären die Nachwirkungen von der Tablette, dass ich heute überhaupt nicht gesprächig war. Normalerweise plapperte ich eigentlich wie ein Wasserfall und erzählte alles, was ich in der Schule erlebt hatte.

Warum hatte ich einen Stromschlag bekommen, als ich Chris berührte? Meine Hand hatte danach noch Ewigkeiten gekribbelt. Hatte ich auch deshalb Kopfschmerzen bekommen? Wie war das möglich?
Chris.
Wie konnte jemand nur so gut aussehen, so intelligent und so lustig zur gleichen Zeit sein? Neben ihm kam ich mir richtig unbedeutend vor, aber jedes Mal, wenn er mit mir sprach, hatte ich das Gefühl doch irgendwie wichtig zu sein. Wenn er zufällig seinen Blick schweifen ließ und seine Augen die Meinen fanden, wurde es in mir wohlig warm. Ich wollte mich in seinen wunderschönen braunen Augen verlieren, versinken, wie in einem goldenen Ozean. Heimlich wünschte ich mir, er würde für mich auch so empfinden wie ich für ihn. Was natürlich vollkommen vergebens war. Was empfand ich eigentlich für ihn? Das war doch eh nichts weiter als eine sinnlose Mädchenschwärmerei. Welches Mädchen aus meiner Stufe stand nicht auf ihn?
Nie im Leben würde er sich für mich interessieren. Er hatte doch Paulina. Schlank, blond, blaue Augen, sexy, beliebt. Gegen sie hatte ich nie im Leben eine Chance. Was hatte ich, dass sie nicht hatte?
Ich war einfach nur durchschnittlich.
Durchschnittlich groß. Durchschnittlich hübsch. Durchschnittlich intelligent.
Eher unscheinbarer Typ, aber hin und wieder doch so sichtbar, dass man sich über mich lustig machen konnte.
Alles in allem nicht die Art von Mädchen, in die man sich sofort verliebte. Oder die Art, die Jungs gleich nach ihrer Pfeife tanzen lassen konnte.
Eigentlich traurig.



Das Abendessen war vorbei und ebenso schweigend stand ich vom Tisch auf, wünschte meinen Eltern kurz angebunden „Gute Nacht“ und verschwand in mein Zimmer. Noch eben durchs Bad, Zähne putzen, waschen und dann ins Bett.
In dieser Nacht träumte ich schlecht, was zum einen gewiss noch eine Nachwirkung der Tabletten war.

Alles ist kohlrabenschwarz. Plötzlich taucht vor mir ein Gesicht auf. Chris. Er blickt mich ernst, aber zugleich verwirrt an. Auch der Rest seines Körpers materialisiert aus der Dunkelheit. „Wo sind wir?“, will ich wissen. Chris gibt mir keine Antwort. Eigentlich sieht er nicht aus, als hätte er überhaupt gehört, was ich sagte. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Auf einmal verbeugt er sich mechanisch vor mir und hält mir seine Hand entgegen. Zögernd ergreife ich sie. Irgendwas ist komisch. Ich spüre keinen Widerstand. Meine Hand liegt in seiner, aber ich fühle sie nicht. Verwundert ziehe ich eine Augenbraue hoch, aber auch das bemerkt Chris offensichtlich nicht. Er zieht mich an sich, legt eine Hand an meine Schulter, hebt den Kopf und blickt mir ins Gesicht. Ein Schreck fährt mir durch die Glieder. Seine Augen sind leer. Wie ein Geist starrt er durch mich hindurch. Er sieht mich überhaupt nicht.
Aus dem Nichts erscheint um uns herum ein Strudel wirrer bunter Farben und Musik spielt auf zum Tanz. Ich will nicht, will verschwinden, aufwachen. Auf gar keinen Fall eine Sekunde länger in seine toten Augen blicken, die mich immer noch unverwandt anstarren, durchstarren. Doch seine Hand hält mich eisern fest, lässt mich nicht entfliehen. Langsam, fast hypnotisch drehen wir uns zur Musik im Kreis. Die vormalig bunten Farben werden grau-schwarz. Ich fühle mich wie in einem schlechten Schwarzweißfilm. Die Musik verändert sich ebenfalls, klingt nun dumpf und bedrohlich. Entsetzt starre ich Chris an. Seine Hautfarbe gleitet ins bleiche und dort wo meine Hand in seiner liegt beginnt sich die Haut abzulösen, schwebt in langen Fetzen wie ein Spinnennetz davon und vermischt sich mit der Umgebung. Zurück bleiben nur die Knochen. Es dauert nicht lange, da tanze ich mit einem Skelett. Fies grinst es mich an und zeigt mir die Zähne. Von irgendwo her ertönt grausames Gelächter. Plötzlich löst sich das Skelett in Rauch auf und ich beginne in die unendliche Schwärze zu fallen. Immer schneller, immer tiefer. Aus der Dunkelheit greifen lange Finger nach mir. Irgendwann sehe ich einen grauen Boden auf mich zurasen. Ich kann nicht anhalten und schlage auf. Es ist eine Türe aus schwarzem Holz. Wie von Geisterhand öffnet sie sich und ich falle weiter. Um mich herum erstrahlen kleine Lichter wie Sterne. Einer dieser Sterne wird immer größer, heller. Mit immer größerer Geschwindigkeit näherer ich mich ihm, er verschlingt mich

und schweißüberströmt setzte ich mich in meinem Bett auf. Ich war wach. Gott sei Dank.
Auf dem Nachttisch tastete ich nach meinem Wecker. Es war mitten in der Nacht.
In der Hoffnung keinen weiteren Albtraum zu haben, drehte ich mich auf die Seite und schlief weiter.


Entdeckung



Meine Mutter musste mich regelrecht aus dem Bett zerren, so fertig war ich von der Nacht.
Ein verschrumpeltes Gesicht mit verquollenen braunen Augen blickte mir entgegen. Meine dunkelblonden Haare standen auf nach allen Seiten hin ab. Wer morgens zerknittert aufsteht, hat am Tag mehr Entfaltungsmöglichkeiten!

Na hoffentlich hatten die Recht. Ich grinste und drehte den Wasserhahn auf eiskalt. Irgendwie musste ich ja schließlich wach werden. Nach einem kurzen Frühstück stürmte ich auch schon aus dem Haus zur Schule.
Meine Freundin erwartete mich schon an unserem Treffpunkt und blickte mir freudig entgegen.
„Wie geht es dir?“, wollte sie auch sofort wissen, kaum dass ich da war.
„Prima“, antwortete ich und fügete hinzu: „Nur mein Kopf fühlt sich an wie ein großer Kürbis“.
Daraufhin runzelte Sophia die Stirn.
„Du bist ganz sicher, dass es dir gut geht?“
„Vollkommen.“
„Dann ist ja gut“, meinte sie und hakte mich unter. Gemeinsam schlenderten wir zur Schule.
Unglücklicherweise hatten wir in der ersten Stunde den gleichen Lehrer, den wir gestern hatten, als ich zusammengeklappt war. Als die ganze Klasse auf ihren Plätzen saß, das Schulzeug ausgepackt hatte, blickte er mich ernst an und fragte:
„Wie geht es dir heute? Keine Kopfschmerzen mehr?“
Natürlich drehten sich sofort wieder alle um und starrten mich an. Meine Wangen verfärbten sich rot und mir wurde heiß. Klar natürlich musste er das vor allen fragen.
Nach allen anderen drehte sich auch Chris um und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich wusste sofort, was er von mir dachte. Und das war nichts Gutes. Depp

, dachte ich. Was gibt’s da zu glotzen?

Daraufhin runzelte Chris die Stirn und blickte mich fragend an, als ob er etwas nicht richtig verstanden hatte. Ach dreh dich doch einfach wieder um, dachte ich genervt. Verwirrung stand in sein Gesicht geschrieben. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen und klappte ihn wieder zu. Seltsam, hörte ich ihn murmeln, als er sich wieder umdrehte.
Ja da hatte er wohl Recht. Ich beschloss meinen Kopf zu ignorieren, so gut wie es eben ging und dem Unterricht zu folgen.
Irgendwas war heute anders als sonst. Immer wenn der Lehrer eine Frage stellte, flüsterte Chris die Antwort vor sich hin und meldete sich anschließend, um die Frage zu beantworten. Und selbst, wenn er die Antwort nicht wusste, redete er vor sich hin.
Ich lehnte mich zu meiner Freundin und flüsterte ihr zu. „Sag mal, stört es dich auch, dass Chris andauernd die Antworten laut vorsagt?“ Sie blickte mich fragend an.
„Wie? Welche Antworten?“
„Naja immer, wenn Herr Müller eine Frage stellt, sagt er leise die Antwort, meldet sich dann und sagt sie nochmal laut“, erklärte ich ihr.
„Das hab ich überhaupt nicht bemerkt", erwiderte sie.
„Aber es war doch gar nicht leise… da hör mal … schon wieder."
Meine Freundin lauschte angestrengt.
„Ich hör nichts.“
Komisch.
Plötzlich drehte er sich um und schaute mich wütend an. „Kannst du denn nicht leise denken?“, zischte er.
„Denk selbst leise“, konterte ich. „Du erörterst ja auch alle Antworten mit deinen Freunden.“
„Tu ich überhaupt nicht", fauchte er.
„Ich genauso wenig", fügte ich hinzu.
„Ach sei einfach still, ja?“
Was bildet der sich eigentlich ein, dachte ich.
„Das habe ich gehört.“, flüsterte er.
„Freu dich, behalts“, entgegnete ich.
„Anna, das ist heute das zweite Mal, dass ich dich ermahnen muss. Sei bitte leise.“
Ich hörte wie Chris leise lachte.
„Das gilt auch für dich Christian.“
Haha.
Dumme Kuh, hörte ich ihn leise murmeln, als er sich wieder dem Lehrer zuwendete.
Gott sei Dank klingelte es in diesem Moment.
In der Pause saß ich mit Sophia in einer Fensternische und hing meinen Gedanken nach. Weshalb warf er mir vor, ich würde die ganze Zeit mit meinen Freundinnen reden. Wenn, waren das höchstens zwei oder drei Mal gewesen. Er selbst war ja auch nicht besser. Ich beschloss ihm heute aus dem Weg zu gehen.
Plötzlich lief Chris Freundin Paulina vorbei und auf Chris zu, der am anderen Ende des Ganges lehnte. Mich überkamen mit einem Schlag Gefühle, die ich noch nie gespürt hatte. Es fühlte sich beinahe so an, als hätte ich mich in Paulina verknallt. Das konnte nicht sein. Oder doch?
Zu allem Überfluss kamen die Kopfschmerzen zurück, wie als wenn ein großer, metallener Hammer auf meinem Schädel herumklopfen würde. „Ah…“. Stöhnend drückte ich mir die Hand an die Stirn. Meine Freundin schaute mich fragend an. „Kopfschmerzen“, quetschte ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hindurch, um nicht laut aufzuschreien. „Ich geh mal eben auf Klo.“
Die ersten Schritte fielen mir schwer. Unsicher schwankend setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Plötzlich schoss ein scharfer Schmerz von meiner Hand zu meinem Kopf. Ich schrie auf und mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich auf der Krankenstation. Ich setzte mich auf. Mir war zwar immer noch etwas schummerig, aber die Schmerzen waren wie weggeblasen.
Das war das zweite Mal in zwei Tagen, an denen ich diese grausamen Kopfschmerzen hatte und bewusstlos wurde. Erschreckend.
Ich wollte gerade aufstehen, da kam die Schulkrankenschwester herein. „Nein, ihr dürft noch nicht aufstehen.“ Ihr?
Ja, ihr, sagte Chris leise.
Ich drehte mich zu ihm um.
„Was ist mit dir passiert?“, fragte ich ihn.
„Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen und…“
… dann bist du umgekippt? Ich lachte.
„Nein, ich habe nur beschlossen mich etwas hinzulegen.“
„Was starrt ihr euch so an?“, fragte die Krankenschwester und blickte von mir zu Chris und wieder zurück.
Komisch, dachte ich.
Kannst du laut sagen.
„Versteht ihr eine Art der Telepathie?“, fragte uns die Krankenschwester erneut.
„Nein, wieso denn?“, antwortete ich verwundert.
„Weil ihr hier nur sitzt, als hättet ihr die Stimme verloren und euch anstarrt. Ich meine, wenn ihr ein Problem miteinander habt, dann müsst ihr darüber reden und euch nicht einfach nur schweigend anstarren.“
„Aber wir haben…“, versuchte Chris.
„Ich will es gar nicht hören. Macht das unter euch aus.“, sage sie und verließ das Zimmer.
„Was hat sie nur? Wir reden doch.“
„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist sie taub?“
„Ich höre euch nicht reden.“, rief es von draußen aus dem Vorzimmer.
Chris lachte auf.
Zum ersten Mal schaute ich ihn mir genauer an. Gut sah er aus. Sportlich, braun gebrannt, schöne dunkle Augen, volle Lippen und braune kurze Haare, die mit Gel wild verstrubbelt waren. Er sah richtig sexy aus.
Ein spöttisches Lächeln trat auf sein Gesicht.
„Finde ich ja nett, dass du mir sagst, wie toll ich aussehe.“
Perplex starrte ich ihn an.
„Was?“
„Glaubst du ich höre es nicht, wenn du leise murmelst, dass ich tolle Augen habe?“
Scheiße, hatte ich eben laut gedacht?
Plötzlich richtete er sich auf.
„Sag das nochmal“, verlangte er.
„Ich dachte ich hätte das nur gedacht. Ich wusste nicht, dass ich das laut ausgesprochen habe.“
„Sprich mir nach“, sagte er.
„Wieso denn?“
„Ich will was versuchen.“
„Okay.“
a²+b²=c²
„Wieso soll ich Pythagoras wiederholen?“
„Waaas?! Das hast du gehört?“
„Ja wieso nicht?“
Du hättest es nicht hören dürfen, weil ich es gedacht habe.
„Du hast es gedacht? Du meinst…? Meinst du…?“
„Schon wieder. Das habe ich eben auch gedacht.“
„Aber wie kann…“
„Ich hab keine Ahnung wieso du hören kannst, was ich denke.“
„Das kann nicht sein.“
„Natürlich nicht. Es ist absolut unlogisch.“
„Du nimmst mich auf den Arm oder?“
„Wenn du mir nicht glaubst, dann denk was.“
Ich dachte das erste, was mir einfiel. Die Decke auf der Liege hat die Farbe von Erbrochenem.
Chris grinste.
„Ja ich schätze du hast Recht, die Decke sieht wirklich aus, als hätte sich jemand übergeben.“
„Wie…?“ Mir blieb die Frage im Hals stecken.
„Glaubst du mir jetzt?“
Ja.
Ich spürte eine tiefe Verbundenheit zwischen uns.
Da ging die Tür auf, Paulina kam rein und die Verbundenheit war weg. Sie ging auf Chris zu und küsste ihn einfach auf den Mund.
Sofort brachen die Gefühle, die ich vorhin gespürt hatte, wieder über mich herein, nur diesmal wusste ich, dass es nicht meine waren, sondern seine.
Chris stand auf, nahm Paulinas Hand und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Zimmer. Was hatte ich denn erwartet? Zumindest hätte er noch irgendetwas sagen können. Zu spät fiel mir ein, dass er das wahrscheinlich gehört hatte.
Da ging die Tür noch einmal auf und Chris kam herein. Ich wollte schon lächeln, als ich die Wut in seinem Bauch spürte. Er kam ganz nah zu mir, bis sich unsere Gesichter fast berührten.
„Ich weiß nicht, wieso ich deine Gedanken höre und du meine. Ich weiß es nicht und ich will es auch gar nicht wissen.“, sagte er kalt. „Mach einfach dass es aufhört, klar?!“
„Was? Wie soll ich das machen?“
„Jetzt tu doch nicht so unschuldig“, höhnte er. „Mit deinem Kopf muss etwas kaputt sein, nicht mit meinem. Schließlich bist du hingefallen.“
„Was hat das denn damit zu tun?“
„Ist mir egal. Ich hab einfach keine Lust auf diese Freakshow.“
„Denkst du ich will andauernd hören, was du denkst?“
„Du kannst dich geehrt fühlen.“
„Klar geehrt. Du denkst wohl du bist so was tolles, dass ich vor Ehrfurcht vor dir knien müsste. Da hast du dich wohl getäuscht. Du bist einfach ein…“ …selbstverliebtes Arschloch.
„Das hab ich gehört“.
„Schön, dann hast du es eben gehört. Darfst es ruhig behalten.“
„Halt dich einfach von mir fern okay? Ich will nichts mit dir zu tun haben. Und denke gefälligst nicht, wenn du in der Nähe bist.“
„Nicht denken. Was gibt es einfacheres…“
„Dann finde raus, wieso ich dich ertragen muss und beende es einfach.“ Und mit diesen Worten rauschte er zur Tür wieder hinaus.
Verwirrt und enttäuscht schüttelte ich den Kopf.


Heute hatte ich glücklicherweise nur noch Sport, ohne Chris. Und da ich gestern und auch eben umgekippt war, durfte ich früher heimgehen.
Daheim setzte ich mich auch sogleich an meinen Computer um herauszufinden, was mit mir oder besser gesagt uns los war. Kopfschmerzen in Kombination mit Ohnmacht hatten vor mir schon viele Menschen gegoogled, denn es gab massenhaft Foren und Selbsthilfeseiten. Eine Homöopathie Seite verschrieb mir Globuli, Wikipedia schlug mir vor, dass ich eine Anämie haben könnte. Klar Blutarmut, sicher doch. Fast alle Foren kamen zu dem Schluss, dass man einen Facharzt aufsuchen oder sich in eine Uniklinik überweisen lassen sollte, aber keine der Seiten konnte mir erklären, warum ich Chris Gedanken gehört hatte.
Meine Mutter kam von ihrer Arbeit nach Hause und begann zu kochen. Ich entschloss mich ihr zu helfen, da hatte ich wenigstens andere Gedanken im Kopf und war etwas abgelenkt. Sie wunderte sich freilich, da ich normalerweise nie freiwillig in die Küche kam, um beim Kochen zu helfen.
Das Mittagessen verlief ebenso schweigend wie das Abendessen. Meine Mutter versuchte mir vergebens aus der Nase zu ziehen, wie es mir in der Schule ergangen war. Gleich danach verschwand ich wieder in meinem Zimmer und widmete mich der Recherche, aber wirklich hilfreiches fand ich nicht. Gegen Abend hin spürte ich auf einmal eine furchtbare Wut in mir aufsteigen. Ich wusste nicht, worüber ich wütend war, nur dass ich wütend war. Verwundert und bewegungsunfähig blieb ich auf meinem Schreibtischstuhl sitzen und horchte in mich hinein. Es gab überhaupt keinen Grund wütend zu sein. So plötzlich wie die Wut gekommen war, verschwand sie auch wieder. Zurück blieb ein undefinierbares Gefühl von Verzweiflung und Trauer, das ich wiederum nicht verstand. Also startete ich eine fröhliche Musik und hüpfte laut singend im Zimmer auf und ab.
Beim Abendessen plapperte ich über irgendwelche Belanglosigkeiten. Meine Eltern sollten sich keine Sorgen machen, dass mit mir momentan etwas nicht stimmte. Und auf gar keinen Fall durften sie erfahren, dass ich schon wieder umgekippt war. Meine Mum, ängstlich und fürsorglich wie sie war, würde mich sofort zu hundert Ärzten schleppen, nur um sich zu vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung sei. Und das wollte ich sowohl ihr, als auch mir ersparen.
Todmüde fiel ich schließlich ins Bett und entglitt sofort ins Reich der Träume.

Ich gehe spazieren. Durch die düsteren Straßen einer mir unbekannten Stadt, Links und rechts von vereinzelten Laternen gesäumt, die kaum Licht geben. Auf einmal biege ich ab und finde mich in einem engen Hohlweg wieder, der von Büschen verdeckt wird. Ich folge diesem Weg entlang eines Baches, aus dem leichter Nebel aufsteigt. Je weiter ich gehe, desto dichter wird der Nebel, wie eine weiße Wand ragt er vor mir auf. Unbeirrt marschiere ich weiter, ich habe keine Angst.
Plötzlich höre ich aus dem Nebel ein bedrohliches Knurren und kurz darauf ein wildes Bellen, gefolgt von einem Angstschrei. Ich beschleunige meine Schritte, renne beinahe auf das Unbekannte zu. Warum drehe ich nicht um und laufe so schnell es geht von dem Bellen weg? Das kann ich nicht sagen, ich habe nur das Gefühl, dass ich dort hingehen muss und dass mir nichts passieren wird.
Der Weg macht einen Knick und direkt hinter der Kurve sehe ich einen riesigen Hund. Er ist so groß, dass er mir an die Taille reicht, hat verzotteltes, struppiges, wahrscheinlich braunrotes Fell. Als er mich kommen sieht, wendet er sich mir zu und offenbart murmelgroße gelbe Augen, die mich unverwandt anstarren. Drohend zieht er die Lefzen hoch und knurrt tief aus der Kehle. Aus irgendeinem Grund habe ich immer noch keine Angst und nähere mich dem Hund. Und plötzlich sehe ich, worauf der Hund steht. Auf dem Boden liegt ein Mensch! Nein, nicht ein Mensch, auf dem Boden liegt Chris! Und der Hund steht mit den Vorderpfoten auf seinem Oberkörper und hält ihn am Boden gefangen.
Angst schnürt mir die Brust zu. Was soll ich tun? Auf keinen Fall ruckartige Bewegungen, nicht dass der Hund Chris beißt. Ich gehe immer näher und strecke vorsichtig die Hand nach ihm aus. Der Hund schnappt in meine Richtung und legt die Ohren an.
„Hab keine Angst, ich tu dir doch nichts“, fange ich an mit dem Hund zu sprechen.
„Ja du bist ein braves Wuffi.“
Ich kann meine Hand auf seinen Kopf legen und beginne ihn hinter den Ohren zu kraulen. Er schmiegt sich an meine Hand und wedelt mit dem Schwanz.
„Ei du bist aber brav.“
Von Chris habe ich bisher kein Wort gehört, ein Blick aus dem Augenwinkel zeigt mir, dass er den Hund auf seiner Brust mit ängstlich aufgerissenen Augen anstarrt. Tsss ist doch nur ein Wauwau.
Einer Intuition folgend stecke ich meine Hand in die rechte Jackentasche und siehe da, ich habe Hundeleckerli dabei. Damit locke ich den Hund von Chris herunter, der brav vor mir Sitz macht, mir sein Pfötchen gibt und die Leckerli verspeist.
Als ich aufblicke, ist Chris verschwunden. Hat sich einfach aus dem Staub gemacht, der Feigling. Ohne auch nur danke zu sagen.
Aber dennoch bin ich froh, dass ihm nichts passiert ist.



Als ich aufwachte, war es bereits hell draußen, also stand ich auf und stellte mich unter die Dusche, um diesen Traum zu vertreiben. Das war bereits die zweite Nacht in Folge, in der ich Albträume hatte.


Der Sternengang



In den ersten beiden Stunden ignorierte mich Chris. Unglücklicherweise sollten wir Gruppenarbeit machen und ein Thema erarbeiten. Wir waren natürlich in der gleichen Gruppe. Allerdings schien sich niemand daran zu stören, dass Chris mich weder ansah noch ansprach. Und immer wenn ich etwas sagen wollte, fiel er mir ins Wort. Das schmerzte sehr, so dass ich nach kurzer Zeit nichts mehr sagte und einfach nur noch dabeisaß. Ich war unsichtbar.
Als es klingelte, packte er mich am Ärmel und zerrte mich aus dem Klassenzimmer. Ich war so überrascht davon, dass ich keinerlei Widerstand leistete und ihm folgte. Vor der Tür ließ er meinen Ärmel nicht los, sondern schleifte mich in eine Besenkammer unweit unseres Klassenzimmers und knallte die Türe zu. Gewissermaßen war es jetzt unglaublich romantisch, aber auch ziemlich beängstigend, weil ich nichts sah.
„Machst du bitte das Licht an?“, fragte ich verunsichert.
„Nein“, antwortete Chis kalt.
„Was willst du von mir?“
„Hast du schon rausgefunden, wie du das wieder rückgängig machen kannst?“
„Nein…“
„Gib mir deine Hand, vielleicht lässt es sich so wieder umdrehen“, ertönt es irgendwo aus der Dunkelheit und Chris tastet nach mir. Als er meinen Arm erwischt, reiße ich mich los. Irgendwo muss ja auch mal Schluss sein.
„Warum muss ich eigentlich rausfinden, wie es geht? Warum nicht auch du?“, werfe ich ihm vor.
„Du bist daran schuld, dass es passiert ist!“
„Das ich nicht lache. Das ist wohl der größte Schrott, den ich jemals gehört habe.“
„Du…! Na warte.“
„Worauf denn? Du hast gestern nichts gemacht, während ich schon quadratische Augen bekommen habe, so lange habe ich das Internet durchsucht und jetzt beschuldigst du mich einfach. Du bist echt das letzte!“
Und bevor er mich erwischte, riss ich die Tür der Besenkammer auf und stürmte hinaus, mitten in die arme Paulina, die eben im Begriff war, die Tür zu öffnen. Folglich bekam sie sie mitten ins Gesicht. Mich kümmerte es momentan herzlich wenig, denn ich flitzte ohne mich umzusehen zurück ins Klassenzimmer.
Den Rest des Tages gab ich mir größte Mühe, mich von Chris fernzuhalten. Das fiel mir nicht schwer, aber von Stunde zu Stunde wurde es immer schwieriger sich zu konzentrieren. Es war, als würden die Grenzen zwischen unseren Hirnen verschwinden. Manchmal sah und fühlte ich, was er sah und fühlte und ich war mir sicher, dass es ihm auch so ging, da er häufig mit verklärtem Blick in eine Ecke des Klassenzimmers starrte.
Was fühlte er von mir?
Ich gab mir Mühe, nichts zu fühlen, aber das war natürlich ein sinnloses Unterfangen. Von Zeit zu Zeit spürte ich die Verbindung stärker und weniger stark. Manchmal überhaupt nicht. Wenn ich mich vollkommen konzentrierte, konnte ich ihn dann aus meinem Kopf ausschließen?
Vor mir auf dem Tisch lag ein Gedicht, dass uns unser Deutschlehrer vor etwa einer Viertelstunde ausgeteilt hatte. Bisher hatte ich noch keinen Blick darauf verschwendet und lieber starr auf meinen Tisch geblickt. In mir drin gab es viel zu viel zu interpretieren, als dass ich mich mit dem Gedicht beschäftigen wollte. Nun gut einen Versuch war es wert. Ich begann das Gedicht zu lesen und gab mir große Mühe, mich auf den Text zu konzentrieren. Es war nicht leicht, da meine Gedanken immer ausweichen wollten. Den Inhalt der Zeilen auf dem Blatt vor mir, konnte ich nicht entschlüsseln, die Wörter, die ich im Geiste las, kamen mir vor wie eine fremde Sprache. Ich wollte schon entnervt aufhören, da spürte ich, wie sich in meinem Geist eine Tür schloss. Ja die Beschreibung klingt ziemlich seltsam, aber es beschreibt den Vorgang fast perfekt.
Plötzlich war Stille in meinem Kopf. Alles schwieg. Jetzt spürte ich erst, wie erschöpft mein Gehirn war von den doppelten Informationen, die ohne Punkt und Komma auf es eingeströmt waren.
Wie hatte ich es nur geschafft? Ich schloss die Augen. Vorsichtig erinnerte ich mich an das Gefühl der Türen und versuchte sie mir vorzustellen. Nichts. Alles blieb leicht rot und flimmerte. Mh. Ich versuchte es erneut. Wieder nichts. Langsam wurde ich ärgerlich. Erst bekomme ich keine Ruhe von seinem Geblubber, jetzt komme ich nicht mehr zurück. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber irgendwie fehlte etwas, auch wenn die Stille sehr erholsam war.
Ohne jede Vorwarnung tauchte ein Zimmer in meinem Kopf auf. Es war vollkommen leer. Nur weiße Wände. Unbewusst dachte ich zum dritten Mal an die Türen und sofort erschienen zwei eichene riesige Flügeltüren und ein Schildchen darauf. Exit. Haha sehr lustig. Ich stellte mir vor, ich würde mich auf die Türen zubewegen und es geschah. Sehr verwirrend. Waren hinter diesen Türen Chris Gedanken? Wie ließen sie sich öffnen? So genau ich sie mir auch besah, ich konnte keine Türklinken erkennen. Mist. Was wenn ich mir vorstellte, dass ich sie öffnete? Oder besser dass sie sich von selbst öffneten. Genau in dem Moment, als ich daran gedacht hatte, schwangen sie mit einem lauten Rauschen auf. Dahinter war nichts. Nur schwarz. Erschrocken sprang ich zurück. Der Boden schien direkt nach der Schwelle aufzuhören. Vorsichtig legte ich mich auf den Zimmerboden und robbte voran zur Tür. Dann streckte ich meine Hand aus über die Schwelle und dort erspürte ich etwas Weiches. Teppich? Entschlossen stand ich auf und setze einen Fuß vor den anderen, bis ich auf dem dunklen Untergrund stand. Es fühlte sich wirklich wie Teppich an. Plötzlich spürte ich leise Chris Gedanken. Sie kamen aus der Dunkelheit um mich herum, wie ein leises Flüstern. Vor mir war das dunkle Ungewisse und hinter mir die zwei großen Türen mit dem weißen Zimmer. Ich ließ meinen Blick hin und her schweifen, in der Hoffnung etwas zu erkennen. Dass dies nicht Chris Kopf war, schien offensichtlich, aber was war es dann? Ich wünschte mir eine Taschenlampe, damit ich mehr sehen könnte und im gleichen Augenblick tauchte rechts neben der Tür ein leuchtender Fleck auf. Erstaunt ging ich vorsichtig darauf zu und betrachtete ihn. Er sah aus, wie ein leuchtender Lichtschalter. Pff. Wie überaus zuvorkommend. Wenn er schon einmal da war, konnte ich auch versuchen das Licht anzuschalten, oder? Als ich den Schalter berührte, flammten plötzlich überall winzige Lichter auf und der erste Gedanke, der mir kam, war: Wie im Weltall. Überall funkelten die kleinen Lichter wie Sterne. Sie schienen unendlich weit entfernt. Jetzt erkannte ich auch die Form dieses Raumes. Es war ein schlauchartiger langer Gang, an dessen Ende ein starkes Licht verheißungsvoll leuchtete. Plötzlich wusste ich mit Sicherheit, dass Chris dort weit hinten bei dem Licht war. Es lockte mich. Langsam ging ich dem Licht entgegen, seine Gedanken wurden stärker. Ich wurde immer schneller, bis ich rannte. Es fühlte sich an wie fliegen und kostete keinerlei Energie. Das Licht schien aus einem Viereck zu leuchten, dass so aussah, wie die Öffnung zu meinem Kopf. Mittlerweile spürte ich Chris Gedanken und Gefühle so wie meine eigenen. Gespannt, wo das Licht herkam, beugte ich mich vor und wurde angesaugt.
Ich schlug meine Augen auf und war im Klassenzimmer. Meine Klassenkameraden zerbrachen sich immer noch ihre Köpfe über das Gedicht, das vor mir auf dem… Moment das war nicht mein Mäppchen. Das war auch nicht mein Deutsch Heft und jetzt bekam ich Panik, das waren auch nicht meine ARME! Ich öffnete meinen Mund und schrie auf. Das war auch nicht meine Stimme! Plötzlich hörte ich eine Stimme in meinem, nein seinem Kopf.
Verdammt, was machst du hier?


Das war eindeutig Chris.
Ich weiß es nicht. Erst war da nur Licht und jetzt bin ich in deinem Körper?
Verschwinde!
Ich weiß nicht wie.


Jetzt hatte ich Angst. Wie kam ich wieder zurück in meinen Körper? Ich drehte seinen Kopf und sah mich, wie ich in der Reihe hinter mir, nein ihm saß. Äußerlich schien mir nichts zu fehlen, ich atmete, aber ich bewegte mich nicht und meine Augen waren starr auf das Blatt gerichtet.
Mein Lehrer kam von hinten durch den Mittelgang und warf mir einen Blick zu, also meiner leeren Hülle.
„Anna.“ Er sprach mich an. Mein Körper reagierte nicht. Mit wachsender Panik sah ich zu, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen, als würde ich ihn absichtlich ignorieren.
„Anna, du sollst arbeiten.“
Ich wollte ihn ablenken. Irgendwie. Aber ich war auf meinem Stuhl wie angeklebt.
Jetzt war mein Lehrer hinter mir.
„Anna, ich rede mit dir.“ Er berührte mich an der Schulter.
Sofort wurde ich aus Chris Körper gerissen, raste den langen, dunklen Gang entlang, erreichte das weiße Zimmer. Eine weitere Tür erschien aus dem Nichts mit der Aufschrift „Reality“. Erneut, sehr lustig. Diese Tür schwang auf und gleißendes Licht empfing mich. Ehe ich mich versah, war ich wieder zurück in meinem Körper.
Sofort drehte ich mich um.
„Entschuldigung, ich war in Gedanken. Es tut mir leid.“, sagte ich zu meinem Lehrer.
„Ich habe sie gerade gefragt, ob sie in diesem Gedicht auch die Vergänglichkeit und den nahenden Tod sieht“, ertönt es hinter mir.
Mein Kopf fährt herum. Chris schaut mich erwartungsvoll an. Er grinst.
„Und was denkst du dazu“, will mein Lehrer wissen.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Da höre ich Chris Gedanken.
Sag: Ja es spiegelt gut im Vanitas-Motiv die Weltsicht der Barockzeit wieder.
Was?
Nicht fragen, sags einfach.


Also wiederholte ich, was Chris gedacht hatte.
Mein Deutsch-Lehrer bekam große Augen.
„Ja… das hast du sehr gut erkannt.“
Chris schnaubte.
Nicht wahr? Das hast du wirklich sehr gut gemacht Anna. Und du bist von ganz alleine draufgekommen.
Ach sei still.
Du bist aber gar nicht nett, dafür, dass ich dir aus der Patsche geholfen habe.
Danke. Aber ohne dich gäbe es diese Patsche nicht.


Genau in dem Moment, als Chris zu einer unfreundlichen Erwiderung ansetzen wollte, klingelte der Schulgong. Endlich. Schnell stopfte ich meine Sachen in meine Schultasche, rief meiner Freundin „Tschüss“ zu und verließ fluchtartig das Klassenzimmer.
Zuhause angekommen, flitzte ich in mein Zimmer und setzte mich auf den Boden. Während des ganzen Heimwegs hatte ich Chris Gedanken gehört. Er hatte mich zwar nicht angesprochen, aber dafür umso ausgiebiger mit seiner Freundin geknutscht. Und das alles fühlen zu müssen nervte und zwar gewaltig. Mittlerweile fühlte ich mich schon, als wäre ich in sie verliebt.
Ohne Umschweife schloss ich die Augen und stellte mir das leere Zimmer vor. Diesmal gelang es mir beim ersten Versuch. Ich dachte an die Türen und sie erschienen geöffnet in der Wand. Dann überlegte ich, dass sie sich schließen sollten und sie schlossen sich. Zum zweiten Mal an diesem Tag, war wieder Ruhe. Gott sei Dank.
Daraufhin dachte ich an die andere Türe mit dem gleißenden Licht dahinter und sofort erschien auch sie. Ich öffnete sie und war wieder zurück.
Eine Weile blieb ich auf dem Boden sitzen und ließ meine Gedanken schweifen. Kurze Zeit später hörte ich meine Mutter zum Mittagessen rufen.
Das Mittagessen verlief wieder ziemlich schweigsam. Meine Mutter warf mir besorgte Blicke zu und ich tat entweder so, als würde ich es nicht sehen, oder antwortete mit einem Lächeln. Sie schien nicht überzeugt.
„Sag, Anna, willst du mir irgendetwas erzählen?“, fragte sie mich schließlich.
Ich heuchelte Erstaunen. „Was soll ich dir erzählen?“
„Du bist in letzter Zeit so still. Ist irgendwas in der Schule? Beschäftigt dich etwas?“
Was sollte ich antworten? Die Wahrheit? Nein das schied definitiv aus, aber anlügen wollte ich sie auch nicht. Ihr etwas verschweigen, ja das konnte ich mit meinem Gewissen vereinbaren, denn schließlich hatte sie schon genug Sorgen. Nur anlügen würde ich sie niemals.


„Ich habe momentan einfach Stress in der Schule und fühle mich ziemlich schlapp.“
So ganz gelogen war das ja nicht. In der Schule war Chris und mit ihm hatte ich momentan naja Stress war es nicht, aber sagen wir eine komplizierte Verbindung. Und nachdem ich zwei Mal in zwei Tagen umgekippt war, konnte ich mich doch schlapp fühlen, oder?


Meine Mutter blickte mich zweifelnd an. „Wenn du mir irgendwas erzählen möchtest, kannst du jeder Zeit kommen, das weißt du.“
„Ja Mama, danke.“
Nur ich glaube, das muss ich erst mal selbst lösen.



Nach dem Mittagessen half ich meiner Mutter noch kurz in der Küche, zappelte aber innerlich, weil ich unbedingt weiter recherchieren wollte. Diese schien meine Unruhe zu bemerken und entließ mich mit einem Lächeln. Wenigstens machte sie sich keine Sorgen mehr.


Kopf-Diskussion



Schon den ganzen Nachmittag saß ich in meinem Zimmer vor dem PC und löcherte Google mit Fragen. Ich hatte mir jede Menge Selbsthilfeforen durchgelesen, wie man Geister dazu brachte, mit einem zu reden oder mir Blogs von Leuten durchgelesen, die schrieben, sie würden Stimmen hören. Stimmen von Verstorbenen. Das Ganze klang für mich ziemlich absurd und obendrein war mein zweites Stimmchen ja nicht tot. Brauchbare Informationen hatte ich bisher noch keine gefunden.
Ich schloss gerade frustriert das Internet, als ich tief in meinem Kopf eine vertraute Stimme hörte. Hallo. Wie geht’s.


Verdammt, wie war der hier reingekommen, ich dachte ich hätte die Türen geschlossen. Zur Probe schloss ich die Augen und ging in meinen Raum. Nein, die Türen waren zu.
Na was hast du den ganzen Tag gemacht?

erscholl es durch die Tür. Aha offensichtlich war er ausgesperrt, aber konnte trotzdem mit mir sprechen.
Ich hab Google befragt, ob es weiß, was mit uns los ist

, antwortete ich.
Und schon was gefunden?

, wollte er wissen.
Nein nichts Sinnvolles. Aber ich kann dir die Lebensgeschichte von einer Gudrun erzählen, die sich einbildet Geister zu hören. Interessiert?
Nicht wirklich

, lachte er. Ist dir schon aufgefallen, dass es keinen Unterschied macht, wie weit wir voneinander entfernt sind?
Stimmt, jetzt wo du es sagst.
Wie weit das wohl möglich ist? Glaubst du, dass du mich hörst, wenn ich am Ende der Welt bin?

, grübelte Chris.
Ich habe keine Ahnung, aber ich möchte es jetzt auch nicht ausprobieren… Sag mal merkst du was?

Ich wollte Chris unbedingt von meiner Entdeckung erzählen.
Was denn?, fragte er neugierig.
Du hörst meine Gedanken nicht

, antwortete ich stolz.
Ja das ist mit schon aufgefallen. Seit etwa einer halben Stunde nach Schulende.
Stimmt.
Was hast du gemacht?

, wollte er wissen.
Das wüsstest du jetzt gerne. Tja ich hab dich ausgeschlossen. Sollte er doch mal schön selbst darauf kommen.


Du hast mich ausgeschlossen? Woraus.

Chris klang verwirrt, aber total interessiert. Ich dachte eigentlich, ihn würde es nerven.
Aus meinem Kopf, dachte ich.
Und warum kann ich mit dir reden? Er war nicht überzeugt.
Dazu habe ich eine Theorie, grinste ich.
Lass hören, bat er mich.
Wenn ich dich ausschließe, kann ich nur mit dir reden, wenn ich an dich denke oder du kannst mit mir reden, wenn du an mich denkst. Sofort spürte ich seinen Missmut.
Von wegen. Ich hab überhaupt nicht an dich gedacht. Du willst es dir nicht eingestehen Chris, oder?
Lass mich ausreden, verlangte ich dann.
Okay.
Wenn ich die Türen aufmache oder im Sternengang bin…, setzte ich von neuem an.
Sternengang?, unterbrach er mich erneut.
Ja kann ich dir bei Gelegenheit zeigen. Also wenn ich im Sternengang bin höre ich deine Gedanken und spüre was du fühlst. Und wenn ich den Gang entlanggehe zum Licht, dann sehe und höre ich auch, was du siehst und hörst.
Ja als du in meinem Körper warst, grummelte er.
Genau, lächelte ich.
Eine Weile war es still. Ich dachte über unsere komische Verbindung nach, da fiel mir etwas ein:
Warum redest du jetzt eigentlich mit mir? Heute früh hast du mich ignoriert, dann in diese Besenkammer gezerrt und angeschrien.
Was soll das heißen?, entgegnete Chris sofort. Ich hab dir geholfen, dass du von unserem Lehrer keinen Ärger bekommst.
Wie gesagt, da hätte ich auch ziemlich gut darauf verzichten können, giftete ich zurück.
Glaubst du mir gefällt das alles? Dass ich andauernd hören muss, was du denkst? Und damit wären wir wieder beim alten Thema.
Dann sperre mich aus. Oder schaffst du das etwa nicht, höhnte ich. Jedes Mal, wenn er mir vorwarf, dass er meine Gedanken nicht hören wollte, war ich verletzt, ob ich wollte oder nicht. Schließlich war es ja nicht meine Schuld. Oder doch?
Natürlich schaffe ich das, schoss Chris entrüstet zurück. Ich brauch nur noch etwas Übung.
Klar. Nimm den Mund nicht zu voll liebster Chris. Gott sei Dank hörte er nur das, was ich ihn hören lassen wollte.
Hast du jetzt eigentlich etwas herausgefunden, was uns weiterhilft?, hackte er weiter auf mir herum.
Nein, das habe ich doch vorhin schon gesagt.
Eine super Hilfe bist du.
Ja? Und was hat Mr. Superschlau heute schon herausgefunden? Ich hab zumindest den Sternengang entdeckt. Das ließ ich doch nicht auf mir sitzen?! Wäre ja noch mal schöner. Ich hab wenigstens irgendwas versucht, im Gegensatz zu ihm.
Warum nennst du das Sternengang?, wollte er wissen.
Naja es sieht so aus, antworte ich ehrlich.
Und wie komme ich da hin?, fragte er nun wieder einigermaßen freundlich.
Du hast doch gemeint, du schaffst das. Nur noch ein bisschen Übung. Da will ich doch nichts verraten. Sich erst damit brüsten, was er alles konnte und jetzt doch um Hilfe fragen. Typisch Mann.
Ja das schaffe ich auch, schnappte er sofort.
Erneut herrschte Stille zwischen uns. Diesmal war es Chris, der sie durchbrach.
Seit wann ist das denn jetzt eigentlich so? Er musste „das“ nicht näher beschreiben, ich wusste gleich wovon er sprach.
Ich glaube, seit gestern, oder. Erinnerst du dich, ich bin hingefallen und in der Krankenstation fing es ja dann an…, überlegte ich.
Als wir uns in Gedanken unterhalten haben und es nicht merkten, lächelte er.
Ja das war seltsam, stimmte ich zu.
Und die Krankenschwester hat es nicht gehört, weil wir das Gespräch nur gedacht haben. Ich hörte seine Belustigung.
Da fiel mir etwas siedend heiß ein. Moment, als ich hingefallen bin, habe ich einen Stromschlag bekommen und davon war ich wie gelähmt.
Meinst du, als wir gestern früh ins Klassenzimmer reingegangen sind? Das ganze Gedränge? Chris war verwirrt.
Ja genau da.
Komisch, da habe ich auch einen Stromschlag bekommen. Nun schien er ziemlich misstrauisch.
Echt? Ich war überrascht, aber das erklärte es auch, warum er aus dem Weg gesprungen war und ebenfalls auf seinen Arm starrte.
Ja etwas hat meine Hand gestreift und plötzlich hat es gebrannt, wie bei einem Stromschlag, erklärte er.
Ich glaube das Etwas, das deine Hand gestreift hat, das war ich. Irgendjemand hat mich von hinten geschubst, da bin ich gestolpert und wollte mich festhalten. Und danach ging es ja los, dass wir die Gedanken des anderen hören konnten.
Meinst du, wir können es rückgängig machen, wenn wir einander erneut an den Händen fassen?
Ach das sollte das in der Besenkammer werden. Naja, rückgängig oder Schlimmer.
Naja schlimmer geht wohl nicht oder?, meinte Chris.
Warum willst du es rückgängig machen? Ich war erstaunt.
Du etwa nicht? Er ist überrascht.
Naja weißt du, irgendwie ist es ja schon lustig. Und…, versuche ich zu erklären.
Permanent die Gedanken einer zweiten Person zu hören?, unterbricht er mich.
Es lässt sich ja auch abschalten. Ich glaube nur, dass es bestimmt irgendwelche Vorteile hat. Wir müssen nur noch herausfinden, welche., versuche ich ihn zu beschwichtigen.
Wir müssen gar nichts. Morgen gibst du mir deine Hand und dann wird der Spuk hoffentlich ein Ende haben., bestimmt Chris.
Aber… glaubst du denn nicht, dass alles, was geschieht einem bestimmten Zweck dient? Oder einen bestimmten Nutzen hat und dass es nicht einfach nur Zufall ist?, wage ich einzuwenden.
Na und?!
Aber… , doch Chris unterbricht mich.
NEIN! Je früher du aus meinen Gedanken verschwindest desto besser., wirft er mir ziemlich aggressiv an den Kopf.
Warum?, will ich eingeschüchtert wissen.
Ich will dich da einfach nicht drin haben, verstehst du das denn nicht? Ich kann wirklich darauf verzichten so jemanden wie dich in meinem Kopf zu haben. So jemanden wie mich? Vielen Dank auch.
Warum bist du so gemein? Mir geht es doch genauso, aber deswegen beleidige ich dich nicht. Ob er es beabsichtigt hatte, oder nicht, seine Worte taten mir ziemlich weh.
Versuch es doch zu verstehen., meinte Chris beschwichtigend.
Ach lass mich einfach in Ruhe., schnappte ich. Klack. Durch meine Wut waren die Türen aufgesprungen. Ich spürte, dass es ihm leidtat. Jetzt musste er auch fühlen, wie tief er mich getroffen hatte. Sofort riss ich die Türen wieder zu.
Anna. Diesmal war seine Gedankenstimme leise und entschuldigend.
Ist ja gut ich machs. Aber bitte verschwinde einfach und lass mich zu Frieden. Du willst doch eh nichts mit mir zu tun haben! Mist, das wollte ich eigentlich nicht sagen. Es war mir einfach rausgeruscht.
Anna, ich habs nicht so gemeint. Seine Stimme war Balsam für meine Seele, dennoch konnte ich die Entschuldigung nicht einfach so hinnehmen. Ich war noch nicht darüber hinweg, dass er „so jemanden wie mich“ nicht in seinem Kopf haben wollte. Das zeigte mir, was er wirklich über mich dachte. Das was alle aus meiner Klasse über mich dachten. „So jemand wie die…“ Warum war ich für alle nur „so jemand wie die“? Jedes Mal, wenn ich so etwas an den Kopf geworfen bekam, stach es ein neues Loch in meinen Selbstbewusstseinsballon. Oder in das, was davon übrig geblieben war. Ein Fetzen. Warum konnte ich nicht auch so beliebt sein, wie Chris? Was machte ich falsch? Kaum jemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Und Chris sprach genau das aus, was die meisten dachten. Und sofort tat es ihm natürlich leid. Wer das glaubt, wird selig.
Du Lügner. Ich weiß genau, dass du es so gemeint hast, ich habe es gefühlt. Du kannst mich nicht belügen. Nicht in meinem Kopf.
Ich…, setzte Chris erneut an.
Verzieh dich!
Es tut mir leid, sagte oder besser gesagt dachte er leise und ich spürte, wie seine Präsenz langsam verschwand.
Unbewusst steckte ich meinen Kopf durch die großen Türen und spürte, dass es ihm wirklich Leid tat. Schnell zog ich mich zurück. Er sollte nicht glauben, dass ich ihm schon wieder verziehen hatte.
Ich sprang auf, lief ins Bad und richtete mich fürs Bett.
Durch die ganze Kopf-Diskussion und die Google Suche hatte ich vollkommen die Zeit vergessen. Schnell duschen, Zähne putzen und mit der Bürste ein paar Mal durch die Haare gefahren. Schon kroch ich unter meine Bettdecke. Lange lag ich noch wach und dachte über den heutigen Tag nach. doch irgendwann fielen mir schließlich die Augen zu.

Träume zu Zweit



In dieser Nacht schlief ich schlecht. Zum einen, wegen der Ereignisse des Tages zum anderen, weil sich im Schlaf die Türen zu meinem Geist öffneten und ich somit auch Chris‘ Traum träumte.
Zu Beginn ist alles wunderbar. Ich liege am Strand auf einem Liegestuhl und sonne mich, nach einer Weile schlafe ich ein. Unterdessen ziehen Wolken heran, ein fernes Gewitter grollt und plötzlich bebt die Erde. Leider schlummere ich weiter, weshalb ich auch nicht merke, dass sich das Meer plötzlich rasend schnell zurückzieht und eine riesige Flutwelle auf den Strand zurollt. Ich wache auf, als die Welle noch etwa 50 Meter entfernt ist, sehe die riesigen Wassermassen auf mich zurollen, springe auf und renne los. Weg vom Strand. Hinter mir braust die Welle heran, viel schneller als ich jemals hätte laufen können. Bis ich es realisiere, hat sie mich erreicht und bricht über mich herein. Es ist ein Gefühl, als wäre ich gegen eine Wand gefahren, die Luft wird aus meinen Lungen gepresst, aber ich kann nicht einatmen, darf nicht. Ich werde von der Welle mitgerissen und wirbele in ihr herum. Verzweifelt mache ich Schwimmbewegungen, aber die Kraft der Welle ist zu übermächtig. Schließlich gebe ich auf und lasse mich treiben. Hin und wieder schlägt etwas gegen meinen Körper. Vermutlich Liegestühle, Sonnenschirme oder andere Gegenstände, die das Wasser mitgerissen hat. Langsam wird die Luft knapp und vor meinen Augen beginnt es zu flimmern. Ich drohe bewusstlos zu werden. Sollte das passieren, bin ich verloren.
Plötzlich greifen zwei starke Arme nach mir und halten mich fest. Die Welle rauscht mit voller Kraft über mich hinweg, ich drohe erneut weggerissen zu werden. Und dann ist sie über mich hinweg und ich kann wieder atmen. Keuchend schnappe ich nach Luft. Meine Beine geben unter mir nach. Doch die Arme halten mich auch weiterhin fest.
Schließlich habe ich mich wieder etwas beruhigt, obgleich ich immer noch heftig zittere. Nach und nach beginne ich meine Umgebung wahrzunehmen. Ich spüre, dass ich an jemandes Brust gedrückt auf feuchtem Sand stehe. Ganz vorsichtig streicht mir dieser Jemand über den Kopf und ich höre wie er etwas flüstert: „Anna.“
Erstaunt hebe ich den Kopf und blicke in Chris gerötetes Gesicht. Als mein Blick dem Seinen begegnet, sehe ich seine Augen aufleuchten und er zieht mich fest in eine Umarmung.
„Anna. Ich dachte ich hätte dich verloren.“
Zuerst leiste ich noch Widerstand, doch dann gebe ich mich seiner Umarmung hin. Wie selbstverständlich fahren meine Hände über seine bloßen Schultern und mein Kopf schmiegt sich an seinen Hals. Es ist wie das Natürlichste auf der Welt, dass ich ihn hier und jetzt umarme. Ich fühle mich vollkommen sicher und beschützt. Wie lange wir einfach nur dastehen und uns umarmen, kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann hebe ich mein Gesicht und schaue ihn an. Er lächelt.
„Chris.“
Das Lächeln vertieft sich und er küsst mich auf den Kopf.
Plötzlich verändert sich die Szene. Es wird Nacht und auf einmal ist Chris verschwunden. Ich finde mich in einer einsamen spärlich beleuchteten Straße wieder. Schnell blickte ich an mir hinunter. Gott sei Dank, bin ich richtig angezogen. Nicht nur ein Bikini, wie vorhin. Aber wo bin ich? Wie komme ich wieder heim? Und die wichtigste Frage: Wo ist Chris? In diesem Augenblick höre ich in der Nähe Stimmen. Sie klingen wütend und aufgebracht. Ist Chris dort?
Auf leisen Sohlen schleiche ich in die Richtung, aus der die Stimmen kommen und mache dabei einen großen Bogen um die erleuchteten Straßenlaternen. Die Stimmen scheinen aus einer Seitenstraße zu kommen. Ganz vorsichtig luge ich um die Hausecke. Mir bietet sich ein schreckliches Schauspiel. Fünf Gestalten stehen im Halbkreis um eine andere, die an die gegenüberliegende Hauswand gedrängt ist. Die fünf Gestalten tragen dunkle Kleidung und ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Als ich die sechste Person erkenne, keuchte ich auf. Es ist Chris. Eine der Gestalten drehe sich um.
„Da war was“, zischt jemand.
Ich verdecke mir mit der Hand den Mund, um meine Atemgeräusche zu verbergen und ziehe den Kopf zurück. Die Gestalten beginnen zu diskutieren.
„Weiß nicht. Ich hab nichts gehört.“
„Da war ganz sicher etwas. Ich hab ein Geräusch gehört.“
„Sicher nur eine Ratte.“
Ich bete inständig, dass keiner kommt um nachzusehen, ob das Geräusch wirklich eine Ratte verursacht hat.
„So nun zu dir.“
Diesmal ist Chris gemeint.
„Schau mal Boss, er was der für eine Jacke trägt. Die war bestimmt nicht billig.“
„Ausziehen“, befiehlt sogleich der „Boss“.
„Nein.“ Chris Stimme klingt fest und überzeugt. Ich hätte mich es nicht getraut, so viel steht fest.
„Willst du Ärger machen Kleiner?“
„Wir wollen doch nicht, dass die schöne Jacke Blutflecken bekommt, also gib sie her. Wir bewahren sie für dich auf.“
„Ich wette der kleine Scheißer hat noch mehr von solchen Dingern. Die kauft ihm sicher sein reicher Papi.“
„Na wo ist dein Papi jetzt?“
„Nicht hier um seinen Sohn zu beschützen, das ist echt traurig.“
„Lasst mich gehen.“ Chris lässt sich von den Gestalten nicht einschüchtern. Ziemlich mutig. Oder ziemlich dumm.
„Oh nein, wir fangen doch gerade erst an.“
„Lasst mich gehen, sage ich.“, versucht Chris es erneut.
„Willst du frech werden?“
Daraufhin wird es laut und es entsteht ein Handgemenge. Fünf gegen eins. Wie sollte Chris das nur schaffen. Hoffentlich bringen sie ihn nicht um. Was kann ich tun? Wie kann ich ihm nur helfen? Ich krame in meinen Jackentaschen nach etwas brauchbarem und entdecke mein Handy. Schnell gehe ich einige Schritte von der Straße weg und rufe die Polizei. Die Zentrale verspricht sofort einen Streifenwagen zu schicken. Leise schleiche ich zurück zur Seitenstraße. Hoffentlich hatte mich niemand telefonieren hören. Vorsichtig linse ich erneut um die Ecke. Mir bietet sich ein grauenvolles Bild. Chris liegt am Boden und krümmt sich, während die anderen auf ihn einschlagen und treten. Ich kann es nur schwer erkennen, aber ich war mir sicher, dass er stark blutet. Ein gequälter Laut kriecht über seine Lippen.
„Jetzt bist du nicht mehr so vorlaut du Hosenmatz, was? Hat Papas Liebling nicht mehr so eine große Klappe.“
Endlich höre ich das ersehnte Geräusch eines heranfahrenden Martinshorns. Ich springe auf und laufe auf die Straße, damit sie mich sehen und halten. Ein gleißendes Licht taucht auf und mit quietschenden Bremsen kommt der Wagen vor mir zum Stehen. Ein Polizist springt heraus und fährt mich an, was mir denn einfalle mich mitten auf die Straße zu stellen.
„Mein Freund bitte. Sie bringen ihn noch um“, wimmere ich.
„Wo? Führ uns hin.“
Also zeigte ich den vier Polizisten, die Seitenstraße. Die fünf Schläger hatten die Polizei sehr spät bemerkt und beginnen zu fliehen. Die Polizisten rennen hinterdrein.
Ich habe nur Augen für Chris. Schnell knie ich bei ihm.
„Chris. Wie geht es dir? Was haben sie mit dir gemacht?“
„Anna?“ Es klingt gequält.
„Ja. Ich bin es.“
Seine Hand tastet nach mir. Vorsichtig nehme ich seine Hand. Er stöhnt auf.
„Ich glaube da ist etwas gebrochen.“
„Was tut dir am Meisten weh?“
„Mein Kopf und mein linkes Bein.“
„Lass mich nachsehen, wo du blutest.“ Vorsichtig beginne ich seinen Kopf abzutasten. Seine Lippen sind aufgeplatzt und er blutet aus einer Wunde an der Stirn.
Das Geschehen verschwimmt erneut.
„Nein!“, schreie ich. „Chris!“

Plötzlich stehe ich auf einem Weg, gesäumt von blühenden Wiesen. Es ist Frühling. Die Vöglein zwitschern und die Luft ist warm. Dennoch lässt mich meine Panik nicht los. Was war mit Chris geschehen? War er ernsthaft verletzt? Starb er eben in diesem Augenblick, weil ich ihn im Stich gelassen hatte?
Plötzlich höre ich eine vertraute Stimme.
„Anna“, ruft Chris. Ich hebe den Blick. Er steht etwa 100 Meter entfernt von mir mit ausgebreiteten Armen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl schwillt in meiner Brust an, ich renne zu ihm und werfe mich ihm in die Arme. Er schwenkt mich lachend umher und zieht mich schließlich in einer Umarmung an sich.
„Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“, murmele ich in seinen Pullover.
„Und ich erst. Als ich eben blutend auf dem Boden lag, war meine größte Sorge nicht zu wissen, wo du bist und dass es dir gut geht. Du glaubst nicht, wie erleichtert ich war, als du plötzlich an meiner Seite warst und meine Hand genommen hast.“
Ich schmiege mich eng an ihn.
„Warum denkst du haben wir das alles geträumt?“, murmele ich in seinen Pullover.
„Vielleicht hat uns unser Unterbewusstsein zeigen wollen, wie sehr wir an einander hängen, obwohl wir uns es nicht eingestehen wollten“, antwortet er leise.
„Meinst du echt?“ Ich bin überrascht.
„Ja ich denke schon. Die Angst, die ich empfunden habe, als ich dich in der Welle auf mich zurasen sah, die Angst dich nicht zu erreichen und aus der Welle zu ziehen. Das war einfach grauenvoll.“
„Glaubst du, dass es uns zeigen wollte, dass wir einander nicht verlieren können, weil der Schmerz sonst unerträglich ist?“
„Möglicherweise. Anna, alles, was ich gestern Abend gesagt habe und was dich verletzt hat, tut mir unendlich leid. Ich war einfach nur verwirrt und aufgewühlt.“
„Entschuldigung angenommen.“
Chris drückt mich an sich und haucht mir einen Kuss auf den Kopf.
„Glaubst du der Traum ist real?“, will ich wissen.
„Was meinst du mit real?“
„Denkst du, du träumst jetzt genau dasselbe wie ich oder bildet sich mein Kopf es ein, du wärst da und würdest mit mir reden?“
„Interessante Frage. Aber eine Antwort weiß ich leider nicht. Wobei es sicher möglich ist, dass wir beide das gleiche träumen. So langsam glaube ich nichts ist mehr unmöglich.“ Er grinst.
„Wie wäre es, wenn wir uns ein Codewort ausdenken und einander danach dann fragen?“ Er ist total begeistert von der Idee.
„Du könntest mich auch einfach fragen, was ich geträumt habe oder?“, stelle ich mit einem leicht ironischen Lächeln fest.
Chris lacht. „Stimmt.“
Jetzt grinse ich auch.
Auf einmal beginnt alles zu verschwimmen. Chris, der Weg, Chris, die Wiese und Chris.
„Was passiert jetzt?“ Ich blicke ihn ängstlich an.
„Ich glaube du wachst auf.“
„Wie kommst du darauf?“
„Für mich bist nur du verschwommen.“
„Hoffentlich kein weiterer Albtraum.“
„Oh ja.“
„Also bis gleich.“
„Tschüss.“
Alles wurde zu einem undeutlichen Strudel aus Farben und Emotionen und schließlich schlug ich die Augen auf.
Mein Wecker klingelte sich die Seele aus dem Leib.


Gruppenarbeit?!



Verärgert tastete ich auf meinem Nachttisch nach ihm, die Augen hatte ich noch geschlossen, wollte den Traum festhalten, so lange es noch ging. Ah da war er. Genervt packte ich das klingelnde Ding und warf es gegen die Wand. Keine Sorge, mein Wecker ist sehr stabil. Er landete etwa jede Woche einmal an der Wand, so dass die Wand lauter kleine Löcher hatte, wo er aufgetroffen war. Aber der Wecker hatte immer überlebt.
Glücklich über die Stille, die nun folgte, wollte ich mich auf die andere Seite drehen und weiterschlafen, doch in diesem Moment kam meine Mutter ins Zimmer und weckte mich. Ich müsse aufstehen, weil ich sonst zu spät in die Schule käme.
Mir doch egal, die Schule kann mir heute gestohlen bleiben.
Im gleichen Augenblick hörte ich ein Lachen in meinem Kopf und war schlagartig wach. Verdammt, waren die Flügeltüren zu meinem Gehirn in der Nacht aufgegangen? Schnell machte ich mich daran, sie zu schließen. Frau will ja ihre Gedanken für sich behalten können.
Du bist ja immer noch da, dachte ich gereizt. (Kann man eigentlich gereizt denken?)
Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, hörte ich Chris in meinem Kopf trällern.
Wer hat dir denn einen Hirnwäsche verpasst?, muffelte ihn an.
Ach es ist nur so schönes Wetter draußen.
Ich sah aus dem Fenster. Es regnete in Strömen.
Klar „schönes“ Wetter.
Warum so schlecht gelaunt?
Tja gute Frage. Mir hatte der Traum so sehr gefallen, dass ich wünschte er wäre Realität geworden. Also zumindest der letzte Teil, aber leider sah es in Wahrheit ganz anders aus. Chris liebte Paulina und ich war der nervige Freak. Das sagte ich ihm natürlich nicht, aber leider verhalf es nicht gerade dazu, meine Stimmung zu heben.
Ich habe einfach nur schlecht geschlafen, das ist alles.
Ich habe einen tollen Traum gehabt.
Aha. Der Traum-Chris wollte mich doch fragen, was ich geträumt hatte. Sehr clevere Einleitung, muss man ihm lassen. Sollte ich ihn jetzt fragen, was er geträumt hat oder wie? Nicht mit mir Freundchen. Ich grinste in mich hinein.
Willst du denn nicht wissen, wovon ich geträumt habe, hakte er nach.
Mh lass mal überlegen. Nein.
Wovon hast du denn geträumt?, wollte er wissen.
Du bist von einer Gang aufgemischt worden, aber leider hast du überlebt. Boah das war fies. Am anderen Ende der Leitung war es auf einmal still.
Du bist immer noch sauer wegen gestern oder?, fragte Chris mich kleinlaut.
Ich gab ihm keine Antwort. Nein war ich eigentlich nicht. Hatte ich ihm auch im Traum gesagt, für den Fall, dass wir beide doch den gleichen geträumt hatten. So langsam hielt ich alles für möglich. Nein, ich war nur sauer auf mich.

In der Schule, wie es der Zufall will, liefen wir uns beinahe in die Arme. Peinlich berührt blieben wir gleichzeitig stehen und schauten uns an. Wenn dies ein Film gewesen wäre, dann wäre das eine perfekte Stelle für Slowmotion. Wie in Zeitlupe senkte ich den Blick, nur um ihn gleich darauf wieder zu heben und Chris anzusehen. Er stand einfach nur da und sah super süß aus. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Die knisternde Spannung, die sich zwischen uns beiden aufgebaut hatte, wurde schier unerträglich. Doch Chris unterbrach die Stille.
„Hallo.“
Ich schluckte.
„Hallo“, antwortete ich.
Plötzlich hörete ich hinter mir ein „Chriiiiiiiiiiiiis!“. Paulina lief an mir vorbei und warf sich Chris um den Hals.
Ein scharfer Schmerz stach in meine Brust, meine Augen wurden verdächtig feucht. So viel zum Thema Realität. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rauschte davon. Blinder Hass und rasende Eifersucht machten sich in mir breit. Warum sie? Vor Wut merkte ich nicht, dass die Tür zu meinem Kopf aufsprang.
Anna, hörte ich ihn in meinen Gedanken rufen.
Ich drehte mich nicht um, wollte nur noch weg. Verzweifelt versuchte ich, ihn aus meinem Kopf auszuschließen, aber es klappte nicht.
Warte. Hey.
Plötzlich stand er hinter mir und hielt mich fest. Ich drehte mich um und wischete mir verzweifelt die Tränen aus den Augen.
Anna, darf ich?
Ich senkte den Blick zu Boden und nickte.
Hallo.
Was willst du, fragte ich ihn.
Warum bist du weggelaufen?
Das fragst du noch?
Ich wollte dir wirklich nicht wehtun gestern Abend.
Es ist nicht wegen gestern Abend.
Ich weiß.
Du wolltest immer versuchen, die Verbindung zu beenden. Jetzt hast du die Möglichkeit dazu. Ich hab dir gestern gesagt, ich versuchs. Ich hielt ihm meine Hand hin.
Anna. Ich glaube nicht, dass das funktioniert.
Das kannst du nicht wissen, wenn du es nicht versuchst.
Ja, aber ich will es jetzt auch nicht mehr rückgängig machen.
Verwundert sah ich ihn an.
Warum denn nicht?, fragte ich erstaunt.
Du hast doch gestern gesagt, du glaubst, dass das hier kein Zufall ist.
Schon. Und?
Naja, ich denke du hast vielleicht Recht.
Und du bist dir ganz sicher, dass du keine Hirnwäsche hinter dir hast?
Ziemlich.
Was hat dann deine Meinung geändert.
Willst du es wirklich wissen?
Ja.
Der Traum heute Nacht. Ich weiß nicht, ob du denselben hattest, aber du warst in meinem Traum. Weißt du, wenn ich diese Verbindung nicht gehabt hätte, hätte ich nicht gewusst, wo du bist, dann hätte ich mich nicht an die Palme binden können und dich aus der Welle retten können. Und… er machte eine Pause ich schätze, wenn du die Verbindung nicht gehabt hättest, dann hättest du mich nicht gefunden und die Kerle hätten mich vielleicht…, wer weiß.
Ich schwieg.
Wir hatten den gleichen Traum, sandte ich ihm.
Jetzt war Chris doch überrascht.
Ehrlich?
Ja, antwortete ich.
Er grinste.
Ich sah ihn nicht an und versuchte meine Gedanken zu kontrollieren, nicht dass er…
Plötzlich fasste ich neuen Mut. Reiß dich zusammen, dachte ich und spürte, wie sein gedachtes Lachen als Antwort kam.
Weißt du, was man niemals tun sollte?, fragte ich ihn,
Nein, sagte er, obwohl ich wusste, dass er die Antwort schon aus meinen Gedanken kannte.
Man sollte seine Freundin nie stehen lassen, wenn ein anderes Mädchen vorbei läuft. Ich sah, wie Paulina auf uns zukam.
Normalerweise hämmern auch nicht die Gefühle des Mädchens auf einen ein oder?
Peinlich. Ich musste ebenfalls grinsen.
Jetzt hatte uns seine Freundin erreicht.
Obwohl ich ihre Gefühle nicht kannte, sah ich, dass sie vor Wut kochte.
Ich verzieh mich mal lieber, sendete ich ihm.
Na danke, hörte ich noch erbost. Und was erzähle ich ihr?
Am besten, dass du eine übersinnliche Verbindung zu meinem Hirn hast.
Ja klar.
Wie wäre es mit… ich wollte was wegen Bio wissen?, schlug ich ihm vor.
Ich versuchs, antwortete Chris zweifelnd.
Lass mich wissen, was sie gesagt hat.
Mal sehen.
Ich drehte mich um und lief zu unserem Klassenzimmer. Vorsorglich schloss ich die Türen, ich wollte Chris und Paulina ja nicht belauschen. Eigentlich hatte ich auch Angst davor, dass sie sich schon wieder küssen würden.
Kurz vor dem Lehrer, kamen dann schließlich auch Chris und Paulina nach. Sie schien aufgebracht und wütend zu sein und warf mir einen bösen Blick zu. Was hatte ich denn jetzt schon wieder gemacht? Chris hingegen war genauso gut gelaunt, wie heute Morgen und zwinkerte mir zu. Ehrlich gesagt verwirrte und beunruhigte mich Chris Zwinkern mehr, als Paulinas Blick.

Erste Stunde Englisch. Vokabeltest. War ja klar.
Durch das ganze Kopf-Dingens hatte ich das total vergessen. Mist. Meine Eltern würden sich über eine weitere rote 6 sicher riesig freuen.
Chris saß eine Reihe vor mir und schrieb wie ein Wilder. Na toll. Was wenn…?
Er musste doch die antworten denken. Was wenn ich einfach ein bisschen mithören würde. Nur ein klitzekleines bisschen? Hier ein Wörtchen, da ein Wörtchen? Keine sechs gleich kein Hausarrest und gleich Taschengeld. Die Versuchung war einfach zu groß.
Mit einem letzten Blick auf meinen Englisch-Lehrer schloss ich die Augen, stellte mir den Raum vor und schob vorsichtig die Tür einen kleinen Spalt auf. Sofort hörte ich Chris Gedanken. Er hatte noch nicht herausgefunden, dass er seine Gedanken vor mir verstecken konnte. Aber egal, das rettete mir jetzt meine Note.
(to) enclose, curriculum vitae, (to) hesitate, work experience, application, (to) gain, laboratory, (to) qualify, delighted, opportunity (of doing sth.)
Wer braucht den so einen Unsinn?
Zu spät realisierte ich, dass ich das gedacht hatte und naja die Tür immer noch offen war.
Was tust du da?!, ertönte es auch sofort.
Schnell zog ich mich zurück und schlug die Türen fest zu.
Hast du etwa gelauscht?, fauchte Chris durch die Türen.
Nein, wie kommst du darauf?, gab ich unschuldig zurück.
Du hast gelauscht, gib es zu, forderte er.
Nein.
Das ist unverschämt, beschwerte er sich auch sogleich.
Ach reg dich nicht auf, antwortete ich genervt. Ich hatte noch viel zu wenig Antworten. Mist.
Reg dich nicht auf?!, jetzt war Chris sauer, drehte sich um und sah mich böse an.
„Christian wenn du abschreibst, muss ich dir den Test wegnehmen und du bekommst eine 6.“ Unser Lehrer.
Sofort drehte er sich wieder nach vorne, aber ich wusste genau, dass er stinksauer war. Und das sogar, obwohl die Türen zu waren.
Ich hab doch nur ein bisschen gelauscht, versuchte ich mich zu entschuldigen.
Ein bisschen? Kein Zweifel, er war sauer.
Die restlichen freien Lücken im Test riet ich einfach. Wenn die von Chris wenigstens richtig waren, dann hatte ich vielleicht eine 4 oder 5. Hoffentlich wenigstens keine 6, dann waren meine Eltern zufrieden.
Den Rest des Unterrichts überlegte ich, wie ich mich bei Chris entschuldigen konnte. Ich wollte wirklich nicht, dass er auf mich sauer war.

Nach der Englisch-Stunde hatten wir Bio, mein Lieblingsfach. Das einzige Fach, in dem ich irgendwie voll den Durchblick hatte, obwohl ich nie etwas lernen musste. Chris war normalerweise in Bio eine totale Niete, aber heute, schnellte sein Arm immer und immer wieder hoch und er gab die richtige Antwort. Unser Biolehrer machte beinahe Luftsprünge vor Freude und mich ignorierte er eiskalt.
Es dauerte etwa 15 Minuten bis ich hinter Chris plötzlichen Wissensschub kam.
Auf eine ziemlich schwierige Frage hin, überlegte ich nach einer Antwort und ging gedanklich mehrere Möglichkeiten durch.
Sofort meldete sich Chris und sprach genau das aus, was ich gedacht hatte.
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich irgendwie Zutritt in meinen Kopf verschafft und wollte sich nun auf diese Weise rächen.
Tja, hörte ich eine kleine gemeine Stimme in meinem Kopf, nicht nur du kannst damit umgehen.
Verdammt, mach, dass du aus meinem Kopf rauskommst!
Wieso denn ich höre doch nur ein bisschen mit, grinste er unschuldig.
Verschwinde aus meinen Gedanken!, fauchte ich zurück.
Merkst du jetzt, warum ich vorhin so wütend war?, meinte er plötzlich ruhig.
Ja. Es tut mir leid.
Wenn man von jemand anders abschreibt, ist das nicht so schlimm, als wenn man das sagt oder schreibt, was der andere denkt.
Ja. Ich…
Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habs ja auch gemacht.
Aber du wolltest mir doch nur zeigen, wie mies das war.
Schon, aber ich wollte auch mal eine gute mündliche Note in Bio.
Du Heuchler! Aber dennoch musste ich grinsen.
Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn du mich einfach nur gefragt hättest.
Echt nicht? Ich war überrascht.
Nein. Hilfst du mir dann auch in Bio?, antwortete Chris frech.
Von mir aus. Meine Eltern würden Luftsprünge machen, wenn ich im Zeugnis eine 4 oder vielleicht sogar eine 3 schaffen würde.
Und wie aufs Stichwort, stellte unser Lehrer noch eine schwierige Frage, niemand meldete sich, so wandte er sich an Chris: „Du hast heut so prima mitgearbeitet, auf diese Frage weißt du bestimmt auch eine Antwort?“
Hilfe, ertönt es kläglich in meinem Kopf.
Ich hustete laut und vernehmlich. Der Blick unseres Lehrers wanderte von Chris zu mir und wieder zurück.
„Ist was?“
Unschuldig blickte ich zurück und grinste.
Möchtest du gerne die Antwort haben Chris?
Ja bitte.
Na wenn er so lieb fragte, konnte ich doch nicht nein sagen. Ich gab ihm also die Antwort. Die restliche Stunde verlief so, dass wir beide uns kurz über die Lösung austauschten und wir uns beide meldeten. Ein bisschen mehr trug ich schon bei, aber es war mir egal. Ich hatte Spaß und Chris eine gute Note.
So ging der Unterricht viel zu schnell vorbei und wir verabschiedeten uns in Gedanken voneinander, da wir das nächste Fach nicht zusammen hatten. Später saß ich im Klassenzimmer im Musikunterricht. Unsere Klasse war in Musik geteilt. Chris saß im Raum nebenan. Irgendwo in meinem Hinterkopf spürte ich seine Präsenz. Wenn ich die Augen schloss, sah ich einen hellen Lichtpunkt in der Richtung, in der er sich befand.
Meine Gedanken wanderten zu unserem Gespräch vorhin.
Da schwoll die Präsenz an.
Ich weiß, dass du an mich denkst, ertönte es in meinem Kopf.
Du bist auch überhaupt nicht überzeugt von dir oder? Natürlich denkt jedes Mädchen andauernd an dich nicht wahr?, antwortete ich ihm gespielt genervt.
Sicher doch. Chris lachte.
Was macht ihr gerade?, wollte ich wissen.
Quintenzirkel. Wiederholung. Unsere Lehrerin regt sich gerade auf, da keiner von uns eine Ahnung hat, antwortete er seufzend.
Moment lass mal hören, was sie sagt. Ich streckte mich in die Richtung des hellen Lichtpunktes aus, stellte mir meinen Raum vor, öffnete die Tür „Exit“ und ging den Sternengang entlang, bis zu Chris Licht. Erstaunlich, wie leicht es mir mittlerweile fiel. Da hörte ich seine Lehrerin, als würde ich neben ihr stehen.
Jetzt bin ich in deinem Schädel?
Ja.
Spannend.
„Wie viel Vorzeichen hat Es-Dur?“, fragte seine Lehrerin.
4b, dachte ich.
Er meldete sich und antwortete: „4b.“
„Richtig.“ Die Lehrerin war überrascht.
Ich spürte, wie er sich freute.
Denkst du, was ich gerade denke?, überlegte er.
Äh so genau kann ich da nicht mehr unterscheiden, aber ich weiß was du denkst, lachte ich. Moment ich geh glaube ich wieder zurück, das ist die letzte Stunde vor der Arbeit. Ich will da nichts verpassen. Bis nachher.
Ich verschwand wieder in meinem Kopf und schloss die Türen.
Nach der Stunde, die mir vorgekommen war wie ein ganzes Jahr, verließ ich als Erste das Klassenzimmer. Vom Unterricht hatte ich trotzdem nicht mehr wirklich viel mitbekommen. Wo könnte er jetzt sein? Ach ja richtig. Leise glucksend schloss ich die Augen. Kein heller Fleck. Mh. Ich drehte mich. Plötzlich stand ein riesiger gelber Monster-Fleck vor meinem Auge. Erschrocken riss ich beide Augen auf. Da stand er vor mir und grinste breit.
„Hallo.“
„Uah“, rief ich überrascht.
Hab ich dich erschreckt?
Nein, wie kommst du denn darauf? Hatte ich schon erwähnt, dass ich fließend ironisch spreche.
Lügnerin…, lachte er.
Ja… hab gerade versucht dich zu finden.
Wie?, fragte er mich in Gedanken.
Augen zu und nach deinem gelben Fleck suchen, erklärte ich ihm.
Echt?
Versuchs mal, schlug ich ihm vor.
Okay.
Er schloss die Augen.
Stimmt, ist ja interessant. Du hast du heute Mittag schon was vor?
Das war aber ein schneller Themawechsel. Sollte das eine Einladung zu einem Date sein? Wenn er keine Freundin hätte, dann sofort, aber so? Ich sollte mich wohl besser aus der Schusslinie halten.
Ja…
Oh. Klang das etwa enttäuscht?
Ich werde heute Mittag mal wieder Google befragen, ob es weiß, was mit uns los ist…
Sollen wir uns…, setzte er erneut an, doch ich unterbrach ihn sofort. Wenn er mich direkt fragte, ob ich mich mit ihm treffen wolle, könnte ich schlecht nein sagen.
…und dann stellt sich noch immer die Frage, liegt der Hirndefekt bei dir oder bei mir? Möglicherweise haben wir auch beide einen Dachschaden. Mh. Bist du als Kind mal auf den Kopf gefallen?, versuche ich ihn abzulenken.
WAS? Und es hat geklappt.
Nichts, schon okay. Ich grinse in mich hinein.
Findest du das alles etwa lustig?, fragte er säuerlich.
Naja irgendwie ist es schon interessant, wiegele ich ab.
Wenn du meinst. Sag mir Bescheid, wenn du was herausfindest. Ich werde wohl auch etwas ausprobieren.
Was denn? Jetzt war ich neugierig.
Sag ich dir nicht. Sonst geht das Experiment vielleicht nicht. Ach Mensch. Vielleicht hatte er Recht.
Na dann.
Ich komm heute Abend einfach mal auf einen Abstecher in deinen Kopf vorbei.
Tu das. Sollte ich ihm sagen, dass ich mich irgendwie schon darauf freute? Nein, wohl besser nicht.
Du, ich muss gehen, meine Mitfahrgelegenheit wartet nicht. Bis nachher, verabschiedete ich mich von ihm.
Bis nachher.
Als ich um die Ecke bog, spürte ich aus seiner Richtung etwas aufwallen, was ich wider besseren Wissens als Zuneigung beschrieben hätte. Ich drehte mich um. Er lehnte an der Wand und blickte mir mit leicht gerunzelter Stirn nach.
Sicher hatte ich mich getäuscht.


Endlich Wochenende



Ich nahm den Bus nach Hause und ließ mich total entkräftet auf meinen Stuhl am Esstisch plumpsen. Durch die ganzen Träume nachts fühlte ich mich total unausgeschlafen.
Meine Eltern saßen beide schon am Tisch und warfen sich geheimnisvolle Blicke zu. Was sie wohl ausheckten? Es war auch äußerst ungewöhnlich, dass wir an einem Freitag zusammen zu Mittag aßen. Normalerweise arbeitete mein Vater freitags lang und aß in seinem Geschäft. Naja irgendwann würden sie mir schon erzählen, was sie vorhatten. Schließlich stand meine Mutter auf und begann in der Küche zu hantieren. Mein Vater erhob sich ebenfalls und fing an den Tisch zu decken. Wieder sehr ungewöhnlich. Als meine Mutter auch noch meinen Lieblingsnudelauflauf auf den Tisch stellte, wurde ich vollends misstrauisch.
„Wer ist gestorben?“, fragte ich, auf das Schlimmste gefasst.
Meine Mutter war total überrascht. „Wieso denkst du, dass jemand gestorben ist?“, wollte sie wissen.
„Naja, immer wenn ihr schlechte Neuigkeiten habt, gibt es etwas Gutes zu Essen.“
„Koche ich denn sonst nicht gut?“, fragte meine Mutter gespielt enttäuscht.
„Doch, du bist die Weltbeste Köchin für mich, das weißt du doch. Aber wenn sogar Papa freitags zum Essen heimkommt.“
„Du bist nicht auf den Kopf gefallen, was?“, grinste mein Vater. „Von wem sie das wohl hat.“ Dann stand er auf, ging zu meiner Mutter und küsste sie. „Los, sag ihr was wir vorhaben.“ Er stützte sich auf die Lehne ihres Stuhles.
„Warum ich?“, wollte meine Mutter wissen. „Warum nicht du?“
„Mama“, unterbrach ich sie ungehalten, „jetzt sagt es mir doch einfach. Ich werde es schon verkraften, aber spannt mich nicht so auf die Folter.“
„Wir wollen über das Wochenende wegfahren“, erklärte mein Vater.
„Wow, Wahnsinn, wohin denn?“ Ich freute mich total. Das war ja wirklich eine gute Nachricht und den ganzen Trubel wert.
Meine Eltern wechselten einen Blick, den ich nicht deuten konnte.
„Naja, wie soll ich es sagen, wir wollten nur zu zweit wegfahren.“
Jetzt war die Bombe geplatzt. Mein Mund klappte auf und ich starrte meine Eltern entgeistert an.
Versteht mich nicht falsch, ich war absolut nicht eifersüchtig, weil ich nicht mitdurfte. Es ist nur so, dass meine Eltern noch nie ohne mich weggefahren sind. Sie hatten immer Angst, mich allein zu Hause zu lassen und das, obwohl ich mittlerweile schon beinahe erwachsen war. Das Wochenende würde ich also sturmfrei haben. Klasse!
„Habt ihr keine Angst, dass ich das Haus in Schutt und Asche lege, bis ihr wiederkommt?“, fragte ich schelmisch.
„Du bist ja jetzt schon groß“, antwortete mein Vater.
„Ich mach auch nichts kaputt, feier keine Parties mit 100 Gästen oder komme auf die Idee Silvesterraketen im Wohnzimmer zu zünden. Wo geht’s eigentlich hin? Und viel wichtiger, wie lange bleibt ihr weg?“ Ich grinste breit.
„Denkst du wirklich es ist so gut, wenn wir sie alleine lassen?“ Das war meine Mutter.
„Ich kann euch ja jeden Abend anrufen, damit ihr wisst, dass es mir gut geht.“
„Oh ja, das wäre schön.“ Meine Mutter würde sich ohnehin die ganze Zeit Sorgen machen.
„Wir dachten, wir fahren einfach ein Stückchen mit dem Auto und sehen uns was an. Und wenns uns gefällt, übernachten wir da“, erläuterte mir mein Vater. So spontan, wie das Vorhaben klang, war es bestimmt seine Idee gewesen.
„Und wann geht es los?“, wollte ich wissen.
„In etwa einer Stunde, bis Sonntagabend voraussichtlich.“ Wahnsinn so lange. Ich freute mich schon tierisch.
Beim Mittagessen unterhielten sich meine Eltern darüber, wo sie hinfahren wollten und ich mampfte genüsslich meinen Nudelauflauf und hörte ihnen zu.
Kurze Zeit später verschwanden sie auch schon in ihrem Zimmer und packten einige Dinge zusammen. Nach etwa einer Stunde hatten sie gepackt, ich war mehrfach umarmt und belehrt worden, was ich zu tun und zu lassen hätte und dann waren sie losgefahren. Ich stand auf unserem Balkon und winkte ihnen nach.
Als sie schließlich fortgefahren waren, schlurfte ich in mein Zimmer und legte mich in mein Bett. Eigentlich hielt ich nicht viel von Mittagsschlaf, aber heute brauchte ich es doch. Die Hoffnung einfach nichts zu träumen, da Chris ja wach war, erfüllte sich leider nicht. Ich träumte einen ziemlich sinnlosen Traum, der daraus bestand, dass ich irgendwie in einem Auto saß und über eine Autobahn fuhr. Was der Traum mit mir oder Chris zu tun hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.
Jedenfalls war es Chris Stimme, die mich spät nachtmittags aufweckte.
Hallo Anna, kannst du mich hören?
Ja, ich höre dich und mir geht es prima, danke der Nachfrage, muffelte ich noch ziemlich verschlafen.
Was hab ich denn falsches gesagt? Mir war es irgendwie fremd, dass Chris permanent so nett war und Angst hatte, mich zu verletzen.
Ach nichts, ich habe nur geschlafen, antwortete ich.
Oh hab ich dich geweckt? Tut mir leid. Genau das meinte ich. Diese Rücksichtnahme war ich nicht gewöhnt und sie machte mich misstrauisch, obwohl sie mir auch gut tat.
Nein, ist schon okay. Du hast mich ja heute Mittag bereits vorgewarnt. Also was ist es jetzt, das große Experiment?, fragte ich und wurde sogleich neugierig. Chris hatte so geheimnisvoll getan.
Also das Experiment, äh, komm und sieh selbst, forderte er mich auf. Komm und sieh selbst?
Was soll ich denn sehen?, wollte ich gespannt wissen.
Ich bin am Meer, antwortete Chris gespielt gleichgültig.
Was?! Wo bist du? Am Meer?! Willst du mich auf den Arm nehmen?, dachte ich entgeistert. Für viele mag das nichts außergewöhnliches sein, aber für mich, die im Süden Deutschlands wohnt, ist es schon ziemlich ungewöhnlich.
Ich vertraute Chris, wenn er sagte, er wäre am Meer, das bedeutete aber, dass er nach der Schule schätzungsweise 400 Kilometer nach Norden gefahren war. Es könnten auch mehr gewesen sein, ich bin ziemlich grottig in Erdkunde.
Komm und sieh selbst, wenn du es mir nicht glaubst, grinste er. Also stellte ich mir meinen Raum vor, öffnete die Türen, ging den Gang entlang, direkt in Chris Kopf. Eine frische salzige Brise wehte mir um die Nase, Möwen flogen über mich hinweg und schrien laut. Zu meinen Füßen war das Meer. Sanft umspülte es meine Zehen, nein Chris Zehen. Aaaah war das kalt. Der Idiot hatte natürlich wieder keine Schuhe an.
Sein Lachen unterbrach mich.
Du solltest mich vielleicht nicht gerade als Idiot bezeichnen, wenn du in meinem Kopf bist.
Sollte ich das?, antwortete ich keck.
Vielleicht, meinte er verwegen.
Und wozu, wenn ich fragen darf, bist du jetzt ans Meer gefahren?, will ich wissen.
Um herauszufinden, ob die Entfernung zwischen uns die Verbindung schwächer werden lässt.
Und wird sie?
Sag du es mir.
Ich lauschte in mich hinein, in Chris hinein, konnte aber keinen Unterschied zu heute Morgen oder gestern feststellen.
Ich merke keinen Unterschied, also, fasste ich zusammen, hast du ein total sinnloses Experiment gemacht.
Na danke, antwortete Chris erbost. Nein, ich glaube nicht, dass es sinnlos war. Jetzt wissen wir, dass die Entfernung keinen Unterschied macht.
Und was hilft uns dieses Wissen?, fragte ich.
Nun war Chris ratlos. Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Aber vielleicht hilft es uns später, wenn wir weitere Teile dieses großen Puzzles entschlüsselt haben.
Aha. Und was machst du heute Abend?
Na was wohl? Hier mutterseelenallein in meinem Zelt rumsitzen, trockene Brötchen mit Wurst essen und aufs Meer starren. Du willst mir nicht zufällig Gesellschaft leisten?
Ich lachte in mich hinein.
Hey, ich mach das auch für dich, antwortete Chris und tat so, als wäre er beleidigt.
Ist ja okay, wiegelte ich ab. Ich ess nur schnell was, wir wollen ja nicht, dass ich vor Hunger tot umfalle. Und dann komm ich wieder vorbei, ich hab heute nichts Besseres vor.
Wollen deine Eltern nicht, dass du mit ihnen isst?, wollte er wissen.
Eigentlich schon, aber die sind über das Wochenende weggefahren, erzählte ich ihm.
Echt? Das ganze Wochenende? Du sag mal… hast du…
Ich hole mir jetzt schnell was zu essen okay?, unterbrach ich ihn und bevor er antworten konnte, war ich schon wieder zurück in meinem Kopf. Schnell schloss ich die Türen und öffnete wiede die Augen.
Von mir aus, aber bleib nicht zu lange weg, murmelte er noch.
Eigentlich war es mir mit dem Essen überhaupt nicht so wichtig. Ich wusste nur nicht, was ich antworten sollte, wenn er mich nach einem Date fragen würde. Na gut, Date war wohl ziemlich übertrieben, aber nach einem Treffen. Konnte ich es wagen, dass Paulina, sollte sie es erfahren, unglaublich wütend auf mich würde? Dass mich dann alle beschuldigen würden, ich hätte ihr Chris ausgespannt? War es das wert? Wenn mich dann alle hassen würden? Ich wusste es nicht. Fest stand, dass ich Chris jetzt schon sehr gern hatte und durch diese Verbindung ihn auch noch besser kennen lernen würde. Wahrscheinlich wäre er es wert.
Wenn er sich überhaupt für mich interessierte. So weit, dass ich ihn Paulina ausspannen… würde es zwar hundertprozentig nicht kommen, denn ich war ja „so jemand wie dich“. Nur irgendwie hatte mir der heutige Tag schon zu denken gegeben. Er hatte mir gesagt, ich dürfe in seinem Kopf bei Englisch spicken, wir würden zusammen lernen und er hatte Paulina stehen lassen, nur weil ich sauer weggelaufen bin. Ich war verwirrt. Hatte er eben traurig geklungen, als ich weggegangen war? Lag es nur an dieser Verbindung, dass er begann mich zu mögen? Ja, wahrscheinlich. Vorher hatte er sich nie für mich interessiert, mich zwar hin und wieder angesehen, aber nichts, was mehr war wie „sie ist da“.
Würde ich zusagen, wenn er sich demnächst mit mir treffen wollte? Wäre er sehr enttäuscht, wenn ich nein sage? Konnte ich überhaupt nein sagen? Ich lauschte in mich hinein, der Antwort die mein Herz mir gab, konnte ich noch nicht nachgeben. Mh. Mein Gehirn sagte klar nein. Nein, es ist zu gefährlich. Willst du, dass dich alle hassen. Mein Magen sagte etwas undefinierbares, etwas wie „hab Hunger“. War ja klar, dass der wieder eine Extrawurst brauchte. Und was mein Herz mir sagte, war nicht schwer zu erraten. Die Frage war nur, auf wen würde ich hören.
Ich tiegerte also in die Küche, kramte im Kühlschrank etwas Essbares hervor, setzte mich auf die Couch und schaltete den Fernseher an. Wahllos zappte ich durch die Programme und aß mein Essen, ohne zu realisieren, was genau ich anschaute oder aß. Dann stellte ich meinen Teller in die Spülmaschine, schaltete den Fernseher aus und ging in mein Zimmer. Wenn ich bei Chris war, würde sich mein Körper nicht bewegen und ich hatte nicht vor nachher endlos viele Verspannungen zu spüren, also zog ich schnell meinen Schlafanzug an, flitzte durchs Bad und legte mich schließlich in mein Bett. Ich schloss die Augen, stellte mir meinen Raum vor, öffnete die Türen und lief hinüber zu Chris.
Da bist du ja endlich, begrüßte er mich. Ich wollte dich gerade holen, schau mal.
Die Sonne ging gerade unter und tauchte alles in ein rotgoldenes Licht. Gemeinsam saßen wir am Strand, starrten hinaus aufs offene Meer und bewunderten den Sonnenuntergang. Keiner von uns sprach ein Wort. Niemand wollte die Spannung, die sich aufgebaut hatte zerstören.
Es war schon seltsam, alles mit Chris Augen zu sehen. Würde ich hier sitzen, sähe für mich wahrscheinlich alles etwas anders aus. Früher einmal hatte ich mir überlegt, wie ein und derselbe Apfel beispielsweise für jemand anderes aussah. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich es auf diese Weise erfahren würde.
Wir sahen nicht nur durch die gleichen Augen, wir hörten, schmeckten und fühlten auch das gleiche. Nur, dass diese Informationen irgendwo in Chris Kopf an zwei Personen gingen. Wie das biologisch möglich ist, weiß ich absolut nicht.
Nur etwas nervig war, dass keiner von uns etwas denken konnte, ohne dass es der andere auch wusste.
Im Nachhinein habe ich mir überlegt, dass ich vielleicht etwas denken hätte sollen wie „Küss mich“ oder so etwas. Ist mit zwei Personen und einem Mund wohl etwas schwierig oder? Ich sage einfach zwei Personen, weil mir kein anderer Ausdruck dafür einfällt, was wir in diesem Augenblick waren.
Als die Sonne irgendwann untergegangen war, stand Chris auf und ging zu seinem Auto. Ich wusste bis eben nicht einmal, dass er ein Auto besaß. Er öffnete den Kofferraum und holte ein Zelt heraus.
Du hilfst mir doch sicher beim Aufbauen, oder?, fragte mich Chris. Die sentimentalen Gefühle, die wir beide beim Anblick des Sonnenuntergangs gespürt hatten, verschwiegen wir im beidseitigen Einvernehmen. Ich war mir sicher, dass Chris genauso verwirrt über sie war, wie ich.
Klar, antwortete ich in seinen Gedanken. Ich übernahm die Führung und innerhalb weniger Minuten war das Zelt aufgebaut, obwohl es etwas schwierig war, die mir doch fremden Hände zu bewegen. Wenigstens hatten sich die ganzen Campingausflüge mit meiner Familie jetzt gelohnt.
Gemeinsam pumpten wir seine Luftmatratze auf, räumten Schlafsack und seine Tasche ins Zelt und schlossen das Auto ab. Langsam wurde es dunkel und Chris Körper kroch ins Zelt und zog die Reißverschlüsse zu. Dann kramte er in seiner Tasche und zog etwas aus Stoff daraus hervor. Erst als Chris sich schon den Pullover über den Kopf gestreift hatte, merkte ich, dass er sich umzog.
Du äh, ich geh dann glaub mal besser oder?, fragte ich peinlich berührt. Hätte ich jetzt einen eigenen Kopf gehabt, wäre dieser knallrot geworden. So spürte nur Chris, dass ich mich unwohl fühlte.
Warte bitte, ich bin gleich umgezogen. Außerdem ist es so dunkel, du siehst ohnehin nichts.
Ja sehen konnte ich nichts, aber fühlen konnte ich alles. Wie er den Pullover über den Kopf zog und dabei mit den Händen über seinen gesamten Oberkörper fuhr. Es war eigentlich nichts dabei, aber es mit anzufühlen, war schon etwas anderes. Er zog einen anderen Pullover an und wechselte auch noch die Hose. Unweigerlich fragte ich mich, wie sich seine Hände wohl auf meinem Körper anfühlen würden, wenn ich gleichzeitig mich und ihn spüren würde. Aber diesen Gedanken verbot ich mir, würde Chris ihn doch im gleichen Augenblick kennen, indem ich ihn denken würde.
Schließlich lag er brav angezogen in seinem Schlafsack und starrte an das Zeltdach.
Danke, flüsterte er ohne Vorwarnung in die Stille hinein.
Danke wofür, fragte ich ihn verwundert.
Für alles. Dafür, dass du da bist. Ich habe diese Verbindung erst ziemlich verflucht, aber jetzt glaube ich, dass es mit jeder anderen Person schlimmer gewesen wäre als mit dir. Also danke.
Ich glaubte, das war ein Kompliment.
Dir danke ich auch, antwortete ich verlegen. Für Englisch und ich weiß nicht. Ich bin in der letzten Woche einfach nur total glücklich gewesen.
Obwohl du komische Träume hast und zweimal ohnmächtig geworden bist?, wollte er wissen.
Ja, woher weißt du von dem zweiten Mal?
Da wo du plötzlich im Unterricht aufgeschrien hast? Da hatte ich auch furchtbare Kopfschmerzen und bin kurz nach dir zur Krankenschwester. Du lagst auf dieser Liege und warst von dem Schmerzmittel schon eingeschlafen.
Achso.
Erzähl mir was von dir, bat er mich.
Seit wann interessierst du dich für Loser?, fragte ich ihn, bevor ich überhaupt kapierte, was ich sagte. Eigentlich wollte ich „für mich“ sagen, aber der Loser war mir einfach so rausgerutscht. Und er klang ziemlich verletzt.
Du bist kein Loser, sagte er ruhig und bestimmt und irgendwie tröstete mich das. Ich frage mich gerade ständig, warum ich dich nicht schon früher kennen gelernt habe, du bist nett, lustig, schlau, hübsch…
Darauf wusste ich nicht, was ich antworten sollte, aber Chris schien keine Antwort zu erwarten.
… aus diesem Grund brauchst du auch deinen Schönheitsschlaf. Es ist schon ziemlich spät. Ich werde mich jetzt auch hinlegen. Wenn du möchtest wecke ich dich morgen früh.
Und auch diesmal hielt er mein Schweigen offensichtlich für eine Zustimmung. Was gab es denn schöneres, als sich von seinem… einer Person die man mochte wecken zu lassen? Ich wünschte ihm also eine gute Nacht und kroch zurück in meinen Kopf. Wenige Augenblicke später war ich auch schon eingeschlafen.

Der folgende Alptraum stellte alles in den Schatten, was ich bisher an Albträumen gehabt hatte. Nicht, weil er besonders grauenvoll war, sondern weil er so realistisch war, dass ich Angst hatte, es wäre kein Traum gewesen.

Albtraum



Kaum war ich eingeschlafen, öffneten sich die Flügeltüren zu meinem Geist und ich entwischte in Chris Kopf. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich heute so viel Zeit in seinem Körper verbracht hatte, dass sich mein… ja, wie sollte ich es nennen, meine Seele? Nein, ich blieb wohl besser bei meine Persönlichkeit… also vielleicht fühlte sich meine Persönlichkeit in Chris Körper so wohl, dass sie sofort, als ich eingeschlafen war und es somit nicht mehr kontrollieren konnte, zu Chris strebte.
Chris schlief noch nicht, sondern starrte unbeweglich an die Zeltplane. Meine Persönlichkeit konnte keinen Kontakt mit ihm aufnehmen, da ich mich momentan im Reich der Träume befand. So hörte ich einfach zu, was Chris beschäftigte.
Er dachte über den heutigen Abend nach. Über das was er gesagt und gedacht hatte und das, was er sich in einem kleinen schwachen Augenblick gewünscht hatte.
"Anna", sprach er und seufzte.
Noch nie hatte er sich jemandem näher gefühlt, als ihr und das lag nur zum Teil daran, dass er all ihre Gedanken und Gefühle kannte. Anna war ehrlich und aufrichtig, das hatte er schon früher gewusst, aber so wirklich war sie ihm erst jetzt aufgefallen. Sie war lustig und kein bisschen spießig, wie er gedacht hatte. Irgendwie so ganz anders, als Paulina, die sich immer Sorgen darum machte, was die anderen jetzt von ihr dachten, die immer perfekt sein wollte, in die er sich vor einem Jahr verliebt hatte. Warum? Seine Freunde fanden, sie würden gut zusammen passen und auf diversen Parties sah man sich und kam sich näher. Irgendwann waren sie schließlich zusammengekommen. War er jemals so glücklich mit ihr gewesen, wie mit Anna? Hatte er jemals so ungezwungen mit ihr herumalbern können? Was wäre passiert, wenn er diese Verbindung zu ihr gehabt hätte, nicht zu Anna? Sie hätte wahrscheinlich total Panik geschoben, warum er denn so etwas Riskantes, wie 400 Kilometer alleine fahren, hätte tun können. Beim Sonnenuntergang hätte sie unentwegt über irgendwelche ihrer Probleme, die keine waren, gequatscht, dass sie zu dick sei, oder ob ihm ihre Haarfarbe gefalle oder über eine Party, bei welcher ach so viele wichtige Personen kommen würden und wo sie sich unbedingt mit ihm sehen lassen wollte. Ja sehen und gesehen werden, daraus bestand ihre Beziehung. Viel mehr war von der anfänglichen Verliebtheit leider nicht mehr übrig geblieben.
Hätte sie ihm geholfen, das Zelt aufzubauen? Wohl eher nicht. Hätte er diese Reise überhaupt unternommen? Für sie? Wahrscheinlich auch nicht. Eigentlich wollte er nur in zweiter Linie etwas über die Verbindung herausfinden. Eigentlich wollte er Anna besser kennen lernen und sich über seine Gefühle Klarheit verschaffen. Was war denn geeigneter, als ein romantischer Zeltausflug zu zweit… in einem Körper. Er lachte. Besser wäre es mit zwei Körpern gewesen. Dann würde sie jetzt hier neben ihm liegen, er hätte seinen Arm um sie gelegt und...
"Chris hör auf!"
Er durfte nicht so denken. Was würden seine Freunde sagen, wenn er mit "Loser-Anna" befreundet wäre? Was würden sie sagen, wenn sie herausfänden, dass er nicht nur freundschaftliche Gefühle für sie hegte? Gutheißen würden sie es auf keinen Fall. Sie würden ihn für verrückt erklären und würden ihn dazu bewegen, sie zu vergessen. Oder Anna so verletzen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Nein, das durfte er nicht zulassen. Aber für wen sollte er sich entscheiden? Seine Freunde kannte er sein Leben lang und Anna so richtig erst seit wenigen Tagen, dafür hatte er das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. Mist.
Anna sah nicht nur den superreichen beliebten Typ in ihm, zumindest glaubte er das, oder besser gesagt, er hoffte es. Sie war das erste Mädchen, dass ihn Idiot genannt hatte und ihn als selbstverliebt beschimpfte. Im Grunde hatte sie ja sogar Recht. Ein kleines bisschen. Er hatte alles und er bekam alles, da war es schwer, nicht ein bisschen selbstverliebt zu sein. Anna hatte ihn irgendwie auf den Boden zurückgeholt, zurück in die Realität, doch es tat nicht weh, wie so etwas meist tut. Nein, irgendwie war er auch froh darüber. Froh, dass es Anna war, deren Gedanken er hören konnte und nicht jemand anders. Insgeheim stimmte er ihr zu, was sie über Zufälle gesagt oder besser gedacht hatte: “Nichts geschieht zufällig, nichts geschieht ohne Grund.”
Was, wenn er nicht mit Paulina zusammen gewesen wäre, sondern mit ihr? Hätte er sich dann auch so stark zu Paulina hingezogen gefühlt? Das bezweifelte er und dennoch war er sich bewusst, was für ein Gedanke in seinem Kopf herumspukte. Warum gewesen? Was, wenn er mit Anna zusammen wäre? Sein Herz machte einen leichten Satz und zog sich gleich darauf schmerzhaft zusammen. Er war kurz davor, seine Freundin zu betrügen, eigentlich war er gerade schon dabei, das wusste er.
Und dennoch schwieg sein Gewissen. Er war so verwirrt, erfüllt und glücklich zugleich, dass ein schlechtes Gewissen gerade einfach keinen Platz mehr hatte.
Und dann war da noch die Frage, was empfand Anna für ihn? Nun, zum einen fand sie ihn sexy und gutaussehend, auch wenn sie das nur gedacht hatte. Diese Verbindung war schon ziemlich nützlich, auch wenn er das zuerst nicht zugeben wollte. Da sie es nur gedacht hatte, war es wahrscheinlich auch die Wahrheit. Zum anderen schien sie ihn immer zu unterbrechen und abzulenken, wenn er fragen wollte, ob sie etwas mit ihm unternehmen wollte. Dabei ging es ihm primär nicht darum, was sie machten, naja zum Teil wenigstens, sondern eher dass sie etwas unternahmen. Zum Beispiel, wie heute Abend. Anna war momentan wahrscheinlich genauso verwirrt wie er, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Sie hatte im Gegensatz zu ihm ja nicht nur damit zu kämpfen, dass sie plötzlich seine Gefühle und Gedanken kannte, sie war sicher auch ein bisschen unsicher, da er sie nicht mehr für die Verbindung hasste, wie am Anfang, sondern dass er mit ihr scherzte. Er war ja selbst auch ziemlich verunsichert, was seine Gefühle für beide Mädchen im Moment anging.
Würde er mit Paulina Schluss machen? Um mit Anna zusammen sein zu können? Würde Anna überhaupt mit ihm zusammen sein wollen? Damit begab sie sich geradewegs in die Schusslinie und in den Klatsch und Tratsch der eifersüchtigen Mädchen, allen voran Paulina. Wie würde er es seinen Freunden beibringen? Würde er das Risiko in Kauf nehmen, dass sie dann nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten, da er ja uncool geworden war? Er konnte die Fragen weder mit einem klaren Ja, noch mit einem klaren Nein beantworten. Alles hing davon ab, ob Anna ihn ebenfalls mochte und darüber hinaus, ob sie auch mit ihm zusammen sein wollte. Es war ja nicht so, dass er jetzt mit Paulina Schluss machte, nur um von Anna eine Abfuhr zu bekommen, weil sie zu viel Angst hatte.
"Ach, das werde ich schon schaffen", murmelte er siegesgewiss. Denn bisher hatte ihm kein Mädchen, das er wirklich wollte, widerstehen können. Obwohl er Anna nicht verführen wollte… aber wenn er daran dachte, dass sie in den Armen eines anderen liegen würde oder ihn küssen würde, erfüllte ihn das derart mit brennender Eifersucht, dass es ihn erstaunte. Und da erkannte er, dass Anna die Erste war, mit der er von sich aus zusammen sein wollte, mit der er wegen ihrer selbst zusammen sein wollte und es schmerzte ihn zu wissen, dass sie möglicherweise die Erste war, die ihm nicht grenzenlos verfallen war. Er wusste, dass er für Anna kämpfen würde und obwohl er es sich nicht eingestehen wollte war ihm klar, dass er dabei war, sich in Anna zu verlieben. Nein, dass er sich in Anna verliebt hatte.
Mit diesem letzten Gedanken schlief er mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein. Zumindest war er sich über seine Gefühle jetzt im Klaren. Morgen würde er Anna fragen, ob sie sich mit ihm treffen wollte. Glücklicherweise waren ihre Eltern gerade an diesem Wochenende nicht da. Wenn das nicht ein Zeichen war.

In dem Moment, als Chris eingeschlafen war, wurde ich unsanft aus seinem Kopf gerissen und schwebte plötzlich wie auf einer Wolke über das Meer. Nein, ich war die Wolke. Grau, düster, Unheil bringend. Überall wo ich drüber schwebte, verdunkelte sich der Himmel. Von unten sah ich wahrscheinlich aus, wie eine riesige Gewiterwolke. Langsam flog ich auf das Festland zu und erkannte unter mir einen Campingplatz. War das der Campingplatz, auf dem Chris Zelt stand? Ich schloss die Augen, suchte den hellen, vertrauten Fleck und tatsächlich leuchtete aus dem Zeltmeer Chris heraus. Was er wohl jetzt träumte? Konnte ich mit ihm irgendwie Kontakt aufnehmen? Während ich noch darüber grübelte, wurde ich von einer Windböe erfasst und in der Luft herumgewirbelt. Der Wind sauste und pfiff um mich herum und durch mich hindurch, sodass ich eine Gänsehaut bekam und ich mich fühlte, als wäre ich elektrisch geladen. Die Spannung stieg und knisterte förmlich und als ich über der großen Kiefer schwebte, die den Campingplatz überspannte, bahnte sie sich als gleißender Blitz, rasend schnell hinunter in Richtung des Baumes und schlug dort mit einem gewaltigen Krachen ein. Ich atmete erleichtert auf, denn die ganze Energie war mir entwichen, doch Sekunden später begann mein Magen zu grummeln und ein dröhnender Donner ertönte. Hätte ich Ohren gehabt, müsste ich sie mir zu halten, weil es so unglaublich laut war.
Mein Erstaunen über die Geschehnisse war nur von kurzer Dauer und wich einem grenzenlosen Entsetzen. Die Kiefer, in die gerade eben mein Blitz eingeschlagen hatte, war durch die riesige Energie in der Mitte gespalten worden und brach nun Stück für Stück weiter auseinander. Nach und nach zerrissen knirschend weitere Fasern, die die beiden Hälften noch zusammen hielten.
NEIN! Der Baum durfte nicht zerbrechen, in seiner Fallstrecke lagen mehrere Zelte, deren Bewohner friedlich schlummerten. Mein Herz setze für einige Sekunden aus, als ich mit Verspätung erkannte, dass sich auch Chris Zelt in dieser Bahn befand. CHRIS! Panik erfasste mich und schnürte mir die Luft ab.
Chris! Chris!, schrie ich verzweifelt, doch es ertönte nur ein leises Rauschen. Ich war immer noch eine Wolke, verdammt! Wie konnte ich ihn warnen? Ihn wecken? Ich musste, musste ihn retten, er durfte nicht… NEIN! Die eine Hälfte des Baumes begann sich immer schneller abzusenken.
Chris!, rief ich erneut, diesmal in Gedanken. Sofort spürte ich, wie Chris unten im Zelt aufwachte und sich verwundert die Augen rieb. Chris, der Baum fällt, du musst sofort aus dem Zelt raus. Los, du musst da raus. Doch Chris machte keine Anstalten, das Zelt zu verlassen, er sah sich stattdessen verwirrt um, wo diese Stimme herkam. Hilflos musste ich mit ansehen, wie die Krone wie in Zeitlupe Chris Zelt erreichte und es unter sich begrub. Erdrückender Schmerz durchströmte mich und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. NEIN! CHRIS! Auf einmal hörte der Schmerz abrupt auf, zurück blieb nur Leere.
Ich konnte es nicht fassen. War er…?, wagte ich weder auszusprechen, noch zu denken. Er konnte nicht…, das durfte nicht sein, ich musste jetzt zu ihm hinunter, sicher konnte man ihm noch helfen. Doch als ich meine Augen schloss, um nach einem Lebenszeichen von ihm zu suchen, blieb alles dunkel. Nichts. Bleierne Schwere erfüllte mich, aber anstatt abzusinken, brauste der Wind auf und trieb mich unbarmherzig weiter. Fort vom Campingplatz, fort von der Leere, fort von Chris.
Ich versuchte alles auszublenden. Den Schmerz, den der Baum in mein Herz getrieben hatte. Die Trauer über meinen plötzlichen Verlust, die Wut, darüber, dass er nicht auf mich gehört hatte und aus dem Zelt gekrochen war und die Verzweiflung, dass er diese überstürzte Reise überhaupt alleine gewagt hatte. Wollte nicht darüber nachdenken, was ich hätte haben können und was mir der Baum in Sekundenbruchteilen geraubt hatte. Nicht darüber nachdenken, dass ich diesen Blitz geschickt hatte. Wollte nicht mehr fühlen. Besinnungslos ließ ich mich umher treiben.

Urplötzlich veränderte sich die Szene. Auf einmal lag ich daheim in meinem Bett und schlief. Woher ich das wusste? Es fühlte sich genau so an. Oder war das der Tod? War ich ebenfalls gestorben? Das konnte nicht sein. Wolken starben nicht einfach so. Wenn, dann lösten sie sich auf und aufgelöst fühlte ich mich keinesfalls. Vorsichtig gab ich den Betäubungszustand auf, ließ meine Sinneseindrücke wieder zu.
Das Knistern und Knacken, dass ich hörte kam keinesfalls aus meinem Zimmer, denn dort sollte es still sein. Doch wo war ich dann? Durch meine Nase holte ich tief Luft und atmete einen gewaltigen Schwall heiße, rauchige Luft ein, der mir sofort den Rachen verbrannte und mich husten ließ. Panisch setzte ich mich mit einem Ruck auf, froh, dass ich wieder einen Körper hatte und riss die Augen auf. Was ich sah, ließ mich sofort erstarren. Mein komplettes Zimmer brannte! Die Flammen leckten genießerisch über meine Einrichtung und setzten alles in Brand. Vor meinem Bett erstreckte sich ein Feuermeer, das einmal mein Teppich gewesen war. Ich musste sofort raus hier! Die heiße Luft verbrannte mich von außen und von innen, der Rauch benebelte meine Sinne und nahm mir die Kraft. Mühsam zog ich mich an der Fensterbank hoch, trat meine Decke zur Seite, die bereits zu kokeln anfing und stand schließlich auf wackeligen Beinen vor meinem Fenster. Hier oben war die Luft kochend heiß, so dass meine Haare zu dampfen schienen. Diese Hitze hatte es geschafft, den eigentlich hitzebeständigen Fenstergriff zu einem Klumpen zusammenschmelzen zu lassen, der unaufhörlich auf meine Fensterbank tropfte. Verdammt, wie sollte ich das Fenster nur öffnen?! Benommen suchte ich einen Gegenstand, mit dem ich die Fensterscheibe zerschlagen konnte, aber alles, was halbwegs geeignet schien, war entweder zu weit weg oder brannte. Entschlossen schlug ich mit meiner bloßen Faust gegen das Glas, aber ich war bereits so schwach, dass es nicht mehr als ein leises Klopfen verursachte, geschweige denn die Scheibe zerbrechen ließ. Nach kurzer Zeit hielt ich es stehend nicht mehr aus und ehe ich mich versah, knickten meine Beine ein und ich sank hinab in mich einhüllende Schwärze.

Der Raum meines Geistes


Plötzlich kroch ein Schrei tief aus meinem Inneren. Ich fühlte es mehr, als dass ich es hörte, doch als er mein Bewusstsein erreicht hatte, öffnete ich den Mund und schrie.
Schlagartig war ich wach, riss sofort die Augen auf. In einem Bruchteil einer Sekunde erkannte ich, dass mein Zimmer unverändert war, offensichtlich doch nicht gebrannt hatte und realisierte, dass ich dann wohl noch am Leben war. Erleichtert atmete ich ein.
Anna, dröhnte es urplötzlich panisch und so laut, dass es schmerzte.
Reflexartig hielt ich mir die Ohren zu, aber die Stimme existierte nur in meinem Kopf. Chris.
In Gedanken rauschten Bilder vor meinem inneren Auge vorbei. Gestern Abend. Wir beide. Der Sonnenuntergang. Das Zelt...
Die Geschwindigkeit der Bilderflut, die gerade durch meinen Geist rauschte, nahm zu. Das Meer, die Wolke, der Strand, der Campingplatz - der Baum - Chris’ Zelt - der Blitz. Und wie in Zeitlupe sah ich erneut die Kiefer fallen, mein Herz begann heftig zu rasen und Schweiß brach auf meiner Stirn aus, als der Baum erneut schwankte. Auch zum zweiten Mal spürte ich den Schmerz, der durch meinen Körper schoss, als das blättrige Ungetüm der Länge nach in das Zelt fiel und Chris unter sich begrub.
In meinem Kopf war es schlagartig still geworden. “Chris?”, fragte ich vorsichtig in meinen Kopf hinein.
Lange erhielt ich keine Antwort. Mit der Zeit wurde ich zunehmend ängstlich. Warum schwieg er? Irgendetwas hielt mich davon ab, einen Abstecher in seinen Kopf zu unternehmen um den Grund herauszufinden.
“Es tut mir leid”, flüsterte er schließlich und meine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Chris hatte gemerkt, was ich gestern empfunden hatte und bereute, was gestern vorgefallen war. Enttäuschung machte sich in mir breit. Wie hatte ich nur so unglaublich naiv sein können.
“Warte mal WAS?!”, unterbracht er mich. “Das habe ich damit doch überhaupt nicht gemeint. Es tut mir leid, weil ich auf die bescheuerte Idee kam, auszutesten, was passiert, wenn wir weit voneinander entfernt sind...”
“Aber...”, setzte ich an. Jetzt war ich verwirrt.
“... nur aus diesem Grund hatten wir beide Albträume gehabt, da bin ich mir sicher.” Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: “Was gestern passiert ist... bereue ich nicht.”
Da war ich erst mal sprachlos.
Eine ziemlich lange Zeit schwiegen wir uns an, doch die Stille war keinesfalls unangenehm. In mir jubelte es. Er mag mich!
“Anna”, fragte er schließlich und durchbrach die Stille. “Möchtest du..., ich meine nur falls du Zeit und Lust hast...?”
Was? Wollte er sich mit mir treffen? Er wollte sich mit mir treffen oder? Plötzlich wich mein Hochgefühl einer Verunsicherung. Er traute sich nicht, es auszusprechen, weil er ja immer noch mit Paulina zusammen war. Das musste es sein. Er hegte immer noch Gefühle für sie. Was fällt dir eigentlich ein, schalt ich mich. Du bist ja so egoistisch. Wenn du so weiter machst, bist du auf dem besten Weg seine Beziehung und sein Ansehen zu zerstören. Willst du das denn wirklich? Aus den dunkelsten Tiefen meiner Seele kroch ein Hass hervor. Ein Hass auf mich. Warum konnte ich mich nicht in jemanden verlieben - Moment hatte ich gerade wirklich verlieben gedacht? Ich fühlte in mich hinein. Ja, ich schätzte, das musste Liebe sein. So ein seltsames und zugleich schönes Gefühl hatte ich noch nie gespürt. Natürlich liebte ich meine Eltern, aber das war ja was ganz anderes. In einen Jungen hatte ich mich schließlich noch nie verliebt. Zumindest nicht so richtig. Wenn ich an ihn dachte, ihn sah, seine Stimme hörte oder nur seinen Namen aussprach, schien es, als würde in mir eine kleine Sonne zu strahlen anfangen und das Strahlen übertrug sich immer sofort auf mein Gesicht. Erneut breitete sich diese Wärme in meinem ganzen Körper aus und vermischte sich mit etwas Bittersüßem und plötzlich flackerte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Wir. Wie er mich in seine Arme nahm, ich mich an seine Brust schmiegte und mein Gesicht in seinem T-Shirt vergrub. Und obwohl ich ihm noch nie nah genug gewesen war, um zu wissen, wie er roch - okay das in der Besenkammer zählte nicht, da stankt es nur nach Putzmittel. Dennoch stieg in mir ein vertrauter Geruch auf, von dem ich genau wusste, dass es Chris war.
Doch in diesem Moment schaltete sich mein Gehirn wieder ein. Schlagartig riss es mich aus meinem Tagtraum und warf mich kalt und herzlos zurück in die harte Realität. In die Realität in der ich nicht weiter hätte davon weg sein können, in der Realität, wo ich unscheinbar und unbeliebt war, während Chris alle Herzen zuflogen. Das Bild verpuffte und ließ ein taubes Gefühl, wie von einer Mischung aus eingeschlafenen Füßen und belegter Zunge zurück. Echt ekelig.
Das wird NIE passieren, schrie es mich erbost an. Hör auf zu träumen und lerne den Tatsachen ins Auge zu sehen!
Du hast dich in jemanden verliebt, der vergeben ist. Was kann aussichtsloser sein als das, hä?
Ich seufzte. Jetzt waren wir also wieder bei diesem Thema angekommen. Na toll.
“Anna?”, fragte er erneut und klang dabei ziemlich verunsichert. Mein Herz begann sofort gegen meinen Verstand zu rebellieren und beide lieferten sich einen heftigen Kampf, den durch seine Verunsicherung mein Verstand knapp gewann.
“Das halte ich für keine gute Idee...”, antwortete ich traurig und mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Daraufhin war es am anderen Ende der Leitung wieder still.
“Ich dachte...”, setzte er an, beendete aber den Satz nicht. Was dachte er? Dass ich ihn mochte?
Da hörte ich ihn entschlossen seufzen und dieser Seufzer hatte solch eine Endgültigkeit, dass eine Gänsehaut über meinen Rücken kroch, obwohl ich immer noch in meinem flauschigen Schlafanzug unter der Bettdecke steckte.
“Anna, hör zu, ich... verdammt, wie gehen diese Mistdinger auf?”, fluchte er sogleich entnervt. Ein kleines Grinsen schlich sich auf mein Gesicht und die eben noch ziemlich unangenehme Atmosphäre kippte.
“Was machst du?”, fragte ich und versuchte vergeblich das unterschwellige Lachen aus meiner Stimme zu verbannen.
“Du hast doch gemeint, da wären so Türen, die man aufmachen könnte und ich finde die einfach nicht.”
“Was?”, lachte ich, bis mir dämmerte, welche Türen er gemeint hatte und ich schlagartig wieder ernst wurde.
“Was hast du vor?”, wollte ich leicht argwöhnisch wissen.
“Das sage ich dir erst, wenn du mir erklärst, wie ich sie finde”, antwortete Chris frech. “Wieso kannst du das und ich nicht?”, schmollte er gespielt. “Als ich mir gerade angestrengt diese komischen Türen vorgestellt habe, bin ich von der Luftmatratze gerollt.”
Ich lachte bei der Vorstellung daran. Irgendwie verwirrte mich Chris’ Heiterkeit, aber sie war genauso ansteckend.
“Weiß nicht, sie waren plötzlich da...”
“Einfach so?”, wollte er neugierig wissen.
“Mh ja...” Worauf wollte Chris hinaus?
“Ich habe einen Vorschlag. Du zeigst mir das mit den Türen und ich lerne mit dir Mathe. Da haben wir dann beide was davon.”
Gerade als ich ablehnen wollte, fiel mir meine letzte Mathenote ein, die ich bis eben erfolgreich verdrängt hatte, weil sie naja... mein Vater war sauer und meine Mutter enttäuscht, als ich sie ihnen gezeigt habe. Und durch das ganze Gefühlschaos momentan hatte ich die nächste Arbeit am Montag in weite Ferne geschoben.
“Okay”, lenkte ich ein.
“Cool”, freute sich Chris und verwirrte mich einmal mehr. “Dann gehen wir wohl beide mal frühstücken oder?”
“Mh... ja.” Und zack, war er dann weg. Ich fühlte mich etwas überrumpelt.
“Oh und Anna...”, fügte er noch hinzu, “ich bin echt froh, dass es dir gut geht und das alles nur ein Traum war.”
Stille.
“Geht mir genauso”, murmelte ich verlegen.
“Bis nachher also. Ich freu mich”, verabschiedete sich Chris.
“Äh bis nachher.”

Einige Minuten lag ich noch verwirrt in meinem Bett, dann trat ich kraftvoll meine Bettdecke zur Seite und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Sofort setzte das Hochgefühl wieder ein. Oh mein Gott ich war ja schön durch den Wind. “Pubertätärä”, würde mein Vater jetzt lachen und wissend zu meiner Mutter blicken.
Diesmal musste ich ihm zustimmen. Chris hatte mir wirklich ordentlich den Kopf verdreht. Und er wollte sich trotz Paulina mit mir treffen. Dieses Wochenende würde ich sie einfach in die hinterste Ecke meines Gehirns verbannen, nahm ich mir vor. Er wollte sich heute mit mir treffen, auch wenn es nur zum Lernen war. Diese Tatsache verpasste mir keinen Dämpfer. Heute nicht. Heute zeige ich ihm, wer ich wirklich bin, dachte ich und flitzte ins Bad, wo mich im Spiegel ein Ungeheuer empfing.
Manchmal sah ich ja aus, als hätte ich mich in der Nacht durchs Gestrüpp geschlagen und mit wilden Tieren gekämpft, aber heute war mein Spiegelbild echt zum Davonlaufen. Wahrscheinlich hatte ich mich im Alptraum panisch hin- und her gewälzt und es sah sogar fast so aus, als hätte ich mir die Haare gerauft.
“Was machen wir nur mit dir?”, fragte ich mein Gegenüber. Zur Antwort grinste es breit und seine Augen begannen zu leuchten.
Nach einer Runde duschen sah ich doch schon ganz passabel aus. Mit der gleichen Energie flitzte ich in die Küche und richtete mein Frühstück, doch vor Aufregung bekam ich kaum einen Bissen herunter. So sollte es nicht sein, mahnte mein Verstand. Am Ende bist du nur enttäuscht.
“Dieses Wochenende bist du still und hast nichts zu melden, klar?!”, zischte ich und lachte belustigt auf, als ich merkte, dass ich mit mir selbst gesprochen hatte. “Ich sag dir dann ‘hab es dir doch gesagt’”, murrte er, als er sich zu den Gedanken an Paulina ganz weit weg in die hinterste Ecke meines Bewusstseins verzog.
War es komisch, dass ich plötzlich mit mir selbst sprach? Und mir dann auch noch antwortete?
“Oh Chris, was tust du mit mir?”, seufzte ich.
Dieses Wochenende wollte ich einfach nur genießen und einmal nicht nachdenken. Einmal nicht.
Da fiel mir siedend heiß ein, dass Chris nicht gesagt hatte, wann wir uns treffen würden und vor allem nicht wo. Bei ihm? Bei mir? Alles andere konnte ich fast ausschließen, da Chris es sicher vermeiden wollte, von anderen gesehen zu werden. Und bei ihm daheim würden wohl die Eltern Fragen stellen. Blieb also nur noch: Bei mir.
“Mist!”, rief ich aus. Dann würde ich wohl schleunigst mein Zimmer aufräumen müssen und auch im Rest des Hauses etwas sauber machen.
Die komplette Zeit bis zum Mittagessen fegte ich wie ein kleiner Wirbelwind durch alle Zimmer. Das Gute an meiner Vorfreude war, ich räumte freiwillig auf, was sonst wirklich selten der Fall war.
Irgendwann ließ ich mich erschöpft, aber zufrieden auf den Teppich in meinem Zimmer sinken. Er war endlich wieder vollständig sichtbar.
Ich sollte Chris zeigen, wie er zu den Türen kam? Nur wie genau sollte ich das anstellen?

Leicht resigniert schloss ich die Augen und stellte mir meinen Raum vor und sofort erschien er in meinem Geist. Ein weißer, kahler Raum, am einen Ende zwei hölzerne Türen, hinter mir die offene Reality-Türe und dahinter das, was meine Augen gerade sahen, nämlich die Innenseite meiner Augenlider. Also ein seltsam rot gelbes Durcheinander, leicht flimmernd. Genervt stieß ich die Türe zu. Im selben Augenblick schien um den Türrahmen etwas Dunkles herauszufließen. Erschrocken wich ich zurück. Es sah aus wie Blut, aber je weiter es sich an den Wänden, der Decke und dem Boden ausbreitete, desto unähnlicher wurde es ihm. Es sah vielmehr aus, als würde jemand mein Zimmer anmalen. Die Wände wurden lila, der Fußboden dunkelbraun und sah plötzlich aus, als wäre er aus Holz. Immer näher kam mir die Farbe. Vorsichtig wich ich nach hinten zurück, was gar nicht so einfach ist, wenn man keine Füße hatte. Ich fühlte mich zwar, als würde ich als Person hier stehen und nicht von oben auf das Geschehen blicken, doch schien ich keinen Körper zu besitzen. Irgendwann stieß ich mit meinem Rücken an eine Wand - Moment ich hatte einen Rücken? - und im selben Moment erreichte mich die Farbe, ein Kribbeln durchströmte mich und auf dem dunklen Fußboden standen zwei nackte Füße, die im Nichts zu enden schienen. Es sah leicht unheimlich und unrealistisch aus, wie auf einem modernen Gemälde. Immer weiter kribbelte die Farbe an mir empor und plötzlich hatte ich Knie, dann Oberschenkel, einen Bauch und Arme. Vorsichtig hob ich einen an und schüttelte ihn. Es fühlte sich seltsam an, irgendwie echt und zugleich doch nicht. Probehalber machte ich ein zwei Schritte. Ich stakste zwar wie auf Gummibeinen, aber immerhin konnte ich mich bewegen und sehen. Staunend drehte ich mich um meine eigene Achse. Mein Zimmer war jetzt komplett eingefärbt und sah nicht mehr nach Krankenhaus aus. Direkt wohnlich. Fehlten nur noch einige Bilder. Wie auf Befehl wuchsen aus den Wänden einige Bilder. Ich schnappte entsetzt nach Luft. Warum hatte ich die Bilder, die ich mir vor kurzem auf Amazon angesehen hatte an meinen Wänden hängen?! Ach ja richtig, ich war ja in meinem Kopf. Das alles war wirklich unglaublich unlogisch. Konnte ich mir hier alles vorstellen? Zum Beispiel ein Sofa? Kaum hatte ich an ein Sofa, dass ich heute früh in der Werbung gesehen hatte, gedacht, schien es aus der Wand zu wachsen und in eine Ecke meines Zimmers zu rutschen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Was noch? Einen Tisch? Einen Sessel? Einen Teppich? Nach und nach wuchsen immer mehr Gegenstände aus den Wänden. Einen Kühlschrank? Wenn dann einen vollen, lachte ich. Und ein Bett? “Hallo, du lebst hier nicht”, murrte mein Unterbewusstsein aus der Wand. Da hatte es wohl recht, aber warum sollte ich mir nicht diesen seltsamen Raum so einrichten, wie er mir gefiel? Und dazu völlig kostenlos? Ich grinste. So langsam fing es an, mir Spaß zu machen. Zufrieden setzte ich mich auf das Sofa du blickte mich um. Wirklich unglaublich, was man in seinem Kopf alles anstellen konnte.
Jetzt am besten noch etwas zum Anziehen, denn schließlich war ich immer noch nackt. Nichts geschah. Keine coolen Klamotten, die plötzlich in der Luft hingen oder aus den Wänden wuchsen. Suchend drehte ich mich um. Seltsam. Da sah ich über dem Sofa eine Türklinke aus der Wand ragen. Neugierig trat ich heran. Mist jetzt stand das Sofa im Weg. Sofort rutschte es auf die Seite und gab den Weg zu der Klinke frei. Neugierig packte ich den Griff und eine Tür wuchs aus der Wand. Vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter und zog. Geräuschlos und geschmeidig ließ sich die Tür öffnen und was ich dahinter erblickte, ließ mich sogleich erstarren. Hinter der Türe erwartete mich ein Kleiderschrank, nein, das konnte man beim besten Willen nicht mehr Kleiderschrank nennen. Ein Raum, mindestens genauso groß, wie mein Zimmer, wenn nicht sogar größer, erstreckte sich hier, gefüllt mit Klamotten aller Art. Mit offenem Mund betrat ich staunend dieses Wunder. Schade, dass dies nur in meinem Kopf so einfach war. Wie ein kleines Kind im Spielzeugladen, lief ich von der einen Seite auf die andere, durchwühlte einige Kleiderständer und zog schließlich eine graue Jogginghose und einen blauen Kapuzenpulli heraus. Ich fühlte mich heute nach etwas gammeligem. Ein gefühltes Jahrzehnt später verließ ich meinen Kleiderschrank wieder, nachdem ich mich mehrmals vergewissert hatte, dass er nicht verschwand, wenn ich die Tür schloss, rannte durch mein Zimmer und ließ mich mit einem Satz auf mein Sofa plumpsen, dass empört aufächzte.
Was nun?

Gab es hier vielleicht noch mehr versteckte Türen? Suchend blickte ich mich um, konnte aber keine weitere Tür oder Klinke sehen, nur die großen Flügeltüren. Was soll es, dann würde ich eben den seltsamen Sternengang noch einmal unter die Lupe nehmen. Gesagt getan.
Als ich meinen Fuß in den düsteren, nur durch viele helle Punkte beleuchteten Gang setzte, schien es, als löse er sich in Luft auf, sobald er sich über die Schwelle bewegte. Erstaunt bewegte ich ihn vor und zurück und genau wie vorhin die Farbe in ihn hineingekribbelt war, so floss sie wieder hinaus. So langsam wunderte mich rein gar nichts mehr. Die Frage war nur, wieso geschah dies alles.
Kopfschüttelnd trat ich über die Schwelle und ging vorsichtigen Schrittes in den Gang hinein. Ganz am Ende, wusste ich, waren Chris Türen. Also lief ich langsam in diese Richtung und entfernte mich immer weiter von dem hellen Licht, das aus meinen Türen strahlte. Dunkler und dunkler wurde es, die Sterne waren zu weit entfernt, um den Gang wirklich auszuleuchten. Merkwürdigerweise sah es so aus, als würden sich die Sterne bewegen oder lag es nur an dem trüben Licht? Auf einmal trat ich mit den Zehen gegen etwas Hartes und ein kurzer scharfer Schmerz schoss mein Bein empor. Vorsichtig streckte ich die Hände aus und ertastete Chris Tür. Wider Erwarten fühlte sie sich nach echtem Holz an. Versuchsweise klopfte ich dagegen und ein dumpfer hallender Ton erklang. Durch die Tür gedämpft hörte ich jemanden aufschreien.
“Anna?”, fragte Chris.
“Jaaa?”, rief ich zurück.
“Was tust du da?”, wollte er wissen. “Das tat gerade ziemlich weh.”
“Tut mir leid, ich habe etwas ausprobiert”, antwortete ich zerknirscht. “Ich mach es nicht mehr.”
“Ist okay, war ja nicht so schlimm, hat mich nur erschreckt.”, grinste Chris. “Ich brauche noch etwa eine Stunde, dann bin ich bei dir.”
Was nur noch eine Stunde? Dann sollte ich schleunigst zurück.
“Ist in Ordnung.”

So schnell es bei diesem trüben Licht möglich war, lief ich den Gang zurück, auf den immer größer werdenden Fleck am Ende zu. Jetzt hatte ich zwar nicht herausgefunden, wie ich Chris den Raum und den Sternengang zeigen konnte, aber das konnte ich wahrscheinlich nur herausfinden, wenn er es auf der anderen Seite versuchte. Und zur Not müsste ich eben improvisieren.
Energisch schlug ich die beiden Türen zu und durchquerte mein Zimmer in Richtung Reality-Türe. Plötzlich blieb ich mit einem Fuß an irgendetwas hängen und ehe ich mich versah, hatte es mich schon der Länge nach schmerzhaft auf den Boden gelegt. Mehr vor Überraschung, als vor Schmerz keuchte ich auf. Durch den Aufprall hatte es alle Luft aus meinen Lungen gepresst. Als ich mich vorsichtig wieder aufrappelte, bemerkte ich, dass mitten auf dem Boden eine silbern funkelnde Türklinke gewachsen war.

Kosmische Energie


So schnell es bei diesem trüben Licht möglich war, lief ich den Gang zurück, auf den immer größer werdenden Fleck am Ende zu. Jetzt hatte ich zwar nicht herausgefunden, wie ich Chris den Raum und den Sternengang zeigen konnte, aber das konnte ich wahrscheinlich nur herausfinden, wenn er es auf der anderen Seite versuchte. Und zur Not müsste ich eben improvisieren.
Energisch schlug ich die beiden Türen zu und durchquerte mein Zimmer in Richtung Reality-Türe. Plötzlich blieb ich mit einem Fuß an irgendetwas hängen und ehe ich mich versah, hatte es mich schon der Länge nach schmerzhaft auf den Boden gelegt. Mehr vor Überraschung, als vor Schmerz keuchte ich auf. Durch den Aufprall hatte es alle Luft aus meinen Lungen gepresst. Als ich mich vorsichtig wieder aufrappelte, bemerkte ich, dass mitten auf dem Boden eine silbern funkelnde Türklinke gewachsen war.
Argwöhnisch starrte ich auf die Türklinke. Sie glitzerte, als wenn sie Sonnenlicht reflektieren würde, aber hier in meinem Kopf schien keine Sonne. Irgendwie war mir diese Klinke nicht geheuer, denn das Funkeln schien mich wie magisch anzuziehen. Ich wollte hingehen, meine Hand über das kühle Metall gleiten lassen, schauen, was sich hinter dieser Türe verbarg und doch schien mich eine innere Stimme zu warnen. Hinter der Tür lauerte eine Gefahr, soviel war sicher, doch würde es mich davon abhalten, sie zu öffnen? War es vielleicht auch die Gefahr, die mich so reizte? Doch was konnte in meinem Geist für mich gefährlich sein? Vielleicht war ein dunkler Teil meiner Seele dahinter eingesperrt? So ein Quatsch!
Jede Faser meines imaginären Körpers schien sich nach dem Etwas hinter der Tür zu sehnen und gleichzeitig davor zurückzuweichen. Aber was war dort versteckt?
Zaghaft kroch ich auf die Klinke zu und beäugte sie misstrauisch. Von Nahem erkannte ich, dass sie leicht blau-violett leuchtete und dass das Licht von innerhalb der Türklinke zu kommen schien. Vielleicht auch von hinter der Türe. Wie von selbst näherte sich meine Hand der Klinke, ich versuchte sie gedanklich davon wegzuziehen, aber sie gehorchte der Macht hinter der Türe mehr als mir. Ich wollte sie mit meiner anderen Hand wegziehen, aber mein Körper weigerte sich. Er schien mir nicht mehr zu gehorchen. Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Zentimeter für Zentimeter näherte sie sich ihr und begann immer stärker zu zittern. Vor Aufregung hielt ich die Luft an. Dann legte sich meine Hand sanft um die Klinke. Sofort schien die Zeit still zu stehen. Ich spürte nur noch, dass die Klinke nicht aus Metall war und erstaunlich warm in meiner Hand lag, in der nächsten Sekunde wurde ich von den Füßen gerissen. Ein heftiger Stromschlag zuckte durch meine Hand. Zwischen meinen Fingern zuckten blaue und violette Blitze hin und her, alle Haare auf meinem Körper stellten sich auf und ein heftiger, stechender Schmerz raste durch mich hindurch. Panisch schrie ich auf und versuchte verzweifelt meine Hand zu lösen, aber der Strom hatte meine Muskeln komplett unter Kontrolle, die nur wild hin und her zuckten, sich aber weigerten irgendwelche Befehle aus meinem Gehirn auszuführen. Dass hinter der Türe musste wirklich gefährlich sein, wenn es in meinem eigenen Geist eine solche Macht über mich hatte. Das war der letzte klare Gedanke, zu dem ich fähig war, dann begannen viele kleine silberne Punkte vor meinen Augen zu tanzen. Nein ich durfte nicht ohnmächtig werden! Was passierte, wenn ich in meinem Kopf starb, weil mich eine aggressive Türklinke gegrillt hatte?! Und warum konnte ich den Schmerz nicht abstellen? Dies war mein Kopf! Doch es war mir, als würde das etwas hinter der Tür nur höhnisch grinsen und als würde ich nicht schon genug leiden, fing das Zimmer plötzlich an sich zu drehen. Erst ganz langsam, dann immer schneller und ich, festgeklebt an der Türe wurde wild herumgeschleudert. So fühlte sich wohl ein Kuscheltier in der Waschmaschine, dachte ich und kniff verzweifelt die Augen zu. So fühlte ich nur noch, wie ich rotierte, was es zumindest halbwegs erträglich machte. Wenigstens spürte ich den Strom nicht mehr. Die Rotationen schienen mein Gehirn in Mitleidenschaft zu ziehen, wenn ich so einen Unsinn dachte. Missbilligend schüttelte ich den Kopf, was bei dem Schleudergang die wohl überhaupt dümmste Idee war. Sofort wurde mir richtig übel und wenn ich etwas gegessen hätte, dann hätte es schon den Weg nach oben gefunden. Und während ich noch versuchte mich nicht zu übergeben, tat es einen gewaltigen Ruck und plötzlich war alles stehen geblieben. Spielte mir der Dämon hinter der Türe einen Streich und wollte mir weiß machen, ich hätte ihn besiegt? Vorsichtig öffnete ich die Augen einen Spalt weit und linste zwischen den Wimpern hindurch. Vor mir waren die Umrisse einer Türe zu erkennen und ich stand offensichtlich aufrecht im Zimmer. WAS?! Die Türe war eben noch auf dem Boden gelegen. Erschrocken riss ich die Augen auf und blickte mich um. Das Zimmer hatte sich gedreht, der Boden war plötzlich zur Wand geworden und die Wände zu Decke und Boden. Über mir an der Decke klebte mein Kühlschrank, tief unter mir lag mein Sofa, auf der Rückwand. Alles sah wie einem sehr modernen Gemälde aus und ich war mittendrin. Meine Hand klebte immer noch auf der Klinke und ich schien mitten im nirgendwo zu schweben. Jetzt war ich froh, dass ich meine Hand nicht lösen konnte, sonst würde ich auf der Stelle einige Meter in die Tiefe stürzen. Vorhin hätte ich darüber gelacht, weil ich mir sicher war, dass mir in meinem eigenen Geist nichts passieren würde, doch so langsam war ich nicht mehr ganz überzeugt. Mein Blick wanderte über meine Hand, doch der Strom hatte keine Narben hinterlassen, meine Hand sah aus, als hätte ich mir das nur eingebildet und doch erkannte ich auf den zweiten Blick einen zartrosa Striemen, der aussah wie ein aufrechtes Dreieck wie der obere Zacken eines Pentagramms. Verwirrt blinzelte ich doch der Striemen blieb. Was auch immer das war ich wusste keine Antwort. Nur eins wusste ich. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Ich schickte den Befehl, die Klinke zu drücken, in meine Hand. Langsam, geschmeidig senkte sich die Türklinke und die Türe begann sich zu öffnen. Ein grelles Licht strahlte durch den Spalt, so dass ich überrascht die Augen zusammenkniff. Die Türe schwang auf und ich stolperte blind rückwärts, die Hand fest am Griff, aber die Luft, über die ich lief, fühlte sich an, wie ein fester Boden. Nachdem sich mein Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte, öffnete ich vorsichtig meine Augen. Gott sei Dank hatte ich die Tür direkt vor meinem Gesicht, denn das Licht, dass jetzt ungehindert ins Zimmer drang, war schon ziemlich schmerzhaft in meinen Augen. Doch jetzt hatte ich schon die Schmerzen überstanden, jetzt würde mich nichts mehr davon abhalten, zu erfahren, was hinter der Tür war. Vorsichtshalber schloss ich die Augen wieder und lief um die Türe herum auf die Öffnung zu. Die Hand von der Türklinke zu nehmen, wagte ich immer noch nicht. Das Innere meines Augenlides war fast weiß, wie wenn man mit geschlossenen Augen in die Sonne schaut. Konnte ich es wagen die Augen zu öffnen, oder würde ich auf der Stelle erblinden? Irgendwie schien das Licht zu pulsieren. Ich musste wissen, wo das Licht herkam, ich musste einfach. Ganz langsam, bereit es sofort wieder zuzukneifen, öffnete ich mein rechtes Auge. Wenn blind, dann wenigstens nur auf einem Auge. Auch wenn ich wohl schon halb verrückt war, für meine Neugier die Hälfte meines Augenlichts aufzugeben. Und was ich da sah war so unglaublich unwirklich und doch wunderschön, sodass ich unwillkürlich beide Augen aufriss.
Hinter der Türschwelle hörte der Boden auf und führte in eine unendliche Dunkelheit in deren Mitte eine blau-violette Kugel schwebte. Sie pulsierte in einer Art ewigem Rhythmus, wurde heller und schwächte sich wieder ab. Inmitten der Kugel befand sich ein heller Kern, der so viel Energie ausstrahlte, dass ich unwillkürlich erschauderte. Immer wieder spie er Energie aus, die in seltsamen Wolken um die Kugel herumschwebten. Ich war so fasziniert davon, dass fast vergaß zu atmen. Wie sich die Energie wohl anfühlte? Was?! Ich war doch verrückt! Dieses Ding verwirrte meinen Verstand. Wie konnte ich vergessen, dass mich es eben noch gegrillt hatte?
Doch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, was ich jetzt tun sollte, ruckte das Zimmer plötzlich, und ohne nachzudenken trat ich einen Schritt vorwärts um mein Gleichgewicht zu halten. Im gleichen Augenblick fiel ich schon in die Tiefe, der Dunkelheit entgegen, immer tiefer immer schneller, irgendwo über mir die Kugel. Doch das Fallen fühlte sich nicht wie ein Fallen an, eher wie das seltsame Schweben vorhin an der Türe. Prüfend hob ich den Kopf, um an der Größe der Kugel zu sehen, wie weit ich bereits gefallen war. Die Kugel schwebte wie ein großer seltsamer Mond über mir, viel größer als ich es erwartet hatte. Und sie wurde stetig größer. Moment, saugte mich die Kugel etwa an?! Warum ich sie vorhin wunderschön gefunden hatte, wusste ich schon nicht mehr. Jetzt wirkte sie nur bedrohlich. Strampelnd und rudernd versuchte ich mich von ihr wegzubewegen, übte mich in unbeholfenen Schwimmbewegungen, doch wie als würde jemand an einem unsichtbaren Faden ziehen, kam ich langsam und stetig auf sie zu. Bald würde ich in den Rand dieser seltsamen lila Wolken kommen. Ob sie heiß waren? Würde ich verbrennen oder eher erfrieren? Möglicherweise waren es auch giftige Dämpfe und ich würde jämmerlich ersticken. Ich konnte nicht richtig einschätzen, was mich da erwartete, aber wenn ich mir die Möglichkeiten ausmalte, wollte ich es lieber überhaupt nicht wissen. Als ich die Nebelwand erreichte, glühte der Kern auf und stieß mir eine dunkelviolette Wolke entgegen. Panisch zog ich meine Beine vor die Brust und bedeckte mit einer Hand Mund und Nase. Durch die Bewegung verlagerte sich mein Schwerpunkt und ich rollte auf den Rücken. Kalter Angstschweiß brach auf meiner Stirn aus. Ich fühlte mich wie ein hilfloser Käfer, der nicht wieder auf die Beine kam. Langsam wurde die Luft knapp. Jetzt müsste mich die Wolke doch erreicht haben. Entschlossen schlug ich die Augen auf und erkannte: Ich war bereits mittendrin. Nun blieben mir zwei Möglichkeiten, atmen oder nicht? Wie gut standen die Chancen, dass ich hier wieder heil rauskam? Wenn ich nicht atmete, würde ich bewusstlos werden, wenn ich atmete, möglicherweise vergiftet und dann bewusstlos. Das waren aber tolle Aussichten. Der Gedanke daran, dass Chris womöglich schon vor meiner Haustüre stand, rückte plötzlich in mein Bewusstsein. Aber nein, er wusste ja nicht einmal wo ich wohnte. Vielleicht rief er in meinen Gedanken nach mir? Hier schien ich ihn jedenfalls nicht zu hören. Wo war eigentlich die Türe, über welche ich hier reingeraten war? Suchend blickte mich um, aber entweder hatte sie sich geschlossen, und war wieder unsichtbar geworden oder sie konnte sich einfach nur verdammt gut tarnen. Ich schnaubte. Innerlich verfluchte ich mich für meine Neugier. Warum hatte ich nur diese dämliche Türklinke anfassen müssen, nein, warum hatte ich überhaupt nach weiteren Klinken gesucht. War der Schrank nicht schon unglaublich genug? Ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken, holte ich schließlich Luft. Ein vertrauter Duft stieg mir in die Nase und sofort traten Chris und die Türklinke in weite Ferne. Ich roch Flieder, ja, genauso roch es bei uns, wenn mein Vater im Frühjahr einige Fliederäste abschnitt und sie in eine Vase auf den Küchentisch stellte. Wie ich diesen Geruch liebte. Aber aus welchem unlogischen Grund roch es hier in dieser Blase nach Flieder. Soweit ich es erkennen konnte, war hier weit und breit kein einziger Busch zu sehen. Wollte die Kugel mich in Sicherheit wiegen? Aber wozu? Irgendwie konnte ich mit meinem Verstand nicht mehr nachvollziehen, was hier vor sich ging. Und doch zeigte der Geruch seine Wirkung. Mein Argwohn legte sich und ich begann direkt mich wohlzufühlen, obwohl mein Gehirn aufs heftigste dagegen protestierte. Ich würde jetzt einfach aufgeben, mich zu wehren und abwarten, denn bisher hatte ich nie nur den geringsten Erfolg gehabt mit meinem Widerstand von der Türklinke bis jetzt. In diesem Augenblick begann ich zu beschleunigen, es wurde immer wärmer, als ich auf die Kugel förmlich zuraste. Als ich durch die äußere Hülle drang, stieß der Kern erneut eine riesige Ladung blau wabernde Masse aus. In der Kugel war es gemütlich warm und es roch immer noch nach Flieder. Vielleicht sogar etwas intensiver als außerhalb. Wieder stieg ich weiter auf, näher auf den glühenden Kern. Kam es mir nur so vor, oder wurde er immer heller? Jetzt fing er sogar seltsam zu pochen an oder täuschte ich mich?
In dem Moment, als ich die Hülle des Kerns berührte, strahlte er hell auf und ich war in einer gleißenden Lichtkugel gefangen. War ich blind geworden? Plötzlich tauchte vor mir ein Bild auf. Schwach, verschwommen. Ein kläglich hoher Schrei durchbrach die Stille. Da merkte ich erst, dass es die ganze Zeit über still wie in einem Grab gewesen war. Daraufhin fingen schwarze Rauchwolken sich in der Hülle des Kerns auszubreiten und ein scharfer Schmerz schoss in meinen Kopf. Nein, bitte nicht schon wieder, dachte ich und keuchte schmerzerfüllt auf. Doch was auch immer das war, es schien mich nicht quälen zu wollen. Ein Summen, fast wie das Schnurren einer Katze, ertönte und der Rauch färbte sich plötzlich rot. Aus den Nebelschwaden tauchte ein Bild von Chris auf, er grinste und zwinkerte mir zu. Das Rot wurde zu einem hellen Blau, Chris Bild veränderte sich, die Gesichtszüge wurden noch härter und männlicher, falls das möglich war, die Haare etwas länger und dunkelblond und aus den strahlend blauen Augen wurden grüne. Wer war das? Ich wurde das Gefühl nicht los, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Doch bevor ich mir das Bild richtig einprägen konnte, veränderte es sich. erneut. Violett-gelbe Fasern strömten durch die Hülle und ein Bild von Chris und mir, Arm in Arm erschien. Sofort veränderte es sich wieder, wurde noch einmal rot und Chris und ich flossen zusammen. Daraus entstand ein neuer Körper: Breit gebaut, dunkelbraune, fast schwarze kurze Haare, tiefbraune Augen. Mein Gegenüber wirkte grimmig, fast bösartig. Immer schneller veränderten sich die Bilder. Jetzt blickte ich in das lachende Gesicht eines blonden, hübschen Mädchens, das beinahe Chris Schwester hätte sein können. Auch sie kam mir so unglaublich bekannt vor und - das war doch Lotte? Oder etwa nicht? Nein... sie war zu alt. Und erneut veränderte sich das Bild. Blaue Nebelschwaden erschienen, ein Bild von einem braunhaarigen Mädchen blitzte auf, sofort leuchteten alle diese Farben auf einmal und die Kugel schien förmlich zu glühen. Dann wie durch einen Windstoß, der eine Kerze ausbläst, wurde es plötzlich dunkel. Fünf Sterne brachen aus der Dunkelheit und ein goldenes Band verwob sie zu einem fünfzackigen Stern, einem Pentagramm. Es tat einen Ruck, ich knallte mit dem Kopf an etwas hartes, in meiner Nähe erschien ein helles Rechteck, bewegte mich darauf zu und mit einem saugenden Schmatzen flog ich in hohem Bogen zurück in mein Zimmer, das immer noch kopfstand. Ich rollte unkontrolliert über den Boden, stieß mich am Wohnzimmertisch, vor mir klaffte die Türe Reality auf. Zumindest hoffte ich inständig, dass es sie war. Einen letzten Blick warf ich zu dem Loch, sah dass die Kugel wieder hell erstrahlte. Mit einem lauten Knall flog die Türe zu, fügte sich wieder unsichtbar in den Boden ein und als die Türklinke mit einem metallischen Klingen wie ein Luftballon platzte und in lauter silberne Funken zerstob, fiel ich durch die Türe, atmete scharf ein und riss die Augen auf. Ich war wieder da.

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Hallo, ihr Lieben

als nachweihnachtliches Geschenk sozusagen, das nächste Kapitel. Jede Art von Kommentar, ob Kritik oder Lob sind gerne erwünscht. :)

Wer von euch Korrektur lesen möchte, kann mir gerne eine Nachricht hier auf bookrix oder eine Email schicken an Michaela.Tunik-Brecht@web.de und ich leite euch die Datei weiter.
Wenn ihr tolle Cover erstellen könnt, dann meldet euch bitte. Ich möchte Mindstalker zum letzten Kapitel noch ein neues Äußeres verpassen. Freue mich auf jede Nachricht.

In den nächsten beiden Wochen müsste ich selbst dann auch zum Lektorat kommen.

Liebe Grüße
Mela

Impressum

Texte: Michaela Tunik-Brecht
Bildmaterialien: teetrinkerin
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für den wichtigsten Mann in meinem Leben.

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