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Eleonora hatte alles, was sie sich nur wünschen konnte. Zwei Schlafzimmer, ein eigenes Wohnzimmer, ein riesiges Bad mit Whirlpool, ein Pferd, ein Pony, zwei Hunde, drei Katzen, einen Papagei, der einen eigenen Sprachlehrer hatte und, und, und. Sie war gerade einmal acht Jahre alt und hatte so viel Spielzeug, dass sie sich nicht einmal sicher war, ob sie mit jedem schon einmal gespielt hatte. Nur eines hatte sie nicht: das Lachen. Schon zu oft hatte sie Clowns gesehen, schon zu viele alberne Akteure, die man extra für sie bestellt hatte, zu Gesicht bekommen. All diese Dinge konnten ihr keine Freude mehr machen. Ihre Eltern hatten ihr alles gekauft, was sie sich nur hatte wünschen können, doch nichts davon konnte ihr auch nur ein Lächeln entlocken. So kam das nächste Weihnachtsfest heran, ohne dass sich Eleonora auch nur im Geringsten darauf freute.
Teilnahmslos schaute sie auf die unzähligen Geschenke, die unter einer gut zwei Meter großen und überreich geschmückten Nordmanntanne verteilt lagen. Kunstvoll waren sie in buntes Weihnachtspapier verpackt, mit hübschen Schleifen verziert und sorgsam drapiert. Der Geschenke-Service gab sich jedes Jahr wirklich viel Mühe.
Ihr Blick wanderte durch den Raum und blieb für einen Moment an ihrem Vater hängen. Er stand am Fenster, das Handy am Ohr, wie fast immer und telefonierte mit einem seiner Geschäftspartner. Selbst an Heilig Abend hatte er nicht frei. Der Firma war es egal, was für ein Tag war. Auch die Mutter interessierte sich nicht für den Baum. Ihr Blick hing an der Mattscheibe, über den gerade einer der unzähligen Spielfilme flimmerten, die sie so gerne schaute.
Eleonora seufzte. Lustlos packte sie ein Geschenk aus. Noch eine Puppe. Ein leeres Gesicht, das sie aus starren, blauen Augen anschaute. Sie legte sie beiseite. Aus dem Radio plätscherte Weihnachtsmusik. Vor den Fenstern fielen kleine, weiße Flocken vom Himmel und bedeckten den parkgroßen Garten mit einer weichen Schneedecke.
Leise drehte sich Eleonora um und huschte in den Flur. Sie schlüpfte in ihren dicken Wintermantel, zog wahllos eine Mütze aus dem Schrank und ging dann nach draußen. Wohltuende Stille umfing sie. Der Weg bis zum Gartentor war von einer Lichterkette gesäumt. Auch die Bäume und Büsche waren von den Gärtnern mit elektrischen Kerzen geschmückt worden. Sie blinkten und funkelten in den unterschiedlichsten Farben. Im Zentrum stand ein lebensgroßer, leuchtender Weihnachtsmann in einem Rentierschlitten.
„Das einzige, was ich mir gewünscht habe, hast du mir nicht geschenkt“, flüsterte Eleonora und wischte sich eine Träne von der Wange. Leise schloss sie das Tor hinter sich und lief die Straße hinunter. Es war ihr egal, wohin sie ging, sie wollte einfach nur weg, der Leere in ihrem Inneren davonlaufen. Schließlich kam sie an einer Kirche vorbei. Eleonora hörte einen Chor daraus schallen. Vorsichtig schob sie das mächtige Kirchenportal ein Stückchen auf und spähte in das Halbdunkel. Im Kirchenschiff brannte kein Licht, lediglich vorne neben dem Altar strahlte ein großer Weihnachtsbaum im Licht seiner Kerzen. Die Menschen in der brechend vollen Kirche hatten sich alle erhoben. Zu tiefen Orgeltönen sangen sie ‚Stille Nacht‘. Ergriffen lauschte Eleonora den vielen Stimmen. Es war nicht der zwar perfekte, aber einsame Song wie aus dem Radio. Es war eine Verbundenheit, eine Einheit in diesem Lied, die Eleonora das Herz erwärmte.
Als das Lied vorbei war und die Lichter im Kirchenschiff wieder aufflammen, blieb Eleonora wie angewurzelt stehen. Erst als die ersten Kirchengänger auf den Ausgang zusteuerten, scheute Eleonora zurück. Sie zog sich hinter einem Baum zurück und beobachtete, wie Familien Hand in Hand aus der Kirche strömten, lachten und herumtollten. Sie sah leuchtende Kinderaugen, Omas und Opas, die von ungeduldigen Kindern nach Hause gezerrt wurden, Väter, die ihre Kinder Huckepack trugen. Erneut beschlich sie eine traurige Einsamkeit.
Still wandte sie sich ab und entfernte sich von der Kirche. Sie lief und lief, bis sie schließlich an den Stadtrand kam, wo nur noch die winzigen Häuser der Ärmsten standen. Hier fand man nur noch spärliche Weihnachtsbeleuchtung, einfache, Lametta in den Büschen und nur selten ein blinkendes Lämpchen.
Auf einmal hörte sie ein Kind weinen. Ein Elternpaar trug ein kleines Mädchen ins Haus, dem die Tränen dick und rund über die Wangen liefen.
„Nächstes Jahr gibt es bestimmt wieder ein Geschenk. Wenn Papa eine Arbeit hat“, sagte die Mutter und drückte das Kind mit unglücklichem Gesicht an sich. Der Vater sah bekümmert zu Boden und sperrte die Haustüre auf.
Eleonora wurde es schwer ums Herz. Zuhause lagen dutzende Geschenke und dieses arme kleine Mädchen bekam nicht einmal eins. Und das, obwohl Weihnachten war! Ihr Blick huschte zu dem Haus nebenan. Durch das Fenster sah sie in ein kleines Wohnzimmer. Dort saßen vor einem großen Blatt Papier, das mit Wollfäden quer durch den Raum gespannt war, eine Mutter mit einem Kleinkind auf dem Schoß, daneben der Vater mit einem aufgeschlagenen, abgewetzten Buch in der Hand. Hinter dem Papier saßen ein Junge und ein Mädchen. Sie hielten Figuren aus Pappe in der Hand, die sie dicht hinter das Blatt hielten. Eine klobige Taschenlampe, die auf einem Stuhl hinter ihnen lag, warf die Schatten der Figuren auf das Papier. Rechts an der Wand lehnte ein Tannenzweig, der mit ein paar Papierstreifen geschmückt war. Eine karge Version eines Weihnachtsbaums.
Neugierig ging Eleonora näher. Das Fenster schloss nicht ganz dicht, so dass sie die Stimme des Vaters hörte, der aus dem Buch vorlas.
„Maria und Josef gingen in den Stall. Ein Ochse und ein Esel waren ihre einzigen Gesellen. Der Boden war mit Heu und Stroh bedeckt. In einer Ecke stand eine Krippe. Maria wusste, dass ihr Kind bald das Licht der Welt erblicken würde. Sie sagte:“
„Oh, Josef, es ist soweit“, sagte das Mädchen hinter dem Papier und ließ ihre Puppe wild hin und herspringen. Das kleine Mädchen auf dem Schoß der Mutter quietschte entzückt und klatschte in die Patschehändchen. Vater und Mutter lächelten sich an.
„Wir bekommen das Kind schon geschaukelt“, brummte der Junge mit möglichst tiefer Stimme, ehe er über sein Wortspiel in Gekicher ausbrach. Das Mädchen stieß ihm in die Rippen, fiel dann aber in das Gelächter ein. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Eleonoras Gesicht. Sie merkte es kaum, so gebannt war sie von dem Schauspiel. Wie viel Spaß diese Familie hatte! Und das, obwohl sie nicht einmal einen richtigen Weihnachtsbaum hatten.
„Schon bald darauf erblickte das kleine Jesuskind das Licht der Welt“, las der Vater weiter vor. Das Mädchen hob eine weitere Pappfigur vom Boden auf und hielt sie neben Maria. Es war das kleine Jesuskind.
„Josef nahm das Kind in die Arme und –“, sprach der Vater und hielt inne, als Eleonora plötzlich das Gleichgewicht verlor und gegen die Scheibe stieß. Erschrocken rappelte sie sich auf und wollte wegrennen. Doch in diesem Moment wurde die Tür geöffnet und die Familie blickte zu ihr hinaus.
„Wer bist du und was machst du hier?“, fragte der Vater überrascht.
„Ich… ich weiß nicht“, stotterte Eleonora zitternd.
Die Mutter sah sie fragend an. „Hast du denn kein Zuhause? Es ist doch Weihnachten…“
Eleonora brach in Tränen aus.
Die Eltern sahen sich kurz an, dann drückte die Mutter dem Vater kurzentschlossen das Kleinkind in die Arme.
„Komm erst mal rein“, sagte sie und kam zu Eleonora hinaus in die Kälte. Sie legte dem Mädchen den Arm um die Schulter und schob sie sanft in die warme Stube. Der Vater schloss die Tür und die Familie versammelte sich um Eleonora.
„Gibt es denn niemanden, der dich vermissen wird?“, fragte die Mutter.
Eleonora schüttelte schniefend den Kopf. Die Eltern würden wahrscheinlich nicht mal merken, dass sie nicht mehr da war. Die waren schließlich mit anderen Dingen beschäftigt. Sie interessierten sich ja nicht für sie.
„Also gut, dann kannst du für heute Abend hierbleiben“, sagte die Mutter.
Eleonora sah mit tränennassem Gesicht auf. „Wirklich?“
„Natürlich“, sagte der Vater. „Es ist doch Weihnachten. Das Fest der Liebe.“
„Danke“, schluckte Eleonora. „Möchtet… würdet ihr vielleicht mit der Geschichte weiter machen?“
Der Vater lächelte. „Natürlich. Möchtest du mitspielen? Du könntest das Jesuskindlein halten.“
„Wirklich?“, fragte Eleonora und ihre Wangen fingen an zu glühen.
„Wirklich“, sagte die Mutter und schob Eleonora hinter das Blatt. „Hier.“ Sie reichte Eleonora das Kind aus Pappe, das an einem Holzspieß befestigt war.
Der Vater setzte sich wieder vor das Papier und nahm das Buch in die Hand. „Josef nahm das Kind in die Arme und sah es liebevoll an.“
Der Junge beugte den Papp-Josef zu Eleonoras Papp-Kind hinunter.
„Maria wickelte das Kind in weiße Windeln und legte es in die Krippe“, las der Vater.
Eleonora nahm die Krippe hoch, die in einer Schachtel am Boden lag und hielt das Baby darüber.
„Hui, Josef, unser Kind kann fliegen“, kicherte das Mädchen. Der Junge stimmte mit ein und da musste auch Eleonora lachen. Das erste Mal seit langer, langer Zeit. Sie lachte und lachte und mochte gar nicht mehr aufhören. Es strömte einfach aus ihr hinaus, als hätte es ewige Zeiten darauf gewartet. Wie kleine Glöckchen schien es über ihr zu schweben und sich immer mehr und mehr auszubreiten.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Der Vater runzelte erstaunt die Stirn und stand auf. Als er die Tür öffnete, blickten ihm drei Personen entgegen. Eine Frau, ein Mann und ein Polizist.
Eleonora wandte sich um und erbleichte. Es waren ihre Eltern.
„Eleonora!“, kreischte ihre Mutter als sie das Kind erblickte und lief in den Raum hinein. Schluchzend kniete sie sich neben das Mädchen und drückte es an sich.
„Mama“, sagte Eleonora, überrascht von der Emotionalität der Mutter. Sie schien sie wirklich vermisst zu haben!
Jetzt kam auch der Vater herein und drückte Eleonora an sich. „Mach das nie wieder“, sagte er mit erstickter Stimme. „Wir haben dich überall gesucht!“ Hatte er etwa Tränen in den Augen? Ihr Vater? Auf einmal schämte sich Eleonora, dass sie weggerannt war.
„Warum bist du nur weggelaufen?“, schluchzte die Mutter. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Zum Glück hast du deine Mütze vor der Tür verloren, sonst hätten wir dich nie gefunden!“
„Komm, wir gehen nach Hause“, sagte der Vater.
„Nein!“, sagte Eleonora. So sehr sie sich auch darüber freute, dass ihren Eltern wohl doch mehr an ihr lag, als sie geglaubt hatte, so wollte sie doch noch nicht von hier fort. „Bitte, ich will noch die Weihnachtsgeschichte zu Ende hören.“
Die Eltern sahen auf das abgewetzte Buch und die schlecht ausgeschnittenen Pappfiguren hinunter. „Wir kaufen dir eine richtige Krippe und eine DVD mit der Weihnachtsgeschichte“, sagte der Vater.
Eleonora verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, das will ich nicht“, sagte sie fest. „Ich will Weihnachten hier feiern.“
„Aber Kind“, sagte der Vater bestürzt. „Ohne richtigen Baum. Und deine Geschenke hast du auch noch nicht ausgepackt!“
„Ich will diese Geschenke nicht“, sagte Eleonora. „Sie sollen an all die armen Kinder hier verteilt werden. Ich wünsche mir nur eins: hier die Weihnachtsgeschichte zu Ende zu hören. Bitte.“
Der Vater seufzte ergeben. „Also gut.“ Er wandte sich der Familie zu, die schweigend zugehört hatte. „Ich werde sie natürlich entsprechend entschädigen, wenn sie meiner Tochter diesen Wunsch erfüllen würden.“
Der andere Vater hob abwehrend die Hände. „Wir wollen ihr Geld nicht. Die leuchtenden Augen ihrer Tochter sind uns Lohn genug.“
Da sah Eleonoras Vater überrascht auf. Diese Leute hier waren so arm und wollten trotzdem sein Geld nicht. Doch sie sprachen von einer Sache, die er seinem Kind nicht hatte schenken können. Er sah seine Tochter an und sah die Freude darin, die er schon so lange nicht mehr darin erblickt hatte. Und da wusste er: dieser Abend hier war das größte Geschenk für sein Kind. Er setzte sich auf den Boden und zog seine Tochter an sich. „Dann bleiben wir gerne hier“, sagte er.
Seine Frau ließ sich neben ihn nieder und so schauten sie gemeinsam verzückt dem Weihnachtsspiel zu.
Den Rest des Abends verbrachten sie auch noch bei der Familie und so lange und so gut hatten sie sich schon ewig nicht mehr unterhalten und vor allem gelacht. An diesem Abend entstand ein Band der Freundschaft, das über die Jahre hinweg andauern sollte und mit viel Liebe gepflegt wurde.
Als es Zeit war zu gehen, packte Eleonora die Hand ihres Vaters. „Vati, eine Bitte hab ich noch. Schnell, fahren wir heim!“
Der Vater sah sie verblüfft an, sperrte aber den großen Geländewagen auf und fuhr Frau und Kind nach Hause.
„Schnell, helft mir!“, rief Eleonora und lief ins Haus. Sie packte ein paar ihrer Geschenke und trug sie zum Wagen. „Ladet sie alle ins Auto!“
Vater und Mutter sahen sich irritiert an, taten ihrer Tochter jedoch den Gefallen. Gemeinsam schleppten sie alle Geschenke in den Wagen, der trotz seiner Größe fast zu klein für diese Last war. Schließlich quetschte sich Eleonora auf dem Beifahrersitz auf den Schoß ihrer Mutter und wollte zurück ins Armenviertel gefahren werden.
Als sie dort ankamen, drückte Eleonora wie wild immer wieder auf die Hupe. Als der Vater anhielt, sprang sie aus den Wagen.
„He, ihr Familien, kommt alle heraus! Hört ihr mich? Ich habe etwas zu verkünden!“, brüllte sie.
Fenster schlugen auf, Türen öffneten sich und Väter, Mütter und Kinder versammelten sich um Eleonora.
„Ich weiß, dass bei vielen heute Nacht das Christkind nicht da war“, sagte sie mit lauter Stimme. „Das war ein Fehler des Weihnachtsmanns. Er schickt mich nun, um den wieder gut zu machen!“
Sie öffnete die Heckklappe des Wagens. „Diese Geschenke sind für euch alle!“
Die Menschen staunten nicht schlecht, als sie die vielen Geschenke sahen. Kinder blickten ihre Eltern fragend an, doch es dauerte nicht lange, bis sie auf Eleonora zusprangen und sich ihr Geschenk holten.
Mit leuchtenden Augen und einem hellem Lachen im Gesicht verteilte Eleonora ihre Geschenke und das erste Mal seit langem verspürte sie wieder Freude über ihre Geschenke. Denn mit ihnen konnte sie so viel Gutes tun. Auch das kleine Mädchen, das vorhin so bitterlich geweint hatte, erhielt nun ein schönes Geschenk. Da strahlte es über beide Backen und umarmte Eleonora. „Du musst ein Engel sein!“, flüsterte es und lief mit dem Päckchen zurück zu den Eltern, die sie dankbar ansahen.
Als Eleonora an diesem Abend ins Bett ging, faltete sie die Hände vor der Brust und flüsterte: „Danke, dass mein Wunsch doch noch wahr wurde! Das war das schönste Weihnachtsfest meines Lebens!“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die in Weihnachten kein Konsumfest sehen, sondern ein Fest der Liebe

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