Die Maus saß einfach nur da. Eine süße Maus, Stecknadelkopf große schwarze Augen, die mich scheinbar hypnotisierten. Sie schafften es richtig, dass ich merkte, wie mir die Sinne schwanden. Sie saugten mich ein, milde lächelnd, einladend.
Bis ich wieder zu mir kam, war die Maus viel größer geworden. Alles war viel größer geworden. Ich saß inmitten einer kalten Dschungel-Hölle. Ein Alptraum. Mich fror es. Wo war meine Kleidung? Platsch. Ein riesiger Tropfen traf mich mitten am Kopf und ließ mich pudelnass zurück.
„Willkommen in meinem Reich!“, sprach die Maus zu meiner Überraschung. „Komm mit, Du sollst nicht frieren, Kleines.“
‚Eine Maus nennt mich Kleines, hurra!‘, mein nächster Gedanke war: ‚ Jetzt bin ich endlich vollkommen übergeschnappt. Kein Wunder, bei dem Stress die letzte Zeit. Obwohl ich doch gar nichts genommen habe.‘ Ich wollte nur kurz in den Garten, frische Luft tanken, schauen, was ich im Januar alles machen könnte. Hatte wie üblich die Kamera in der Hand, die letzten Hagebutten fotografieren, die leicht vertrocknet am Ast hingen. Einen Apfel am Zwergapfelbaum, der von den Vögeln geschmäht wurde. Warum eigentlich? Er leuchtete seit September tief rot am Geäst, ich fand ihn viel zu schön, ihn nur für eine kurze Dekoration im Warmen zu pflücken …
Für die Mäuse hing er zu hoch und dem Igel hatten wir einen Vorratshaufen unter der Scheinzypresse angelegt, wie jedes Jahr, falls er mitten im Winter Kohldampf bekommen würde. Die Haselnüsse waren nur von Eichhörnchen und Raben gesammelt worden. Es lag noch genügend für Heerscharen von Vögeln und Mäusen da. Ein paar waren unter die Baumpfingstrosen geraten, viel zu hoch jetzt, um dort heranzukommen. Der Topf ragte über mir, wie ein dreistöckiges Haus.
Die Maus räusperte sich. „Du Blässling wirst hier krank werden, wie unsere Babys, wenn sie zu früh ans Tageslicht gehen. Folge mir.“
Was essen Mäuse? Getreide, meinte ich mich zu erinnern. Sollte ich fragen, ob sie auf den Namen Haselmaus hört? Dann wäre ich ganz auf der sicheren Seite. Nein, ich blieb lieber still, zitterte nur vor mich hin und erinnerte mich bei dem weiter entfernten Schnurren hinter mir, dass ich auf dem Weg zum Haselnussstrauch den Transgenderkater der Nachbarn von seinem Lieblingsliegeplatz auf einer Gartenbank aufgeschreckt hatte. Großer Fehler!
Die Maus machte einen Satz, ich erwische gerade noch ihren Schwanz und rannte so schnell es ging hinterher. Zum Glück nicht weit. Direkt hinter einem dicken Holzbalken, dem Tischbein unseres größten Gartentisches, war ein Loch in der Erde. Bisher war mir dies nie aufgefallen, dabei glich es vom Umfang her bereits einem Höllenschlund.
Rosa fauchte von hinten. Während die Maus behände im Gang verschwand, übte ich kurz Zurückhaltung. Sehr kurz, trotzdem zu lange? Ich meinte, die Schnurrhaare der Katze im Rücken zu spüren. Erinnerte sie sich daran, dass sie bei mir oft vor dem Fenster lag und ab und an Streicheleinheiten nebst Leckerlis bekam? War sie mir gnädig gestimmt? Oder war sie im Spiel-Modus, wie mit den jungen Hasen der Nachbarskinder, die regelmäßig ihr oder dem Jagdtrieb der beiden Hunde zum Opfer fielen? Der Gedankengang war lang, aber nicht so steil wie die Mäuseheimat. Ich schlitterte ins Dunkel, ins Ungewisse, gebremst von Schnodder und Wurzelstücken, die in den Bau ragten; plumpste dafür aber angenehm weich. Unter mir quiekte es empört. Wieso konnte ich hier überhaupt sehen? Zwar nur ganz schwach, aber meine Augen nahmen die Umrisse kleiner Mini-Mäuse wahr. Vor mir hockte meine Retterin. Plötzlich mit einer Brille auf der Nase, eigentlich war das sonst mein Privileg.
„Erinnerst Du Dich an den Anblick?“, fragte sie leise. „Es ist schon viele Jahre her. Mehrere Generationen. Die Geschichte wird bei uns immer noch erzählt.“
Ich war ehrlich erstaunt und verstand zuerst nicht, auf was sie hinaus wollte. Inzwischen kamen auch die Kleinen wieder näher, kuschelten sich an mich. Okay – es war etwas merkwürdig, mit Mäusebabys zu kuscheln. Aber sie wärmten mich. Sie fiepten um mich herum, fühlten sich gar nicht unangehm an auf bloßer Haut. Langsam dämmerte mir auch, an was mich meine Entführerin erinnern wollte.
Mir kam es vor, als wäre damals eine andere Zeitrechnung gewesen. Die Zeitrechnung des Gartenkalenders:
März. Anfang März holte ich früher aus den Himbeeren die dürren Triebe des Vorjahres heraus. Beschnitt die neu ausgetriebenen Ruten. Gab Kompost auf die Erde, als kleines Zuckerle für den Boden, Nährstoffe, Wärme und Liebe. Zum städtischen Kompostplatz hatte ich es noch nicht geschafft. Aber Dank des Plastik-Komposters im hintersten Garteneck müsste mir durchgereifter Kompost zumindest für die Himbeeren auch so zur Verfügung stehen. Schnell nahm ich das Vorderteil des Komposters ab, legte die zwei anderen Seiten frei und schaufelte darauf los. Bis mir ein Holzbrett Einhalt gebot. Es hing irgendwie krumm und schief in der Erde. Wild entschlossen hebelte ich es mit der Schaufel leicht an. Nackte Panik kam mir entgegen, winzigkleine helle Gestalten mit geschlossenen Augen und ohne Fell versuchten in Deckung zu kriechen – nur gab es gar keine. Mein Schreck war bestimmt kleiner, als der der Jungmäuse. Meine Reaktion? Schnell das Brett vorsichtig wieder daraufgelegt, schützenden, wärmenden Kompost darüber geschaufelt und diese Ecke des Gartens zur Tabuzone für die nächsten Wochen erklärt.
Sämtliche Nachbarn lachten mich aus. Eine wohlmeinende Dame reichte mir gleich Rattengift über die Straße, da ich bestimmt nicht in der Lage sei, Mäuse von Ratten zu unterscheiden. Ich lehnte dankend ab. Rosa gab es damals noch nicht als Revierwächter im Garten, die Nachbarkatzen hießen zu dieser Zeit Nero, Timmy, Blanche und Flop. Ich weiß nicht, ob sie eines dieser Babys jemals erwischten. Wenn ja, dann war das der Lauf der Zeit. Meinetwillen durften Katzen und Mäuse im Garten sein.
„Wir wollten Dich daran erinnern, wie es war, als Du noch im Garten gearbeitet hast.“
Dieser Satz klang sehr vorwurfsvoll. Dabei hatten sie Recht. Der Garten war ursprünglich als Traumgarten angelegt worden. Gartenzimmer wurden geschaffen, in denen es mal bunter und mal dezenter blühte. Ich lag auf dem Bauch am Mörtelkübelteich in seinem ersten Jahr, die Nase fast in den Kieseln, um den Posthornis beim Fressen zu zusehen, zu zuschauen wie die Blasenschnecken sich über die Algen hermachten, zu verfolgen wie langsam Sauerstoffbläschen aus den treibenden Pflanzen hinauf stiegen. Zählte die Strahlen des Solarbrunnes und wehe, ein Löchlein verstopfte! Ich zimmerte immer neue Hochbeete, kämpfte gegen Unkraut, jedes Jahr wieder aufs Neue. Machte mir einen Kopf, an welcher Stelle, welche Pflanze am glücklichsten werden könnte. Schrieb mir auf, wann wo Sonne und Schatten war. Experimentierte mit Kübeln. Lies mir alte Leiterwagen voll zu kleiner Gefäße in den Weg stellen und lernte so auch vermeintlich ungeeignete Stellen zum Blühen zu bekommen.
Bis vor 5 Jahren. Die Familie lenkte mich ab. Für sie musste ich andere Traumgärten schaffen, mit meiner Stimme, meinen Gefühlen, meinen Gedanken und mit meiner Zeit. Den Fotoapparat nur noch manchmal als Begleiter.
Den Garten betrat ich noch im Sommer, Aufenthalte unter dem Haselstrauch, dem alten Kirschbaum. Hängematten-Nachmittage unterm Sonnenschirm. Die Blumen wurden weniger. Die Blüten im Frühjahr wehrten sich. Explodierten an den Sträuchern und langsam mauserte sich der Reihenhausgarten zur Streuobstwiese von Zwergobstbäumen. Es zog mich zur Blütenzeit hinaus, mittenhinein in die wie plötzlich üppig sprießende Natur, als wäre es nicht jedes Jahr das gleiche Schauspiel. Dem Treiben der Hummeln nachspüren, Holzbienen begleiten und Taubenschwänzchen bestaunen. Da war sie wieder, die Lust auf Garten, sie zuckte in mir, kurz und doch vergänglich.
Ein Telefonat und ich war wieder in der Realität. Noch eine Wohnung ausräumen. Seniorenheime, Besuche, Gespräche. Trauerzeiten – ich ging meinem Garten fremd. Mittags war mir der botanische Garten näher, als das heimische Grün. Die Wege nachhause waren begleitet durch das Klicken der Handykamera. Gerade im Frühjahr, die Magnolien und Zierkirschen vor den Behördenbauten, Blausternchen im Park, Krokusse im Sonnenlicht, morgens dekorierte Blüten-Glocken mit Tau-Perlen, Tulpen in allen Farben. Bis die Natur wieder die Farbpalette aus der Hand legte und sich meist in Grüntönen schmückte.
Wie lange war das her? Solange, dass ich die letzten zwei Jahre sogar das vergessen hatte. Traurig schaute ich zur Maus.
„Werde ich jetzt für immer hier bleiben, nur mal kurz aus dem Bau linsen, vergänglich, wie ihr? Ist das meine Strafe für das Ignorieren eures Reiches?“
Irgendetwas packte mich am Genick, mein letztes Stündlein würde schlagen, ich spürte es genau. Die Pranke des Katers schien sich durchgegraben zu haben. Warum nur blieben die Nager so ruhig?
„Hast Du sie gesehen?“
Die Hände meines Mannes packten mich an den Schultern, wohl um mich aus meiner Starre zu befreien. Meine Kamera hatte ich noch im Anschlag, nur die schwarzen Augen kurz über dem Boden waren verschwunden. Er drehte mich langsam in eine andere Richtung und wies auf den mitten im Winter gerade frisch erblühten Strauch. Die Zaubernuss leuchtete mir gelbgolden entgegen, die Blütenblätter kleinen Fingern gleich, die Lebensfreude wie Sonnenstrahlen hervorbrachten.
„Ist das Leben nicht schön?“
„Mäuseschön“, murmelte ich und ging zu dem Strauch hinüber. Insgeheim versprach ich dem Garten, wieder öfter an ihm teilzuhaben.
Texte: @Marie Baje
Bildmaterialien: @Marie Baje
Cover: @Marie Baje
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2021
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