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Tony war ein ganz normaler Junge. Er war durchschnittlich groß, hatte braune Augen und Haare und war leicht übergewichtig. Er hatte nicht sehr viele Freunde. Die meisten Jungs ließen ihn links liegen, was er gern so hatte, denn so konnte er ungestört seinen Tagträumereien hinterher hängen.
Genau dieser Lieblingsbeschäftigung ging er auch nach, als seine Klasse einen Schulausflug ins Grüne machte. Er hörte dem Überlebenskünstler oder Waldguru, der sie führte, gar nicht mehr richtig zu, sondern träumte vor sich hin. Und als er endlich aufblickte, war er auf einmal allein. Mitten im Wald. Ohne erkennbaren Weg. Shit.
Zaghaft rief er nach seinem Kumpel, doch niemand antwortete.
Er rief etwas lauter.
Dann brüllte er fast.
Nichts.
Hastig stolperte er ein paar Schritte weiter, doch er konnte niemanden entdecken. Nicht einmal Fremde.
Sein Herz begann zu rasen und seine Hände wurden schweißnass. Scheiße, er hatte sich in einem fremden Wald verirrt und hatte nicht mal sein Handy dabei! Was jetzt?
Angestrengt lauschte Tony, doch er konnte nur das Rauschen der Blätter in den Bäumen hören. Und das Plätschern eines Flusses. Wie hatte der Guru den gleich noch mal genannt? Es fiel Tony nicht mehr ein. Aber wenn er dem Fluss folgte, dann musste er doch irgendwann aus diesem verdammten Wald kommen und auf Zivilisation stoßen, oder? Besser als hier dumm rumzustehen und sich vor Angst in die Hosen zu machen.
Tony folgte also dem Fluss und kam bald darauf auf einer Lichtung heraus. Und dort auf dieser Lichtung, direkt am Fluss stand eine alte Mühle. Sie war nicht mehr im Betrieb. Das Mühlrad wurde zwar vom Wasser umspült, doch es drehte sich nicht um ein Grad.
Die komplette Mühle war aus Holz erbaut, dass an einigen Stellen im Laufe der Zeit schon morsch geworden war.
Tony schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Alles war okay, er brauchte keine Panik schieben. Hier hatte es schon mal Zivilisation gegeben, bestimmt führte ein Weg von der Mühle weg in die nächste Stadt. Mit schräg gelegtem Kopf lauschte er dem Rauschen des Flusses, unter das sich eine leise Melodie mischte.
Ruckartig riss Tony die Augen auf. Was war das für eine Melodie? Summte da jemand? Er kniff die Augen zusammen und suchte die Lichtung ab, konnte jedoch niemanden entdecken.
Mit angehaltenem Atem ging Tony auf die Mühle zu. Versteckte sich da drinnen jemand? Nein, die Stimme kam mehr vom Bach. Er folgte ihr und verließ sich dabei auf sein gutes Gehör.
Und dann sah er sie…
Es…
Was auch immer.
Was war es? Es mochte ein Mädchen sein, doch ihre Füße… Sie hatte keine Füße, ihre Beine schienen zusammengewachsen zu sein. Nein, es war ein Fischschwanz, der sich schuppig ab ihrer Hüfte abwärts schlängelte und halb ins Wasser hing. Die Nixe – oder was immer sie war – saß auf einem wasserumspülten Stein inmitten des Flusses. Sie hatte algengrüne Haare, die sich in wilden Locken um ihren halbnackten Körper wellte. Sie trug lediglich ein Bikinioberteil, der sich sanft an ihre blasse Haut schmiegte.
Sie hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Rauschen des Bachs und dann fing sie wieder mit ihrer lieblichen Stimme an zu Summen.
Tony war der Mund offen stehen geblieben. Völlig verdutzt starrte er auf das märchenhafte Geschöpf, das eigentlich nur ein Produkt seiner Fantasie sein konnte. Nixen gab es nicht. Nicht im wirklichen Leben. Er war so vor den Kopf geschlagen, dass er stolperte und hinfiel. Erschrocken stieß er einen Schrei aus.
Jetzt wurde die Nixe auf ihn aufmerksam. Sie machte ein entsetztes Gesicht und glitt geschmeidig, aber atemberaubend schnell ins Wasser.
„Nein, warte!“, rief Tony und rappelte sich hastig wieder auf. Er stolperte zum Ufer und schaute sich nach der Nixe um. „Komm zurück!“, bat er. „Ich tu dir nichts, ich verspreche es!“
Vorsichtig tauchte ein grüner Schopf hinter einem Stein auf. Zwei mandelförmige, himmelblaue Augen musterten Tony, als müsste sie prüfen, ob er die Wahrheit sagte.
„Wer bist du?“, fragte sie mit ihrer sanften, schönen Stimme.
„Ich bin Tony. Und du?“
„Molina Rivi“, stellte sich die Nixe vor.
„Du kannst wunderschön Summen, Molina“, sagte Tony und kam sich dabei ziemlich dumm vor. Vor Scham lief er rot an. Wunderschön Summen? Wie bescheuert hörte sich das denn an! Kein Wunder, dass noch nie ein Mädchen mit ihm ausgegangen war.
„Vielen Dank“, sagte Molina jedoch und lächelte zaghaft. „Ich summe gern. Noch lieber jedoch spiele ich meine Muschelflöte.“
„Muschelflöte?“, echote Tony verwirrt. Von diesem Instrument hatte er noch nie gehört. Von Nixen aber auch nicht, von daher war es wohl nicht weiter verwunderlich.
„Ja, ich hatte eine wunderschöne Muschelflöte. Wenn man sie in die Sonne hielt, dann schillerte ihr Perlmutt in allen Farben“, schwärmte Molina.
„Wieso hatte?“, fragte Tony, dem die Vergangenheitsform durchaus aufgefallen war, auch wenn sein Hirn etwas vernebelt war von ihrer lieblichen Schönheit.
„Ach“, seufzte Molina. „Jetzt liegt sie dort oben, unerreichbar für mich.“ Sie deutete schräg hinter sich und Tony wandte den Kopf, um in die gewiesene Richtung zu schauen. Molinas Finger zeigte direkt auf das Mühlenrad.
„Deine Muschelflöte liegt auf dem Mühlenrad?“, fragte Tony nach.
„Ja“, seufzte Molina. „Ich dummes Ding habe sie auf ein Schaufelblatt gelegt und dann blieb die Mühle stehen. Jetzt komme ich nicht mehr ran und kann nie wieder meine Flöte spielen.“ Unglücklich strich sie über ihren Fischschwanz. „Ich kann unmöglich an Land gehen und da raufklettern.“
„Ich kann sie dir holen!“, sagte Tony sofort und kam sich richtig heldenhaft vor.
„Ach“, sagte Molina und sah ihn von unten herauf mit einem koketten Augenaufschlag an. „Das würdest du tun?“
Tony nickte wild. „Natürlich!“, sagte er eifrig. „Warte nur hier, ich hole sie dir sofort!“ Und ohne eine Antwort abzuwarten sprang er auf und rannte zu der Mühle. Er spürte den Blick der Nixe auf sich ruhen. Das machte ihn zwar fahrig und dadurch noch tollpatschiger, aber zugleich schoss ihn auch jede Menge Adrenalin durch die Adern. Das war gut, sonst hätte er den Anstieg vielleicht nie geschafft.
Keuchend klammerte er sich an ein Schaufelblatt der Mühle und versuchte verzweifelt den Gedanken daran, dass sich die Sperre des Mühlrads jederzeit lösen und er unter Wasser gedrückt werden könnte, zu verdrängen. Mühsam hangelte er sich ein Stück nach oben. Er wagte es nicht, nach unten zu schauen, da er nicht ganz schwindelfrei war.
„Für Molina“, flüsterte er sich selbst Mut zu und zog sich noch ein Stückchen weiter hoch. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, doch er hatte das Ziel schon vor Augen. Dort oben lag die Muschelflöte. Es war eine hübsche, zartrosa Muschel, die aussah wie ein langgestrecktes, gedrehtes Schneckenhäuschen. Tatsächlich schimmerte ihr Perlmutt im Sonnenlicht wunderschön.
„Ich hab’s gleich“, keuchte Tony und streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen berührten die kühle, glatte Oberfläche der Flöte. Er streckte sich noch ein bisschen weiter. Das Holz des Mühlrads ächzte bedrohlich unter Tonys Gewicht, doch Tony hörte es über das Rauschen des Bluts in seinen Ohren gar nicht mehr. Er packte die Muschelflöte und hielt sie triumphierend hoch.
„Ich hab sie!“, brüllte er, in der Hoffnung, dass Molina ihn dort unten trotz des rauschenden Wassers hören konnte. Er vermeinte, eine zarte, glockenklare Antwort zu bekommen, konnte sie aber nicht verstehen.
Vor Aufregung und Erschöpfung am ganzen Leib zitternd, machte er sich an den Abstieg. Dabei fiel er fast in den Fluss, aber irgendwie gelang es ihm, sich doch noch an das Ufer zu retten.
„Hier, bitte“, sagte Tony und hielt Molina die Flöte hin. Verschämt bemerkte er, dass das Instrument in seiner Hand zitterte.
„Vielen Dank, mein tapferer Held“, schnurrte Molina, als hätte er gerade eine ganze Drachenarmee mit bloßen Händen niedergestreckt. „Würdest du mir noch einen Gefallen tun?“
Tony nickte. Für eine schöne Frau – oder Nixe – würde er doch gerne etwas machen.
„Würdest du mir eine kleine Melodie auf der Flöte vorspielen?“, fragte Molina zuckersüß.
Tony lief dunkelrot an. „Äh, ich… ich kann nicht Flöte spielen…“, stotterte er verlegen.
„Ach, das macht nichts. Blase einfach nur hier in die Öffnung“, sagte Molina sanft lächelnd. „Bitte. Tu es für mich.“
„Na gut“, murmelte Tony und gab sich einen Ruck. Er führte die Flöte zum Mund. Dabei bemerkte er aus den Augenwinkeln wie sich der Gesichtsausdruck von Molina für einen Sekundenbruchteil wandelte. Auf einmal sah sie überhaupt nicht mehr hübsch und süß aus, sondern gemein, gehässig und ein zufriedenes, höhnisches Grinsen legte sich für kurze Zeit auf ihren Mund.
In diesem Moment fiel Tony wieder ein, was der Guru über den Fluss gesagt hatte. Die Leute hier nannten ihn Teufelsfluss, weil in keiner Großstadt je so viele Menschen verschwunden waren, wie an diesem Gewässer. Oh shit!
Doch es war zu spät zum reagieren. Seine Arme führten den Befehl seines Gehirns bereits zu Ende aus und er blies in die Flöte, ehe er sich davon abhalten konnte. Ein dumpfer Ton erklang.
Im nächsten Moment vergaß Tony, wer er war, warum er hier war und dass ihm grade eben noch der Schreck in alle Glieder gefahren war. Jetzt war nur noch wohlig, weiche Watte in seinem Kopf, die jegliche Gedanken und Gefühle unterband.
„Und nun komm zu mir ins Wasser“, sagte eine liebliche Stimme.
Und Tony gehorchte widerstandslos. Die Stimme befahl, er gehorchte, so fühlte es sich richtig an. Er stapfte in den Fluss.
Das Wasser ging ihm bis zu den Knien.
Bis zur Hüfte.
Über den Bauchnabel.
Bis zum Hals.
Und dann schwappte ihm das Wasser über den Kopf.
Tony spürte die eisige Kälte des Flusses nicht. Er spürte den Luftmangel nicht. Und den Todeskampf, den sein Körper stumm focht, auch nicht. Er hatte keine Angst. Er wollte nur eins: dieser wunderbaren Stimme gehorchen.
Und dann war Tony tot.
In einem Wirbel aus grünen Funken verwandelte sich der Fischschwanz der Nixe in zwei menschliche Beine und sie schwamm an Land. Sie kletterte mühelos auf das Mühlrad und legte die Flöte auf den höchsten Punkt. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Dann lachte die Nixe gehässig.

Impressum

Texte: Copright Cover: ajanoli
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2010

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