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Der Spiegel


Jede Nacht träumte ich davon. Seit zwei Jahren. Jede verdammte Nacht, träumte ich, dass er zu mir kommt. Zu mir, dem Jungen mit den seltsamen Augen.
Schon seit dem Kindergarten wurde ich so genannt. Der Grund dafür, ist ein Gendefekt. Ein Defekt, der mich zum Außenseiter macht, zum Freak, zum Monster. Nur weil ich ein graues und ein rotes Auge besitze...
Es ist unnormal. Und Menschen fürchten sich vor unnormalen Sachen, lehnen es ab oder machen sich darüber lustig.
Am Anfang der Mittelschule, hatte ich versucht, diesen Schandfleck unter meinen braunen Haaren zu verbergen. Mich vor den starrenden Blicken zu verstecken.
Doch es dauerte nicht lange, bis es die ersten bemerkten, mich darauf ansprachen. Ich wollte nicht auf die Fragen antworten, die sie mir stellten. So oft wurde ich schon danach gefragt. Über alles hätte ich mit ihnen geredet. Aber es ging immer nur um meine Augen, um das eine rote Auge...
Das einzige, was sie interessierte, das einzige was sie an mir sahen.
Nur er war anders.
Jede Nacht, fand ich mich in der Eingangshalle unserer Schule wieder. Jedesmal träumte ich von dem alten Spiegel der dort hing. Ich sah hinein, doch erblickte ich nie mich. Nur eine finstere Schattengestalt, die das gegenpaar meiner Augen besaß.
In den ersten Nächten, bin ich schweißgebadet in meinem Bett aufgewacht. Mit vor schrecken rasendem Puls.
Ich tat es als bösen Traum ab, doch es hörte nicht auf. Mit jedem Traum kam der Schatten näher, kam aus dem Spiegel. Bis er schließlich irgendwann direkt vor mir stand. Schemenhaft konnte ich sein Gesicht in der Finsternis erkennen. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Erst da merkte ich, dass ich vor ihm keine angst haben brauchte.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihn, bis ich mich schon fast freute, wieder von ihm träumen zu können.
Dann saßen wir beide einfach nur vor dem Spiegel und unterhielten uns über Gott und die Welt. Seine Stimme war so sanft und beruhigend. Ich liebte es einfach, auch wenn es nur ein Traum war, den sich mein Kopf aus Einsamkeit und Wunschdenken zusammenreimte.
So war es auch heute. Ich schloss meine Augen und in wenigen Minuten war ich wieder bei ihm. Wie immer saßen wir vor dem Spiegel, doch diesmal schwiegen wir. Was war los? Er sah mich nur an, mit dem gegenpaar meiner Augen.
Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Das war das letzte mal. Das letzte mal das wir uns begegnen würden, schoss es mir durch den Kopf.
Ein letztes undeutbares Lächeln auf seinen Lippen und eine kalte Hand die über meinen Haarschopf strich. Dann zersprang er, der Spiegel und viele spitze Scherben prasselten auf mich herunter. Der Schatten war weg. Es schmerzte.
An diesem Morgen wachte ich viel zu spät auf. Es war schon hell und die Schule hatte schon seit einer Stunde angefangen. Ich fühlte mich schlecht. Würde ich jetzt nie wieder von ihm träumen?
Die Treppen erschienen mir heute steiler und der Schulweg länger als sonst. Ich sollte mich nicht von einem Traum so vereinnahmen lassen!
Doch als ich die Scherben in der Eingangshalle der Schule sah, zog sich alles in mir zusammen.
Langsam hockte ich mich nieder und nahm vorsichtig eine der großen Scherben in die Hand. Ich erblickte mein Gesicht und stockte. Grau. Sie waren beide grau. Wie konnte das sein?
In dem Moment erschien neben meinem paar Augen noch ein Zweites.
Rotbraun...
"Hey, sei vorsichtig, sonnst schneidest du dich noch."
Ich drehte mich erschrocken um und erblickte einen freundlich lächelnden, blonden Jungen in meinem Alter.
"Ich bin da irgendwie dran gestoßen und....wär nett, wenn du keinem erzählst, dass du mich hier gesehen hast."
Ich verstand die Welt nicht mehr. Es war unmöglich, aber diese Stimme...
Ich starrte ihn einfach nur ungläubig an.
"Aber vielleicht solltest du auch lieber von hier verschwinden bevor- Oha! Da kommt jemand!"
Hecktisch packte er mein Handgelenk und rannte mit mir aus dem Schulgebäude.
Irgendwo in der Innenstadt kamen wir zum stehen. Sein vergnügtes Lachen war mir so bekannt...
Meine Gedanken flogen wild umher und fanden keine sinnvolle Antwort.
An diesem Tag gingen wir nicht mehr in die Schule zurück. Wir setzten uns in einen Park und redeten über Gott und die Welt, wie als würden wir uns schon ewig kennen. Ich vergas sogar die Frage, warum mein linkes Auge nicht mehr rot war...

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Tag der Veröffentlichung: 02.08.2010

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