1. Geschichte
"Kette"
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Die Gegend ist ziemlich ausgelutscht und öde. Ich empfinde es besonders so, weil ich mich auf nichts anderes fixiere als auf diese Gegend, von der ich das Vorbeigegangene noch ein mal schön beobachten kann, am besten beim Anhalten an einer Station; kurz: Ich fahre rückwärts. Diese Sicht beim Anhalten wird dann zwar durch die ein- und aussteigenden Fahrgäste eingeschränkt, doch das stört mich recht wenig. Auch mit Menschen habe ich etwas zu schauen, auch wenn mich diese nicht so sehr interessieren.
Ich,übrigens, fahre schon dreieinhalb Stunden mit diesem Zug, irgendetwas mit RE und einer vierstelligen Ziffer dahinter. Bis jetzt ist mir stinklangweilig, da ich mein Buch daheim habe liegen lassen und sonst keinen Beschäftigungen nachgehen kann, die ich in meiner Freizeit � wenn mal welche übrig bleibt � normalerweise nachgehe. Nervös und sauer über das vergessene Buch, streiche ich am kleinen Goldkettchen entlang, dass ich schon trage, seit ich elf bin. Oder so. Jedenfalls schon lange. Es ist... okay, nicht ein Teil von mir, aber es hat eine gewisse Bedeutung. Denke ich mal. Alte Dinge haben immer ihre Bedeutung. Und dieses alte Ding ist sowieso schon älter als ich es bin, da es von meiner Oma ist. Ja, Oma, denn Großmutter hört sich doof an. Sie hat mir das eines Abends bei einem der normalen drei-Stunden-Besuche, die ungefähr zwei mal im Jahr stattfanden, hingeklatscht und gemeint: �Hier. Gefällt dir das? Dann nimm's.� - und ist gegangen. Trotzdem ist es ein schönes goldenes Kettchen, das man stolz herumzeigen und dazu genauso stolz sagen kann: �DAS! Das habe ich von meiner Oma bekommen, als ich elf Jahre alt war!� Zwar unter beschissenen Umständen, aber das muss ja keiner wissen. Ich habe meinen geraden Zähne auch nicht von Natur aus, trotzdem will keiner wissen, unter welche Umständen sie gerade geworden sind, oder?
Während ich in Gedanken vor mich herphilosophiere, von wegen 'Hätte ich eine bessere Oma gehabt als die, die ich hatte.', setzt sich ein junger Mann vor mich, mich wie jeden Fahrgast erst ignorierend, um mich dann, wenn ich vermeintlich beschäftigt bin oder woanders hinschaue, skeptisch zu taxieren und herablassend in eine Schublade zu stecken. Seltsam, dass Menschen von anderen erst immer erwas niederes erwarten, als sie es sind, schießt es mir unerwartet durch den Kopf, lasse den Gedanken aber fallen. Dieser Mann kommt mir nämlich bekannt vor. Sogar verdammt bekannt.
�Sag mal, Norman.�, spreche ich ihn an und grinse ihn wissend an. Ein ziemlich verwirrter Gesichtsausdruck wird von mir registriert, als er endlich aufschaut. �Sollte ich Sie kennen?�, fragt er irritiert.
�Nun ja, wenn du deinen besten Freund seit der Mittelschule einfach nicht mehr kennst, bin ich schon beleidigt.�, meine ich, als wäre ich schon mitten im Gespräch. Ein großes Paar Augen heftet sich an mein Gesicht, dann wird sein Ausdruck heller. �Jonnes!�, sagt er verstehend, �Meine Güte, hast du dich verändert!�
Jonnes. Gab es nicht einen der alten Klassenkameraden, der diesen Spitznamen nicht mehr kannte? Jonnes, pfh. Dieser blöde Name ist an mir heften geblieben, als ich mich auf einer Party einem Mädchen vorstellen wollte, und das sturzbetrunken. Kurzerhand stellte ich mich als �Chhhrallo!IcheißeJonnes!� vor, obwohl ich eigentlich Johannes heiße. Lustig, lustig. Ein Schenkelklopfer für Beinlose, wie mein geistig minderbemittelter Bruder sagen würde. ...oder eher nicht, er würde es auch lustig finden.
�Iiijah.�, meine ich deswegen gedehnt, �Genau. Verändert haben wir uns alle, nicht?� Seit ich Denken kann liegt mir Smalltalk nicht. Aber egal.
�Also ich kenne sehr, sehr wenige, die sich nicht verändert haben.�, stimmt er mir zu. Und damit ist das Gespräch beendet, oder was? Okay, zu früh gefreut.
�Das war lustig, nich'? Auf der Party mit dem Mädel.� Mein Gegenüber lacht in sich hinein, während ich wieder mit der Kette spiele, aus meiner Genervtheit heraus, an diese Situation erinnert zu werden, was sowieso unfassbar ist, schließlich war ich betrunken wie sonst was, aber von Blackout keine Spur, und genervt von der Tatsache, dass er Mädel gesagt hatte. Ich hasse dieses Wort.
�Ja, sehr lustig.�, entgegne ich, ein wenig meiner Genervtheit in meine Stimme legend. Vielleicht bemerkt er ja, dass ich über dieses Thema nicht reden will.
�Ja ja.�, lacht Norman, �Unser Jonnes. War immer für Alkohol zu haben, nicht?� Er hat es nicht bemerkt. Was erwarte ich auch.
Unruhig verfolge ich seine Augen, die zu meiner linken Hand, die immer noch mit der Kette herumspielt, wandern. 'Als wäre ich ein Mädchen.', denke ich und lasse von ihr. Schließlich will ich nicht, dass ich am Ende von einem Mann begehrt werde. Das bringt mich nun zum Grinsen und natürlich bemerkt Mister Scharfsinnig dies sofort. Er nickt vielsagend zu mir, mit seinen Augen auf der Kette, dann wieder auf mir. �Hast ja immer noch die Kette.�
Scharfsinning, nicht? Habe ich es nicht gesagt?
�Gut bemerkt.�, lobe ich ihn, auch wenn er es wohl nicht als Lob aufnimmt. Warum habe ich ihn noch mal angesprochen? Ach ja. Ich habe keine Ahnung. �Die trage ich schließlich schon lange.�
�Warum eigentlich?�, fragt er mich. Verdutzt schaue ich ihn an. Also wow. So eine Frage habe ich nicht aus seinem Mund erwartet. Aber gute Frage.
�Nun.�, fange ich meine Begründung an und denke über die Gründe nach, die mir vorhin in den Sinn kamen. Ah, so war das.
�Ich war schon als Kind neidisch auf die, die Schmuckstücke mit in die Schule brachten und stolz meinten: 'Das habe ich von meiner Omi gekriegt!'� - Omi, da kleines Kind, okay? - �Und ich hatte nie etwas. Ich habe mich dann unheimlich gefreut, als mir meine Großmutter endlich etwas schenkte.�
Ratlos schenke ich meinem Gesprächspartner ein Schulterzucken.
�Vielleicht weil es alt ist. So einfach legt man das Ding nicht ab.�
Wie verstehend nickt er dazu und fragt: �Also hast du es nur zum Angeben? Zum Herumerzählen, dass du etwas von deiner Oma geschenkt bekommen hast?�
�Nun... ja.�, bestätige ich. Irgendwo hat er Recht. Oder? Moment. Er hat sogar ziemlich Recht.
�Was bringt es dir dann? Du arbeitest doch, wie ich an deiner Kleidung sehe, da wirst du wohl besseres zu bieten haben als eine schnöde alte Kette!�
Das gibt mir zu denken. Und ich bin erstaunt über die Tatsache, dass mich etwas, was Norman Stein gesagt hatte, zu denken gibt. Er hat nämlich verdammt noch mal Recht. Ich arbeite, kann mir eine schnieke Wohnung leisten und auch ein paar Luxusutensilien, wenn ich wollte. Morgen könnte ich sagen: �Also, ich habe einen großen Breitbildfernseher! Brandneu, und wow, was für ein Bild!� - Auch wenn ich das Bild dieser beschissenen neues Bildschirme zum Kotzen finde. Aber das sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall könnte ich am selben Nachmittag einen holen und in meine Wohnung stellen, um es ihnen zu beweisen. Aber da ich sowieso kein Fernseher schaue, kann mir das egal sein.
�Okay.�, meint Norman plötzlich, �Ich muss hier raus. Schönen Abend noch. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder!�
�Jup.�, antworte ich darauf und denke: 'Hoffentlich nicht.'
Zwei Haltestellen und tausend Gedanken weiter, stelle ich fest, dass auch meine Reise nun zu Ende ist. Jedenfalls der erste Teil. Und der zweite folgt sogleich, wie Wilhelm Busch so schön schrieb. Mein Anschlusszug wartet schließlich nicht auf mich.
Am Bahnsteig angekommen � das dauert ein wenig, wegen den drängenden Businessleuten, zu denen ich eigentlich auch zählen sollte, aber ich bin nun mal nicht drängend � wandert automatisch mein linker Zeigefinger zu meiner Kette. Kurz denke ich an die Worte Norman Steins und muss darüber lächeln.
Mit einem Ruck ist die Kette kaputt, das kleine goldene Kreuz fällt so leise wie eine Sticknadel zu Boden. Diese trete ich in die Luke zwischen Zug und Bahnsteig, so dass es nun auf den Gleisen herumfliegen sollte. Dorthin befördere ich auch das goldene Kettchen. Nun sind sie wenigstens nicht ganz getrennt.
Kopfschüttelnd nehme ich meinen Koffer und trage ihn von Gleis fünf, wo ich ankam, zu Gleis zwei. Mein Anschlusszug ist noch nicht da, und so setze ich mich auf den Koffer, wartend.
Meine Hand wandert zu meinem Hals und spürt nichts als den unangenehmen Kragen des Hemdes.
Das habe ich nun davon.
2. Geschichte
"Unterführung"
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Stell' dir vor: Eine Treppe in einer Großstadt, die zur U-Bahn führt. Die Treppe ist lang und geht tief nach unten. Zwischen jeder zwölften oder dreizehnten Treppenstufe ist eine große Stufe, Platz zum Sitzen für Obdachlose oder Bettler. Hier sitze auch ich. Doch ich sitze hier nicht, weil ich arm bin oder kein Dach über den Kopf habe, sondern weil es mir gerade sehr schlecht geht. Meine Hand wandert zum Handgelenk der anderen und prüft den Puls. Ein bisschen schwach, doch es geht.
Seufzend schaue ich mich um. Das Wetter ist normal, der Himmel grau, ein starker Wind spielt Besen und treibt die Blätter zusammen, die von den Bäumen kommen, die nur in der Stadt stehen, um ein bisschen grün 'reinzubringen. Das Grau der Stadt lässt diese jedoch untergehen.
Ich lasse meinen Kopf an die Wand dotzen, an der ich sitze, und schaue auf. Ein wenig dreht es sich in meinen Augenwinkeln, so dass ich mehr blinzle als sonst. Als es vorbei ist, schaue ich die Menschen an, die ohne diese Treppe zu beachten am Eingang der U-Bahn vorbeigehen. Viele sehen aus, als wären sie in Eile, einige sehen sehr lustlos aus, wieder andere sind in Grüppchen und kichern.
Wieder schließe ich meine Augen, bis ich ein Knistern höre. Schnell verknüpfen sich meine Gedanken zu einer Kette, deren Ende meine Vermutung bildet: Zwei Plastiktüten in den Händen zweier Menschen.
Langsam öffne ich meine Augen wieder. Die Wolken haben sich etwas gelockert, die Sonne erhellt das ganze, so dass es länger braucht, bis sich meine Augen an die ungewohnte Helligkeit gewöhnt haben.
Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, setzen sich vier oder fünf Stufen höher, als ich sitze. Von ihrem Aussehen her sind sie wohl ohne ein Zuhause.
Die Frau hat eine bunte, gestrickte Mütze auf, unter der lange, sehr strubbelige braune Haare hervorkriechen, die sich um ihr durch das Leben auf der Straße gekennzeichnetes Gesicht schlingen. Sie sieht aus wie sechzig, aber ich weiß, dass sie vielleicht gerade mal Mitte vierzig ist. Ein brauner Mantel hängt von ihren Schultern herab, unter dem sich eine Strickjacke zeigt. Eine alte Jeans umschwirrt im Wind ihre Beine. Was nicht sofort auffällt, ist ihr blasses Gesicht. Es ist nicht nur blass, sondern weiß. Wirklich weiß. Es könnte auch am Wetter liegen, oder am seltsamen Licht, das um diese Zeit des Tages � kurz vor Sonnenuntergang � in der Stadt ist. Sie sieht aus, als wäre sie schon tot.
Der Mann sieht etwas besser aus. Auch er ist blass, aber wenigstens kann ich etwas Hautfarbe erkennen. Sein Gesicht, das sich unter seinem grauen kurzen Haaren erstreckt, ist sehr faltig. Er ist wohl tatsächlich schon um die sechzig.
Auch seine Kleidung ist um einiges besser. Er trägt einen schwarzen Anzug, darunter ein � gut, zugegeben, graues Hemd, das mal weiß gewesen sein musste. Die obligatorische Krawatte ist gelockert und hängt wie eine Kette um seinen Hals. Er sitzt da, seine Füße eine Treppenstufe unter ihm gestützt, so dass er seine Arme auf sie platzieren kann. Sein Blick ist auf seine Hände gerichtet. Oder auch nicht. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich, wie matt seine Augen sind. Vielleicht ist er blind.
Stumm sitzen sie da und lassen die Umgebung sein, wie sie ist. Sie schreien gerade zu danach, nicht beachtet zu werden, was ihre Intention nicht unterstützt.
So wie es aussieht, hatten sie nur nach einer Möglichkeit zum Sitzen gesucht. Die Wolken am Himmel sehen nicht so aus, als würde es gleich regnen, sonst hätten sie sich wohl ein paar Stufen unter mich gesetzt, nicht umgekehrt.
Am liebsten würde ich meinen mp3-Player aus meiner Hosentasche wühlen, doch ich beschließe sowieso gleich weiterzugehen. Mein Kopf hat sich beruhigt, mein Puls ist auch normal, vielleicht nur ein leichter Schwächeanfall. Das ist ja nichts neues bei mir.
Plötzlich öffnet die Frau ihren Mund, was mich erstarren lässt. Wie mag sich wohl die Stimme einer solchen Frau anhören? Doch sie klappt ihn wieder zu. Ich denke mir, dass ihre Zähne auch nicht die besten sind und freue mich kurz, dass zum Glück niemand meine Gedanken lesen kann. Wie viele Feinde ich heute dadurch schon hätte will ich nicht wissen.
Ihre Augen suchen nach etwas. Ihr Körper ist regungslos, nur ihre Augen huschen hin und her, dann beruhigen sie sich wieder. Nun öffnet sie ihren Mund zum Reden.
�Krebs.�, sagt sie.
Der Mann nickt.
3. Geschichte
"Das rote Sofa"
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Lustlos tappe ich in meiner Wohnung herum, Kugeln aus zusammengeknüllten Papier vor mich her kickend. Verdammt, ich kann nicht mehr schreiben. Keine Ideen kommen in meinen Kopf, ich habe keinen Drang, einen Stift in die Hand zu nehmen und einfach drauf loszuschreiben. Wenn ich mal Ideen habe, sind sie mir zu banal, oder zu kindisch, oder, oder, oder. Das nervt mich. Genauso lustlos setze ich mich auf die Fensterbank. Nun sitze ich hoch über einer Stadt, aus einem Fenster lasse ich meine Beine baumeln, während mein Oberkörper noch im Raum ist, und zwar auf der Fensterbank. Ich schaue aus dem Fenster, oder eher die Fenster, meiner Nachbarn, mit denen ich noch nie geredet habe. Es sind eben Hochhäuser, nur Menschen, die viel Zeit haben, oder schon lange in diesen Häusern und der Nachbarschaft wohnen, wissen, wer wo lebt. Es ist mir jedoch im Grunde egal, wer wo lebt, ich beobachte sie nur gerne und kann sogar fast den Verlauf der Beziehung des Pärchens, das im Hochhaus gegenüber von mir wohnt, chronologisch aufzählen. Ich hab ihren Einzug miterlebt, die Hochzeit und den Anfang der Hochzeitsnacht (das Ende war wohl im Schlafzimmer, das im hinteren Teil der Wohnung liegt), wie sie ihn nach fünf Monaten betrogen hat, da er nie da ist, was ich übrigens bestätigen kann, und seine Reaktion.
Die sehe ich grade. Nach ein paar Tagen seiner Abwesenheit, die sie gut genutzt hat, soviel ich mitbekam, ist er nun wieder hier und bemerkte � klischeemäßig � fremde Männersachen zwischen den Matratzen. Das interpretiere ich mal aus den Boxershorts, die er wütend durch die Gegend schwingt und dem geschockten Ausdruck der Frau. Faszinierend, wie sie sich streiten - vor einem Fenster, durch das man offensichtlich schauen kann. Zugegeben, sie können mich nicht sehen, da ihres ein wenig weiter oben liegt als meins und wer schaut schon, während er mit seinem Ehepartner einen deftige Auseinandersetzung hat, aus dem Fenster und auch noch nach unten? Außerdem könnte ich so tun, als hätte ich sie nicht beobachtet. Wer will es beweisen?
Während ich darüber nachdenke, nimmt der Mann den Fernseher, der von mir aus links an der Wand steht, in einem dafür vorgesehenen, schnieken Fernsehschrank. Wütend schmettert er ihn auf den Boden, die Frau schreit auf, was man bis zu mir hört. Dann fängt das Gezeter ihrerseits an. Sie fängt an zu heulen und zu schreien, auch er schreit. Ich höre ihre Stimmen, jedoch höre ich nicht, was sie sagen. Eigentlich hasse ich das, ich werde unruhig und kann mich nicht mehr konzentrieren, weil ich unbedingt meine Gedanken auf das Gesagte wenden muss, das ich nicht verstehe.
Egal.
Jedenfalls knallt er grade die Wohnzimmertür hinter sich zu und sie setzt sich auf das große weiße Sofa, das vor dem Schrank und nun auch vor dem kaputten Fernseher steht. Schon will ich meine Beine wieder ins Zimmer schwingen, als ich aus dem Augenwinkel sehe, dass die Wohnzimmertür wieder aufgeht. Der Mann steht da, ein Messer in der Hand. Seinen Blick kann ich nicht beschreiben. Dann fängt er an, auf sie einzustechen, mehrere Male, dann geht er wieder raus.
Das Licht war und ist aus.
Es stehen Blumen im Fenster, frische Blumen, so wie es aussieht, oder Kunstblumen. Im Hintergrund sieht man die Silhouette der Frau auf dem Sofa liegen. Ich hebe eine Augenbraue und beobachte gespannt die Tür, in der Erwartung, dass sie noch mal aufgeht.
Gelangweilt schaue ich zur Straße hinunter und sehe kleine Autos herumfahren. Und kleine Menschen herumlaufen. Und Lichter blinken. Außerdem höre ich Menschen streiten, in vielen verschiedenen Sprachen.
Können sich Menschen nur streiten?
Das Licht geht wieder an, der Mann ist befreit vom Blut seiner Frau. Nervös läuft er im Wohnzimmer herum, verrückt Dinge und starrt dann einige Sekunden auf den Fernseher, dann auf seine Frau.
Er setzt die Frau auf, oder eher ihren Körper, ist ein toter Mensch noch ein Mensch?, und er selbst setzt sich neben sie. Umarmt sie, als wäre nichts gewesen. Tief in mir weiß ich, dass er weiß, dass er beobachtet wird. Sein Blick blitzt dauernd aus dem Fenster, er sieht mich jedoch nicht.
Als wäre nichts gewesen.
Sein Mund bewegt sich, zu wem redet er? Mit seiner Frau, oder mit dem Fernseher, oder mit sich selbst. Er lügt sich selbst an, denke ich, seine Frau lebt nicht mehr.
�Er und sie auf dem neuen, roten Sofa.�, denke ich.
4. Geschichte
"Straßen"
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Gerade als ich anfangen wollte etwas zu sagen, fährt ein Auto an uns vorbei. Jetzt habe ich keine Lust mehr. Das Auto hat die Atmosphäre zerstört.
Also stehen wir weiter stumm am Geländer der Brücke herum und warten auf den passenden Augenblick. Irgendwann musste es doch soweit sein. Wenn nicht heute, dann eben ein andermal.
Wir waren uns so sicher.
�Chris?�, fragt die ängstliche Stimme neben mir. Ich antworte erst mal nicht. Viel lieber denke ich darüber nach, warum er dachte, dass die Abkürzung meines Namens Englisch ausgesprochen wurde. Er hat dies schon immer getan, so ist es nicht.
�Hm?�, mache ich dann.
Wir schauen uns nicht an, im Gegenteil. Starr blicken wir auf die Straße, die vor uns liegt. Auf einer Brücke zu stehen, an einer nicht viel befahrenen Brücke zu stehen, nachts. Ohne irgendwelche Lampen, die erst am Anfang des Dorfes aufgestellt worden waren. Es war schon faszinierend. Das einzige, was man sehen würde, sähe man uns, wäre wohl die klimmende Zigarette in meiner Hand.
Von weitem sehe ich schon wieder zwei kleine weiße Augen, die brummend auf uns zukommen.
�Jetzt?�, flüstert er. �Nein.�, antworte ich und wir sehen beide dem Auto hinterher. Es biegt links ab.
�Wohin er wohl fährt?�, fragt sich mein Partner, �Vielleicht nach Hause.�
�Vielleicht will er sich umbringen.�, werfe ich ein, �Wie wir. Vielleicht wird morgen in der Zeitung stehen, dass ein Auto im See gefunden wurde. Und dass zwei Jungen sich haben umfahren lassen.�
Ich sehe seinen Blick nicht, doch ich kenne diesen Menschen. Wahrscheinlich schaut er zu mir, sein Mund halb geöffnet, seine Augen mustern mich erschrocken.
Grinsend fahre ich durch seine kurzen Haare.
�Nein.�, sage ich dann, �Du hast wahrscheinlich recht. Er fährt nach Hause.�
�Zu seiner Frau. Und seiner kleinen Tochter.�, fährt er fort, als hätte ich das vorhin nicht gesagt.
�Ja, und die schläft wahrscheinlich schon. Und er wird zu ihr gehen und ihr über den Kopf streichen und eine gute Nacht wünschen.�
�Dann geht er zu seiner Frau...�
�...und ignoriert sie.�
�Oder wird emotionslos mit ihr schlafen.�
�Oder das.�
Wieder wird es still um uns. So still, wie es nachts auf einer Brücke, die zwischen einem Dorf und einem Wald liegt, eben sein kann. Ab und zu ist schon ein Rascheln im Gras zu hören. Aber es ist so, als ständen wir beide nicht hier. Die Natur ignoriert uns. Hier würde dasselbe passieren, wenn wir nicht hier wären. Das ist wirklich ein seltsames Gefühl, so unwichtig zu sein.
Schnell fische ich mein Handy aus meiner Tasche und schaue nach der Uhrzeit. Es ist kurz nach Mitternacht.
�Muss ein Workaholic gewesen sein.�, sage ich plötzlich, �Nur Workaholics kommen so spät von der Arbeit.�
�Oder er hat eine Geliebte und betrügt seine Frau...�, flüstert er, �Und erzählt ihr, wie in den ganzen Klischees, dass er länger bei der Arbeit bleiben musste.
So leise wie es geht seufze ich auf, aber es muss sein. Irgendwann stört dieses Denken sogar mich.
Ein weiterer Blick auf die Uhr verrät mir, dass es zu spät ist.
�Gehen wir zu mir, Jonas?�, frage ich ihn, während ich meine Zigarette auf den Boden werfe und zertrete. Er schläft gerne bei mir, das weiß ich. Manchmal ist es sogar notwendig. Zum Glück ist mein Zimmer groß genug.
Als Antwort stellt er sich näher zu mir und legt nach ein paar Sekunden seinen Kopf an meine Schulter. Ohne noch etwas zu sagen lege ich einen Arm um ihn und wir gehen los.
5. Geschichte
Die Liebe, die Liebe...
(Warnung, Kinder unter 16, es kommt sechs mal das böse f-Wort vor!)
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„Es gibt keine Liebe.“
Robin musste lachen. Was für ein Blödsinn, zumindest wenn es um eine Form der Philosophie ging, die besagte, dass alles, was einen Namen hat existiert. Also musste Liebe demnach existieren, auch wenn diese Philosophie an sich schon Blödsinn war.
Es war wieder einer dieser Samstage, die er gerne damit verbachte mal aus dem Haus zu kommen. Den ganzen Tag nur herumzusitzen brachte er nicht fertig, warum also nicht die eigenen vier Wände verlassen und in die nächstgelegende schäbige Bar gehen? Alkohol ist Alkohol.
Dieses mal hatte er das Glück zum Alkoholkonsum noch eine Bekanntschaft gemacht zu haben, mit der er sich grade unterhielt. Da er schon angetrunken war und zur Zeit niemand anderen als Lighty im Kopf hatte, schwallte er seinem unfreiwilligen Publikum eben etwas über ihn vor. Unfreiwillig, nun gut, das war Interpretationssache, schließlich könnte der Typ sich einfach umdrehen und ihn den Rest des Abends ignorieren. Das hätte Robin auch nicht gestört, weiterreden kann er auch ohne Publikum.
„Natürlich gibt es Liebe.“, erwiderte Robin nachdem er fertiggelacht hatte, „Ich meine, wieso nicht? Meinst du das ist eine Erfindung der Kirche? Wie alles...“
„Nun gut. Ich räume ein, es könnte so etwas geben. Aber wir müssen einsehen, dass wir uns nur aus hormonell induziertem Arterhaltungstrieb verknallen.“
Darüber musste er erstmal nachdenken. Mir seinem Alkoholpegel war das nicht so einfach.
„Ich will ihn also ficken, weil ich Kinder will. Mit... ihm. Obwohl ich weiß, dass das nicht funktioniert.“
Unweigerlich kam ihm ein Bild von von ihm und Lighty gezeugte Kinder in den Sinn. Eine interessante Mischung war das, keine Frage, unmöglich war es dennoch.
„Ficken ist keine Liebe.“, konterte der andere, „Ficken ist ficken. Und Liebe ist Instinkt.“
„Also nicht wichtig.“
„Im Grunde nicht. Wenn wir beide heute Nacht in ein Hotel verschwinden, ist da auch keine Liebe.“
„Hm.“
Das stimmte. Allerdings stimmte das, denn das, was der andere so herabschätzte, kannte er nur zu gut. Wenn man in diesem Hormonstrudel gefangen war war ficken nicht mehr einfach nur ficken.
„Du stempelst also alle Leute als dumm ab, wenn sie sagen sie sind verliebt?“, fragte Robin. Das war doch eine berechtigte Frage, schließlich... naja, eigentlich nicht.
Er war nicht verliebt. Lighty war nur eine Person, die unglaublich herausstach, aus der Menge. Wenn er mal in einer Menge war. Sonst stach er auch hervor, wenn er nur irgendwo herumstand. Oder... was wusste er schon. Er hatte ihn einfach gesehen und gedacht: Potentieller Partner für heute Nacht. Und weil es nicht geklappt hatte, stalkte er ihm nun hinterher. Irgendwann sollte er noch in seinem Bett landen, oder eben umgekehrt.
„Menschen... sind dumm. Das merkt man an jeder Ecke. Und auch wenn es nur geradeaus geht merkt man das. Immer, eigentlich. Dafür müssen sie nicht verliebt sein.“
Um nicht antworten zu müssen, nahm sich Robin eine Salzstange und aß sie. Vielleicht saß er grade vor einem Menschen, der sich damit profilierte, dass er sich vor dem Zeitungsstand nicht für die 'BILD' entschied. Dieser Mensch sagte von sich, dass er intelligent sei, alle Menschen sind dumm, natürlich er auch, das sagte er zumindest. Dabei hielt er sich für den besten.
Noch eine Salzstange.
Ooooder aber er war einer von denen, die wirklich denken konnten. Jetzt musste er nur noch abwarten, ob der Typ vor ihm auch noch arrogant war, denn Arroganz war das ultimative Merkmal für die Dummheit eines Menschen, wenn er sich so benahm wie dieser.
Aber egal was er war, Bildleser, arroganter kein-Bildleser oder nicht-arroganter kein-Bildleser, alle waren im Bett gut genug.
„Mir ist egal, woher Liebe kommt.“, sagte er und aß noch eine Salzstange, diesmal jedoch um seinen Standpunkt klar zu machen, auch wenn das eine mit dem anderen nicht zusammenhing. Daraufhin hob sich die linke Augenbraue seines Gegenübers. Diese Geste schrie förmlich die unterschwellige Botschaft ihrerseits heraus: Oh nein, noch ein Bildleser.
„Liebe macht Spaß. Es gibt einem ein gutes Gefühl. Warum also darüber herumphilosophieren woher dieses Gefühl kommt? Man muss es ja auch nicht Liebe nennen. Es ist ein Gefühl... hmm... naja, man hat es eben manchmal. Manchmal für sehr lange Zeit, dann stirbt es wieder. Was soll's? Gefühle kommen und gehen. Wenn man eben mit einem Menschen zusammen sein will, der einem gut tut... dann soll man's doch. Das herablassend mit Chemie oder was weiß ich zu erklären... ich weiß nicht, das ist feige. Und unnötig.“
Der Typ grinste.
„Das zu bestreiten aber auch. Es ist nämlich ein Fakt.“
„Bitteschön, lass' es ein Fakt sein. Sich damit aber aus der Sache zu ziehen muss nicht sein. Da verpasst du etwas, mein Freund.“
Damit hob er sein Glas und prostete dem Unbekannten zu.
Vorerst Ende. Wenn noch Geschichten dazukommen sollten, kommen sie eben dazu.
Texte: Alles meins. Wer klaut ist böse. Was haben Diebe also davon, außer ein schlechtes Gewissen?
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2008
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