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Väterchen Frost war schon sehr alt. So alt, dass man es gar nicht mehr in Jahren zählen konnte. Sein Bart und Haupthaar waren schlohweiß und reichten ihm bis über die Hüfte. Auf dem Kopf trug er gerne eine Mütze aus Pelz und um seine annähernd menschliche Gestalt trug er einen langen, pelzgefütterten Mantel, der meist eisgrau erschien. Er brauchte ihn nicht, denn er fror nie, doch das einzige, was sein Herz (so er eins gehabt hätte) erwärmen konnte, war die Liebe, denn sonst erschienen ihm die Menschen genauso kalt, wie er selbst es war. Sein Atem verbreitete Frost und was er berührte, erstarrte zu Eis. Jahr für Jahr wanderte er so durch die Welt und brachte den Schnee und eisige Kälte mit sich.
Eines späten Abends zog er wieder mal in das Land, dass sich selbst Rossija nannte. Seine Wege führten ihn zu einem Park in der Nähe Moskaus. Da es ein sehr kalter Abend war, selbst für russische Verhältnisse, trieben sich nicht mehr viele Menschen dort herum. So fiel Väterchen Frost die kleine Menschengruppe sofort ins Auge, die sich um seltsame, fast durchsichtige Gegenstände versammelt hatten. Als Väterchen Frost näher trat, erkannte er, dass die Menschen um Eisskulpturen standen, die sie mit viel Eifer und Geschick formten. Mit Pickelchen und Hämmern, Schneidbrennern und Sägen gingen sie ans Werk. Es waren nicht mehr viele da, denn der Park schloss schon bald und das Licht war schon lange nicht mehr optimal zum arbeiten. Sie bemerkten ihn nicht, denn sie konnten ihn nicht sehen, so konnte er unerkannt unter ihnen wandeln.
Langsam streifte Väterchen Frost durch die Reihen der eisigen Figuren. Die meisten stellten Tiere dar, doch es waren auch viele abstrakte Werke dabei. Eine Skulptur zog ihn besonderes an. Es zeigte ein Eislaufpärchen, das sich gerade zu einer Drehung um die eigene Achse zueinander zog. Das Kleid der Frau flog um ihre Gestalt und ihre Gesichter waren mit viel Liebe zum Detail gestalten worden. Ein Mann arbeitete noch daran und erhitzte die Oberfläche, um sie leicht anzuschmelzen, damit sie schön glänzte und kristallklar erschien. Neben ihm stand eine Frau und bewunderte das Werk. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie die Vorlage für die Eisprinzessin war. Dem Mann war es sogar gelungen, ihr lockiges Haar exakt herauszuarbeiten.
„Es ist wunderschön, Nikolai“, hauchte sie und Väterchen Frost sah in ihren Augen die Liebe glühen, um die er die Menschen so sehr beneidete.
„Bei solch einer wunderschönen Vorlage konnte es ja nicht anders werden, Inna“, sagte Nikolai liebevoll und verpasste der Figur den letzten Schliff.
Ein weiterer Mann, der unweit von ihnen an einem Drachen gearbeitet hatte, kam herüber gestapft und betrachtete Nikolais Skulptur spöttisch. „Was soll das sein? Zwei tanzende Bären?“, fragte er hämisch.
Väterchen Frost verschränkte ärgerlich die Arme vor der Brust. Nikolai hatte Talent und was er bisher so gesehen hatte, würde sich der Wettbewerb zwischen Nikolai und dem hochnäsigen Mann entscheiden. Sein Spott war damit unangebracht.
„Sei still, Sergej“, versetzte Inna wütend.
„Du hättest bei mir bleiben sollen, Inna. Wenn ich morgen den ersten Platz belege, wirst du schon noch begreifen, dass du dich für den Falschen entschieden hast“, erwiderte Sergej böse. Dann bückte er sich und hob den Schneidbrenner auf, den Nikolai beiseitegelegt hatte. Mit einer schnellen Bewegung drehte er die Flamme auf und zog das glühende Ende über die Köpfe der beiden Eistänzer.
Nikolai brüllte auf und stürzte sich auf Sergej, doch er war zu langsam. Völlig verunstaltet fielen die Köpfe zu Boden und zersprangen in tausend Stücke.
„Nein!“, schrie Inna und fiel schluchzend neben den Bruchstücken zu Boden. „Wie konntest du nur!“
„So ein Unglück aber auch“, sagte Sergej hämisch und wehrte Nikolais Schläge lässig ab. Fast spielerisch leicht stieß er den tobenden Mann zu Boden und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „So ein Pech“, sagte er. „In zehn Minuten ist hier Schluss. Das wirst du wohl kaum schaffen, zu reparieren.“ Lachend drehte er sich um und stapfte davon.
Väterchen Frost hatte zornbebend dem Spektakel zugeschaut. Am liebsten hätte er den Rotzbengel sofort selbst in eine Eisskulptur verwandelt, doch es war ihm strengstens verboten, absichtlich jemandem Leid zuzufügen. So konnte er nichts tun, außer vor Wut zu schnauben und dem armen Pärchen zuzuschauen, wie es geknickt den Park verließ. Doch so leicht wollte Väterchen Frost dieses Unbill nicht gestatten. Er wartete bis der Parkwächter durch die Reihen gegangen war und alles kontrolliert hatte, dann bückte er sich und hob die zersprungenen Teile auf. In einer einzigen, fließenden Bewegung fügte er sie wieder zusammen und setzte sie zurück an ihren Platz auf den durchsichtigen Tänzern. Kein einziger Riss, kein Splitter, zeugte mehr von ihrem desolaten Zustand. Schön wie zuvor sahen die Köpfe aus. Väterchen Frost hauchte noch seinen Atem darüber. Morgen würden sie perfekt in der Sonne glänzen. Dann ging er weiter zu der Drachenskulptur von Sergej. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck machte er sich daran, die Figur zu verunstalten. Die spitzen Zähne entfernte er, die lange Schnauze ließ er nach unten hängen, als hätte sie jegliche Stabilisation verloren. Den wilden Blick verwandelte er in einen dösig Verschlafen und zum Schluss hauchte er noch über die Skulptur, so dass die Oberfläche eintrübte und rau wurde. Damit würde Sergej mit Sicherheit keinen Preis mehr gewinnen. Zufrieden betrachtete Väterchen Frost sein Werk. Der nächste Tag konnte kommen.

Als die Jury am kommenden Morgen vor Sergejs Skulptur standen, wunderten sie sich sehr, wie er dieses Jahr nur hatte dermaßen versagen können, denn sonst lieferte er immer tadellose Figuren ab. Sergej konnte es sich nicht erklären. Als er früh am Morgen zurückgekommen war, hatte er alles darangesetzt, die Skulptur wieder zu richten, doch umsonst. Er hatte es nicht einmal mehr geschafft, die Oberfläche wieder zum glänzen zu bringen. Wutentbrannt war er schließlich zu Nikolai und Inna gestürmt, die völlig fassungslos vor ihrer wiederhergestellten Skulptur standen und darüber rätselten, wie dieses Wunder hatte geschehen können.
„Du!“, brüllte Sergej und stieß Nikolai grob zu Boden. „Du hast meine Skulptur ruiniert!“
„Wovon redest du?“, erwiderte Nikolai völlig verwirrt.
„Wovon ich rede?“, brüllte Sergej schnaubend, packte Nikolai am Kragen und zerrte ihn zu seiner Skulptur. „Davon!“
Völlig verblüfft starrte Nikolai die verunstaltete Figur an. „Wie konnte das passieren?“, fragte er.
„Das frage ich dich, du Mistkerl!“, fauchte Sergej.
„Wann hätte er das denn bitte machen sollen?“, erwiderte Inna heftig. „Der Park war bis vor einer halben Stunde geschlossen. Du kannst ja den Wächter fragen, ob wir in der Nacht hier waren!“
Das ließ sich Sergej nicht zweimal sagen, doch der Wächter konnte nur Innas Worte bestätigen. Als alle am vorigen Abend gegangen waren, war die Skulptur noch im einwandfreien Zustand gewesen und als er den Park am nächsten Tag geöffnet hatte, hatte er sie bereits in ihren desolaten Zustand vorgefunden. Doch im Park war mit Sicherheit niemand gewesen. Ganz abgesehen davon war es unmöglich die Figur in so kurzer Zeit auf solch groteske Weise zu verändern. Dafür hätte man die Figur von Grund auf neu schnitzen müssen. Auch die neuen Köpfe von Nikolais Skulptur konnte sich niemand erklären.
Sergej musste sich schließlich zähneknirschend eingestehen, dass Nikolai nicht dahinter stecken konnte. Und als Väterchen Frost dann auch noch seine Kleidung ein wenig steiffror, war es endgültig um seine Selbstbeherrschung geschehen. Schreiend vor Angst rannte er aus dem Park und ward dort nie wieder gesehen. Nikolai und Inna jedoch konnten freudestrahlend den ersten Preis entgegen nehmen.
Lächelnd sah Väterchen Frost der Preisverleihung zu. Schließlich drehte er sich um und stapfte davon, um einen anderen Landstrich frischen Schnee zu bringen.

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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011

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