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7 Mörderische Kurzgeschichten

7 Morde aus Hass, Neid, Leidenschaft und Eifersucht. 

 

1. Der Geruch

»Lilly, alles in Ordnung mit dir?«

Ihre Stimme brach, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie kniete sich hinunter und strich ihrer Schwester das lange Haar aus dem Gesicht. Die Blutlache unter ihrem Kopf wurde größer, ihr Mund war leicht geöffnet.

»Lilly, bitte wache auf. Hörst du? Öffne die Augen!«

Verzweifelt griff Sandra in die Hosentasche und nahm das Smartphone heraus.

»Ich rufe den Notarzt, Lilly. Verstehst du mich? Gleich kommt Hilfe, und dann wird alles wieder gut.«

Mit zitternden Fingern tippte Sandra die 112. Die Verbindung wurde hergestellt. Die Neunzehnjährige nannte ihren Namen und die Adresse, anschließend erzählte sie stockend, was sich zugetragen hatte und dass ihre Schwester schwer verletzt und leblos in ihrem Zimmer auf dem Boden lag.

 

 

Die Sirene heulte laut, als der Krankenwagen in die genannte Straße einbog. Sandra wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Sie sind da, Lilly, Hilfe ist da. Ich lasse sie herein, ich bin gleich wieder bei dir.«

Noch einmal strich sie der Schwester über die bleiche Wange, dann stand sie auf und hastete zur Tür. In dem Moment fuhr der Wagen mit dem Notarzt auf die Einfahrt. Die beiden Sanitäter waren bereits auf dem Weg zum Hauseingang. Der Arzt griff nach seinem Koffer und stieg aus.

»Schnell, bitte kommen Sie schnell. Lilly reagiert nicht, sie wacht einfach nicht auf«, rief sie mit überschlagender Stimme.

Der Arzt und die beiden Sanitäter traten ein.

»Die zweite Tür links«, stammelte Sandra, die vom Notarzt aus dem Weg geschoben wurde und nun zitternd an der Wand stand.

 

Eine halbe Stunde später wurden alle Maßnahmen vom Arzt und den Sanitätern eingestellt. Stumm sahen sie sich an, als der Notarzt mit dem Kopf schüttelte. Sandra stand am Türrahmen und hatte beobachtet, wie die Männer versuchten, ihre Schwester ins Leben zurückzuholen.

»Es tut mir sehr leid«, sagte der Arzt und stand auf. »Ihre Schwester war bereits tot, als wir eintrafen, wir haben alles versucht, um sie dennoch zu retten.«

Das Mädchen sah den Arzt verständnislos an.

»Ich muss die Polizei informieren.«

Sandra starrte ihn noch immer an.

»Verstehen sie mich? Ihre Schwester ist tot, und es ist ganz sicher ein Gewaltverbrechen an ihr verübt worden. Ich muss die Polizei informieren. Die Beamten werden Fragen an Sie haben.«

Sandras Kreislauf drohte zu kippen. Sie begann zu hyperventilieren. Der Arzt führte sie ins Wohnzimmer, redete beruhigend auf sie ein und setzte sie auf das Sofa. Er kontrollierte ihren Puls.

»Ich werde Ihnen eine Spritze geben und bleibe bei Ihnen, bis die Polizei eintrifft.«

»Nein, ich will keine Spritze«, widersprach sie schluchzend, aber dennoch bestimmt. »Ich will bei klarem Verstand bleiben.«

Er telefonierte kurz und setzte sich dann zu dem völlig verstörten Mädchen.

 

 

Sandra wurde von Hauptkommissar Samuel Keller befragt, doch das Mädchen konnte kaum auf seine Fragen antworten. Immer wieder brach sie weinend zusammen. Der Beamte fasste zusammen, was er bisher von Sandra erfahren hatte.

»Ihre Eltern sind letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem lebten Sie mit Ihrer Schwester Lilly alleine in dem Elternhaus, das Sie beide zu gleichen Teilen geerbt haben.«

Sandra nickte und sah den Hauptkommissar mit feuchten Augen an. Der fuhr fort.

»Um circa 22.30 Uhr klingelte es an der Haustür und Sie sahen nach, wer so spät zu Besuch kommen wollte.«

Wieder konnte Sandra nur nicken.

»Sie öffneten die Tür und wurden sofort überwältigt. Jemand, der eine schwarze Maske und eine Kappe trug, schlug Sie mit einem Faustschlag nieder. Sie erwachten kurze Zeit später auf dem Boden im Flur. Ist das richtig so?«, fragte Sam Keller und beobachtete die Reaktion der jungen Frau, die zusammengesunken vor ihm saß.

»Ja, das ist richtig so«, bestätigte Sandra leise.

»Ok, danke Sandra, Sie machen das gut.« Er drückte ihre Hand und sah sie aufmunternd an. »Was geschah dann, als Sie aufgewacht sind?«

Sandra wischte sich mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht und atmete hörbar ein und aus. Ihre Lippen zitterten.

»Ich wusste zuerst nicht was passiert war und warum ich im Flur liege. Erst, als ich Lilly schreien hörte, kam die Erinnerung zurück. Dann hörte ich dumpfe Schläge und anschließend sah ich, wie jemand aus ihrem Zimmer kam. Der Mann rannte an mir vorbei, öffnete die Haustür und schlug sie hinter sich zu. Ich stand wankend auf und lief zu Lillys Zimmer.«

Wieder schüttelte ein Weinkrampf ihren Körper. Der Hauptkommissar schluckte schwer, er hasste diese Art von Befragungen. Aber sie waren dringend notwendig, solange die Erinnerungen der Zeugin noch frisch waren. Am nächsten Tag, wenn Sandra gefasster sein würde, wollte er sie nochmals befragen. Danach würde er ihre Antworten vergleichen und bei einigen nachfragen. Doch er war noch nicht mit ihr fertig. Solange das Mädchen nicht komplett zusammenbrach, würde er sie erzählen lassen.

»Sie gingen in das Zimmer Ihrer Schwester Lilly. Was haben Sie gesehen und getan, Sandra.«

»Ich sah, dass Lilly auf dem Boden lag. Ich ging zu ihr, kniete mich zu ihr hinunter und schüttelte sie an der Schulter. Sie reagierte nicht. Dann sah ich das Blut unter ihrem Kopf hervorsickern. Ich hatte Panik und schreckliche Angst.«

Ihre Stimme versagte. Beinahe vorwurfsvoll sah sie den Hauptkommissar an.

»Sie ist nicht aufgewacht! Ich habe sie geschüttelt und angebettelt, sie solle aufwachen und mit mir reden.«

Sandras Fingernägel bohrten sich in ihre Unterarme, Tränen liefen erneut die Wangen hinab.

»Lilly ist einfach nicht aufgewacht«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Sandra, ich weiß, dass es nicht leicht ist, darüber zu sprechen. Ich muss Sie aber dennoch befragen. Haben Sie den Täter erkannt, dem Sie die Tür geöffnet haben? Oder hat er Sie an jemanden erinnert, den Sie kennen?«

Verwirrt blickte sie auf. Sie begann nachzudenken, was den Tränenfluss stoppte.

»Ich … ich weiß nicht. Er war schlank, ungefähr 1 Meter 80 groß. Er hat nichts gesagt, sondern sofort zugeschlagen.«

»Denken Sie nach, Sandra. Ist Ihnen irgendetwas an ihm aufgefallen? Was hatte er an? Machte er unbewusst eine Geste, die Sie an jemanden erinnerte?«

Sandra überlegte fieberhaft, doch sie konnte dem Hauptkommissar keine Antwort auf seine Fragen geben.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie traurig. »Ich erinnere mich nicht, es ging alles so schnell.«

»Gibt es jemanden, der Ihre Schwester hasste?«

Die Frage verschlug ihr im ersten Moment die Sprache, dann antwortete sie:

»Hassen? Sie wollen wissen, ob jemand Lilly hasst? Das ist nicht Ihr ernst, Herr Keller. Lilly ist der liebste und warmherzigste Mensch, den ich kenne. Sie wird geliebt, und jeder hat sie gern. Sie wird nicht gehasst, wie kommen Sie auf so eine Frage.«

Dem Hauptkommissar entging nicht, dass Sandra nicht in der Vergangenheit von ihrer Schwester sprach. Sie sagte, „Lilly IST der liebste Mensch, - sie IST warmherzig …“. Das sagte ihm, dass Sandra den Tod ihrer Schwester noch nicht realisiert hat. Er hatte dies schon mehrmals bei anderen Fällen erlebt.

In dieser Nacht würde er nichts mehr von Sandra erfahren, dass zu einer Spur oder zum Täter führen könnte. Er fragte nach Namen und Adressen von Verwandten, Arbeitskollegen und Freunden, die Lilly hatte und schrieb sie in seinen Notizblock.

»Ich werde Sie jetzt alleine lassen, Sandra. Soll ich für Sie jemanden anrufen, der Sie abholen würde und bei dem Sie einige Tage bleiben könnten? Sie sollten heute Nacht nicht alleine bleiben. Außerdem ist das Team der Spurensicherung noch im Haus, und solange sie arbeiten, sollten Sie nicht hier sein. Ich würde Sie anrufen, wenn Sie wieder ins Haus kommen können.«

Sandra schüttelte den Kopf.

»Ich will niemanden um mich haben. Ich muss alleine sein. Wenn ich hier nicht bleiben kann, werde ich in ein Hotel ziehen.«

Sie nannte ihm eines, und er rief dort an. Man sagte ihm zu, dass Sandra noch in der Nacht einchecken könne. Er ging mit ihr in ihr Zimmer und sah der jungen Frau beim Packen der Reisetaschen zu. Anschließend fuhr er Sandra persönlich zum Hotel und begleitete Sie bis zu ihrem angemieteten Zimmer.

»Ich rufe Sie morgen früh an, Sandra. Bitte bleiben Sie die Tage, die Sie hier wohnen, im Hotel.«

Er nahm eine seiner Visitenkarten und schrieb seine private Handynummer unter die von seinem Büro.

»Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte sofort an, Sandra. Wenn nicht, dann sehen wir uns morgen wieder.«

Sie nahm die Karte an sich und versuchte ein Lächeln, das ihr kläglich misslang.

»Sam Keller reichte ihr die Hand und verabschiedete sich.

»Versuchen Sie etwas zu schlafen, Sandra.«

Sie nickte und sah ihm nach, als er den langen Flur Richtung Aufzug ging.

Sandra schloss die Tür hinter sich und legte sich auf das Bett. Wieder bahnten sich Tränen ihren Weg, und eine halbe Stunde später fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

 

 

Das Adrenalin pumpte noch immer durch seinen Körper, ließ ihn schnell atmen. Er musste sich bewegen, auspowern, den Druck, der auf ihm lastete, lösen. Er schwitze, seit er an der Tür von Lilly geklingelt hatte. Sein Körper fühlte sich eiskalt an, und er roch den beißenden Geruch, der sich an ihm und seiner Kleidung festgesetzt hatte. Er stank, ja, er stank widerlich, wie immer, wenn er transpirierte.

Der Mann rannte durch den verlassenen Park, in seinem Kopf sah er Bilder, die wie ein Film abliefen. Lilly, wie sie ihn freundlich anlächelte. Lilly, als sie ihren Führerschein bekam. Die traurige Lilly bei der Beerdigung der verunglückten Eltern. Lilly, die ihn auslachte, die sich angeekelt von ihm abwendete. Lilly, die sich über ihn lustig machte. Lilly, Lilly, Lilly. Wie sie ihn aus großen erschrockenen Augen ansah. Lilly, die schrie, als der Hammer auf ihrem Hinterkopf aufschlug. Lilly, die leblos zusammenbrach. Er sah sich selbst, wie er wieder und wieder mit dem Hammer auf ihren Kopf schlug.

Sie ist tot, dachte er entsetzt und doch freudig aufgeregt. Ich habe meine Lilly getötet. Das Mädchen, das ich liebe, dem ich nie meine Liebe gestanden habe. Wut kochte in dem Mann hoch. Eine Stimme in ihm sagte, sie sei selbst schuld an ihrem Tod.

Ja, dachte er wütend, sie ist selbst schuld. Warum hat sie mich ausgelacht? Wieso machte sie sich ständig über mich lustig, und wenn sie dies nicht tat, ignorierte sie mich. Sie zeigte mit dem Finger auf mich und alle lachten. Oh ja, Lilly, du hast es so gewollt, dass ich heute Nacht zu dir gekommen bin. Du solltest spüren, wie es ist, wenn man schlecht behandelt wird. Heute Vormittag hast du das Fass zum Überlaufen gebracht. Alle haben mich ausgelacht, und du hast meinen Fehler hochgespielt. Warum, Lilly? War ich nicht immer für dich da? Du hast meine Liebe zu dir mit Füßen getreten. Jetzt kannst du mich nie mehr verletzten. Nie mehr, Lilly, denn jetzt bist du tot.

*

 

Sandra wachte in der Nacht öfter auf, sie wälzte sich im Bett, schwitzte und zitterte zugleich. Dementsprechend erschlagen fühlte sie sich, als sie um kurz vor 7:00 Uhr aufstand. Sandra verdrängte die Bilder in ihrem Kopf. Sie wollte nicht wahrhaben, dass ihre Schwester brutal erschlagen worden war. Zum Selbstschutz baute ihr Verstand eine Mauer auf, so blieb die schreckliche Tat dahinter, und sie konnte klarer denken. Dennoch zermarterte sie ihren Kopf. Der Hauptkommissar hatte ihr gesagt, sie sollte versuchen, sich zu erinnern, ob ihr an dem Täter etwas aufgefallen war.

Ja, irgendetwas war da, sie hatte etwas gesehen oder bemerkt, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Oder war es, als er an ihr vorbeilief und das Haus verlassen hat? Aber was? Was war es, das sich in ihr Unterbewusstsein gegraben hat und sich darin versteckte? Was war es gewesen, dass ihr aufgefallen und jetzt nicht mehr greifbar war? Was?

Sandras Kopf schmerzte, sie rieb sich die Schläfen. Müde ging sie ins Badezimmer und duschte ausgiebig. Anschließend nahm sie ein Aspirin aus der Handtasche und schluckte die Tablette mit etwas Wasser hinunter. Sie benötigte unbedingt Kaffee. Schnell zog sie sich an, fuhr mit dem Aufzug hinunter und betrat den Speisesaal.

Während sie drei Tassen Kaffee trank und mit Müh und Not ein Brötchen mit Butter aß, kreisten ihre Gedanken weiterhin um den Mörder ihrer Schwester.

Ich muss mich erinnern, was ich an dem Täter bemerkt habe, dachte sie, dann weiß ich vielleicht wer er war, und kann es Samuel Keller mitteilen.

 

 

Er schlief in dieser Nacht nicht. Als er Stunden nach der Tat nach Hause kam, war er trotz dem Lauf im Park hellwach. Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Er musste diesen ekelhaften Geruch, diesen klebrigen Schweißfilm von seinem Körper waschen. Mehrmals seifte er sich ein und ließ dabei das Wasser über seinen Körper fließen. Es dauerte, bis er das Gefühl hatte, wieder sauber zu sein.

Wut und Enttäuschung wechselten sich mit Trauer und Verzweiflung ab. Die Stimme in seinem Kopf bestand darauf, dass er das Richtige getan hatte. Sein Herz wollte weinen, um den Verlust, den er selbst herbeigeführt hatte.

Er dachte darüber nach, wie lange es dauern würde, bis die Polizei ihn verdächtigte. Dass sie ihn vernehmen würden, stand außer Frage. Er gehörte mehr oder weniger zum inneren Kreis von Lilly. Alleine durch die Arbeitsstelle würden die Beamten nachforschen, wie sein Verhältnis zu ihr gewesen war. Er hatte kein Alibi, das wäre wahrscheinlich nicht schlimm, da er als Einzelgänger bekannt war und eigentlich keine Freunde hatte. Er war ein Mitläufer, schon immer. Das war schon früher während der Schulzeit so. Nie fiel er auf, war er da, wurde er übersehen, war er nicht da, vermisste ihn keiner. Zu Geburtstagen oder Feiern wurde er nie direkt eingeladen. Tauchte er dennoch auf, wurde es achselzuckend hingenommen. Er hielt sich zurück, fiel nicht auf, suchte keinen Streit, drängte sich nie in den Vordergrund. Eigentlich war er unsichtbar. Sah man ihn, wurde er sofort wieder vergessen. Er hinterließ keine Spuren. So war es auch in der Agentur. Er arbeitete im Hintergrund, gab seine Ergebnisse an Lilly und an die anderen Mitarbeiter weiter. Die benutzten sie, bauten sie aus und hamsterten das Lob vom Chef ein. Sein Name erschien auf keinem Manuskript, auf keiner Präsentation. Er war nur der Zubringer, derjenige, der im Hintergrund nach Lücken, Fehlern und Schlupflöchern suchte, damit die Firma sauber blieb, einen guten Ruf genoss und dadurch immer lukrativere Aufgaben angeboten bekam. Die nahm der Chef gerne an, so war die Werbeagentur immer angesehener geworden, und ihre Arbeiten wurden hochgelobt. Dass er den Hauptteil an diesem Ruhm trug, schien niemand zu sehen.

 

Am vorherigen Vormittag brachte er Lilly seine Unterlagen mit den Recherchen. Aus einer Laune heraus fragte sie ihn, ob ihm nicht ein toller Slogan zum Produkt einfallen würde, an dem sie gerade arbeitete. Zuerst sah er sie erstaunt an, doch Lilly ermunterte ihn, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen.

»Komm schon, Harry, dir muss doch zu dem Produkt etwas einfallen. Überlege nicht lange, sondern sage spontan, was dir dazu einfällt.«

Er kaute auf seiner Unterlippe, sein Gesicht wurde feuerrot. So intensiv hatte ihn Lilly noch nie angesehen. Die anderen im Büro wurden auf die beiden aufmerksam, und einer rief:

»Genau, Harry, was fällt dir intuitiv zu dem Artikel ein? Wer weiß, vielleicht bist du ja der geborene Werbefachmann und könntest Lillys Assistent werden.«

Sein Gesicht glühte. Dann, ohne zu überlegen, sagte er einen Satz zu dem Produkt. Erwartungsvoll sah er Lilly an. Die begann zu prusten und lachte lauthals los. Die anderen stimmten mit ein.

Er wollte vor Scham im Erdboden versinken. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Lilly ihn vorgeführt hatte. Sie hatte ihn der Lächerlichkeit preisgegeben, ihn ins offene Messer laufen lassen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, er spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. Er hasste es zu schwitzen. Harry wusste, dass diesen unangenehmen Geruch auch die anderen riechen konnten. Das war ihm peinlich. Er hatte sich bereits die Achselhaare entfernen und die Haut lasern lassen, doch es half nicht. Sobald er zu schwitzen anfing, überdeckte sein Geruch jede Duftnote, die er ausprobiert hatte.

Das Lachen drang nur noch dumpf zu ihm durch, stolpernd lief er aus dem Büro. Erst in seinem kleinen Raum konnte er wieder atmen. Er hatte zwei Hemden für solche Notfälle im Schrank. Hastig nahm er eins davon und das Deospray und ging zu den Toiletten. Er wusch sich am Waschbecken das Gesicht, die Achselhöhlen und anschließend die Hände. Danach sprühte er das Deodorant, das 24 Stunden Frische versprach, unter die Achseln und zog das saubere Hemd an. Er ging zurück in sein Büro und legte das nassgeschwitzte Hemd in eine Tüte, die er mit einem Reißverschluss verschloss. Er würde es nach Feierabend mitnehmen, um es zu Hause zu waschen.

 

Die Schmach bohrte sich noch immer durch seine Eingeweide und wurde zu unbändigem Zorn. Harry ballte die Fäuste, Tränen brannten in seinen Augen. Mit zusammengepressten Zähnen zischte er hasserfüllt:

»Das wirst du mir büßen, Lilly. Es reicht mir endgültig. Ich habe von dir und deiner Scheinheiligkeit genug. Du wirst noch heute deine Strafe bekommen, dann, wenn du nicht damit rechnest.«       

Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, kam ihm der Gedanke, dass er jeden Verdacht von sich ablenken musste, wenn er Lilly bestraft hatte. Er stand auf, ging in die kleine Küche, die zwischen seinem und dem Großraum-Büro lag und rief:

»Ich mache mir einen Kaffee, will noch jemand einen?«

Joe Baker antworte ihm sofort.

»Ich hätte gerne einen Cappuccino, Harry.«

Als die braune Brühe in die Tasse lief, rief auch Lilly:

»Ich auch bitte, Harry.«

Er brachte erst Joe dann Lilly die gefüllte Tasse mit einem schiefen Grinsen im Gesicht.

»Hör` mal, Harry, es tut mir leid, dass ich dich vorhin so vorgeführt habe. Ich weiß auch nicht, was da über mich gekommen ist.«

Noch immer das schiefe Grinsen im Gesicht antwortete er:

»Alles gut, Lilly. Du hast dir einen Spaß mit mir erlaubt. Kein Problem.«

»Gut, dass du es mit Humor nimmst, es war wirklich nur ein kleiner Spaß, den ich mir erlaubt habe. Nicht böse sein, ja?«

»Ach wo, alles paletti, Lilly. Ich bin nicht nachtragend.«

Sie lächelte ihn an und nickte, dann trank sie einen Schluck von dem Cappuccino, stellte die Tasse ab und vertiefte sich wieder in die geöffneten Bilder auf dem Monitor vor ihr.

In seinem Büro ließ er seiner Wut freien Lauf.

»So einfach ist das also? Eine kleine, halbherzige Entschuldigung, und die erfolgsverwöhnte Lilly widmet sich wieder Wichtigerem zu. Joe ist auch nicht besser als sie. Alle lachen über mich, und ich muss gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber diesmal bist du zu weit gegangen, Lilly. Diesmal wirst du bestraft werden.«

Hätte ihm in diesem Moment jemand zugehört und gesehen, derjenige wäre über Harrys ausgespuckte Worte und den Hass in seinen Augen zu Tode erschrocken.

 

 

»Guten Morgen, Sandra. Ich hoffe, Sie konnten einigermaßen gut schlafen. Ist Ihnen noch etwas eingefallen, dass mir und meinem Team weiterhelfen könnte?«

Sandra schüttelte den Kopf und sah Samuel Keller in die Augen.

«Leider nein, Herr Hauptkommissar«, gab sie zur Antwort. »Irgendetwas war da, aber ich erinnere mich nicht. Ich zermartere mir den Kopf und komme einfach nicht darauf, was es gewesen war.«

»Sie sagten, der Täter wäre schwarz gekleidet gewesen und hätte das Schild seiner Kappe tief ins Gesicht gezogen. Zudem trug er eine schwarze FFP2-Maske.«

»Ja, so war es, ich konnte ihn nicht erkennen.«

»War auf seinem Sweatshirt irgendein Aufdruck oder auf der Kappe?«

Sandra rief sich das Bild des Täters vor Augen und schüttelte abermals den Kopf.

»Nichts, da war nichts, weder auf dem Sweatshirt, noch auf der Kappe.«

»Seine Augen konnten Sie nicht sehen, richtig?«

»Es ging alles viel zu schnell. Ich habe nicht erwartet, angegriffen zu werden.«

»War es nicht merkwürdig, dass so spät am Abend an der Haustür geklingelt wurde? Oder haben Sie noch jemanden erwartet?«

»Beides mal nein. Manchmal, wenn Freunde von uns unterwegs sind, kommen sie noch auf einen Drink bei uns vorbei. Das geschieht immer wieder mal, dass wir spät noch Besuch bekommen. Allerdings rufen die vorher an. Lilly ging auch schon vor 22:00 Uhr in ihr Zimmer, sie war müde.«

Sam Keller nickte, ihre Aussage deckte sich mit der vom Vorabend.

»Ich habe mit dem Leiter der Spurensicherung telefoniert. Sie können morgen zurück in ihr Haus, Sandra.«

»Das ist gut, aber ich habe dennoch Angst zurückzukehren.«

»Sie werden nichts mehr von der Tat sehen. Ein Team wird alles reinigen und entsorgen. Es wird nichts geben,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1770-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Dank geht an meine Leseschar und ihrer Treue. Danke auch an meinen Freund, dem Schulrektor a. D., der wie immer korrigierte und an meine Freundin, seine liebe Frau Michi. Mein Dank auch an alle, die in Social-Media meine Veröffentlichungen teilen und posten.

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