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Der Zug ratterte mit fast 200 Stundenkilometern gen Westen. Regen peitschte wie Messerstiche nahezu waagrecht an die Scheiben. Es war dunkel. Nur hin und wieder riss ein Blitz die Umgebung aus der Finsternis und zeichnete sie unnatürlich grell und farblos hinter den Fenstern ab.
Maike hatte Hunger. Es war spät und die Endstation würden sie erst in knapp einer Stunde erreichen. Kaum noch jemand saß im Zug. Sie stand auf und schlängelte sich durch die Zweierreihen Sitze hindurch. Sie wollte ins Bord-Bistro und sich etwas kaufen. Gebäck oder was auch immer es dort zu kaufen gab. Maike fuhr nicht oft Zug. Und es war das erste Mal, dass sie alleine fuhr.
Die Schiebetür ging schwer, Maike musste viel Kraft einsetzen, um sie weit genug auf zu bekommen. Rasch schlüpfte sie hindurch. Dumpf schlug die Tür hinter ihr wieder zu.
Im selben Moment verloschen die letzten, wenigen Lichter im Zug. Maike blieb wie erstarrt stehen. Sie konnte kaum mehr etwas sehen. Von draußen kam nur ab und zu Licht von vorbeihuschenden Straßenlaternen und hell erleuchteten Bahnhöfen herein und malte unheimliche Schatten auf die Wände.
Ein Lautsprecher knackte. „Sehr verehrte Fahrgäste. Wegen eines technischen Defekts sind leider gerade alle Lichter ausgefallen. Es ist uns im Moment leider nur möglich, die Notbeleuchtungen einzuschalten. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass es keine weiteren Einschränkungen gibt. Wir beheben das Problem so schnell wie möglich. Ich wünsche Ihnen noch eine weitere, angenehme Fahrt.“
Gleich darauf flackerten ein paar diffuse Lichter auf, die kaum Licht spendeten.
Maike trottete den Gang entlang. Links von ihr waren die Einzelabteile der ersten Klasse. Hier war gar nichts mehr los. Sie schaute neugierig in jedes einzelne Abteil hinein. Leer. Leer. Leer, soweit man es in der Dunkelheit erkennen konnte.
Ein Blitz erhellte das letzte Abteil. Maike schrie auf. Panisch schlug sie die Hände vor den Mund. Sie war wie erstarrt. Was sollte sie machen? Wegrennen?
Zitternd starrte sie in das Abteil. Es war nichts zu erkennen. Gähnende Schwärze herrschte hinter der Scheibe in der Tür. Hatte sie sich getäuscht?
Ein weiterer Blitz. Maike wimmerte. Sie hatte sich nicht geirrt. Dort drinnen hing aus dem Gepäcknetz eine Figur. Ein Mensch! Kopfüber baumelte er vor dem Fenster und wippte im ratternden Takt der Bahn. Eine Flüssigkeit tropfte von seinem Kopf. Blut?
Maike zitterte am ganzen Leib. Was sollte sie tun? Der Schaffner! Irgendwo musste doch der Schaffner sein. Der wusste bestimmt, was zu tun war.
Maike rannte los. Mit aller Macht riss sie an der nächsten Schiebetür, bekam sie einen Spalt auf und quetschte sich hindurch. Sie rannte durch den Waggon. Niemand war in der schwachen Notbeleuchtung zu sehen. Wo waren alle hin? Wieso saß hier niemand? Hatte der Mörder sie alle umgebracht und ihre Leichen aus dem fahrenden Zug geschmissen?
Panik lähmte Maikes Gedanken. Sie stolperte vorwärts, fiel hin, rappelte sich auf und rannte weiter. Ungeschickt taumelte sie in dem schwankenden Zug gegen Sitze, riss vergessene Zeitschriften herunter und blieb an ausgeklappten Armlehnen hängen.
Endlich die nächste Schiebetür. Sie ging ganz leicht auf. Maike hastete hindurch. Am anderen Ende des Waggons beugte sich ein schattenhafter Umriss über einen Sitz. Ein Mensch. Was tat er da? In einem neuerlichen Lichtblitz erkannte Maike, dass der Unbekannte etwas aus seiner Tasche zog. Etwas Langes, Rundes und er richtete es gerade auf den Sitz. Eine Pistole? War es der Mörder, der nun noch jemanden umbringen wollte?
Maike entdeckte einen völlig neuen Mut in sich. Mit einem Schrei raste sie los, sprang ab und rempelte den Mann um. Gemeinsam stürzten sie zu Boden. Was jetzt? Wo war die Waffe?
Panisch schaute sich Maike um. Der Mann unter ihr bewegte sich. Ein neuerlicher Blitz schälte ihn aus der Dunkelheit. Er trug eine Uniform. Maike schrie ängstlich auf. Der Mörder war der Schaffner!
„Was?“, ächzte der Mann und versuchte sich aufzusetzen.
„Hilfe!“, kreischte Maike und krabbelte davon.
„Was ist hier los?“, fragte eine weibliche Stimme.
Der Schaffner tastete über den Boden. Er suchte nach seiner Waffe!
„Vorsicht!“, schrie Maike und entdeckte im selben Moment wie der Schaffner die Waffe. Sie griff danach. Der Schaffner war schneller. Er hob die Waffe auf und richtete sie auf Maike. Dann drückte er ab.
Ein helles Licht flackerte auf. Maike schloss geblendet die Augen.
„Bitte beruhigen Sie sich!“, sagte der Schaffner und lenkte den Lichtstrahl seiner Taschenlampe zu Boden.
Maike zitterte am ganzen Körper. Die Waffe war nur eine Taschenlampe!
„Was ist denn los mit dir, Mädchen?“, fragte der Schaffner und beugte sich über Maike. Ihr Gesicht war immer noch kalkweiß vor Schreck.
„Eine Leiche!“, stammelte Maike.
„Wie bitte?“, fragte die weibliche Stimme von vorhin. Eine Frau mittleren Alters beugte sich aus dem Sitz vor und schaute Maike nun ebenfalls an.
„In der ersten Klasse“, berichtete Maike hastig. „Da hängt eine Leiche aus dem Gepäcknetz!“
Der Schaffner sah sie besorgt an. „Bist du sicher?“
„Ja!“, sagte Maike und stand auf. „Kommen Sie mit, bitte!“
Der Schaffner nickte. Auch die Frau stand auf und folgte Maike zurück in das Erste-Klasse-Abteil.
Mit zitterndem Finger deutete Maike auf das Abteil. Der Schaffner schob die Tür auf und leuchtete mit seiner Lampe hinein. Noch immer hing aus dem Gepäcknetz kopfüber ein Mensch. Auf dem Boden hatte sich eine rote Pfütze gebildet. Der Lichtstrahl glitt zitternd über den Kopf nach unten.
Die Frau schrie entsetzt auf.
Zögernd ging der Schaffner näher. Er streckte die Hand nach der Leiche aus und berührte sie. Maike schauderte.
Der Schaffner lachte auf.
Die Frau und Maike starrten ihn an. Wieso lachte er?
Ein entsetzlicher Gedanke fuhr Maike durch den Kopf. War er doch der Mörder…?
Sie wollte schon herumfahren und wegrennen, als der Schaffner in die Hocke ging, den Finger durch die Blutpfütze zog und ihn abschleckte.
Maike wurde schlecht. Ihre Knie verwandelten sich in Pudding. Sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu Boden zu sinken.
„Mhmm“, sagte der Schaffner. „Das ist guter Ketchup.“
Maike begriff die Worte nicht. Ketchup? Was redete er da nur? Das war Blut! War er nicht nur ein Mörder, sondern auch noch ein Psychopath?
Auch die Frau fand keine klugen Worte. „Wie? Was?“, stotterte sie.
Der Schaffner wandte sich um. „Keine Sorge“, sagte er lachend. „Das ist nur eine Gummipuppe mit einer Perücke.“ Er ließ den Lichtstrahl nach oben wandern. Die Beine der aufblasbaren Gummipuppe hatten sich im Gepäcknetz verfangen. Ein Fuß hing noch in einer schwarzen Sporttasche. Aus ihr ragte auch der gebrochene Hals einer Flasche Ketchup. Das rote Tomatenmark tropfe an der Puppe entlang zu Boden und bildete dort die ‚Blutlache‘.
„Mord aufgeklärt. Der Leiche geht es gut, sie scheint unverletzt“, sagte der Schaffner vergnügt. „Nur ihr Besitzer wird sich ärgern, sie hier zurückgelassen zu haben.“
Maike fand keine Worte. Doch Zugfahren wollte sie so schnell nicht mehr. Schon gar nicht allein.

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Texte: Cover wurde von mir erstellt
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2011

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