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Es begab sich vor nicht allzu langer Zeit, dass eine Fee geboren wurde. Ihr Name war Miseresca. Miseresca gehörte zu den Feen des Mitleids.
Hierzu müsst ihr wissen, dass nur an einem einzigen Tag im Jahr, und zwar genau an Weihnachten, eine Fee aus dem selbstlosen Wunsch eines Kindes geboren wird. Wenn ein Kind sich an Heilig Abend etwas für ein anderes Lebewesen und nicht für sich selbst wünscht, entsteht daraus eine neue Fee.
Jede dieser Feen hat eine besondere Gabe. Wenn sie aus Hoffnung geboren wurde, schenkt sie fortan Hoffnung. Eine kleine Berührung, ein Wort, und der berührte Mensch erfährt Hoffnung. Oder Liebe, oder Glück, Freude; woraus auch immer die Fee entstand.
Miserescas kleiner Pate – so nennen die Feen das Kind, das sie ins Leben gerufen hat – war ein kleiner Junge. Sein Name war Flick. So hatten ihn die Menschen aus dem Waisenhaus getauft, weil er damals, als er wenige Tage nach seiner Geburt gefunden wurde, nichts, außer Flicken am Leib getragen hatte.
Er kam nun ins Krankenhaus, weil er sich den Arm gebrochen hatte. Und wie er so durch die Gänge des Krankenhauses strich – am Weihnachtsabend – sah er ein anderes Kind in einem Zimmer liegen. Es hatte die Augen geschlossen, trug eine Sauerstoffmaske und hing an elektronischen Geräten, die in regelmäßigen Abständen piepsten. Und an diesem Bett saßen seine Eltern und hielten weinend die Hände des Mädchens. Sie hatten ihr ein rosa Plüschpferd mit einem silbernen Geschenkband um den Hals auf die Brust gesetzt. Ihr Weihnachtsgeschenk an ihre geliebte Tochter.
In diesem Moment dachte Flick: „Ich wünschte, ich würde anstatt dem Mädchen dort liegen, denn ich habe keine Eltern, denen es Kummer machen könnte und die mich an Weihnahten beschenken wollen. Ich wünschte, sie würde jetzt gesund werden und wieder aufwachen.“
Kaum hatte er diesen Wunsch gedacht, da erglomm auch schon ein Haufen bunt schillernder Funken und Sterne, die sich in Windeseile zu einer Fee zusammensetzten. Sie war kaum größer als Flicks Hand, trug ein einfaches weißes Kleid und hatte silbern flirrende, halb durchscheinende Flügel auf dem Rücken. Aber Flick konnte sie nicht sehen, genauso wenig wie all die anderen Lebewesen auf dieser Welt. Doch man brauchte sie auch nicht zu sehen…
Miseresca wusste, was sie zu tun hatte. Sie flog zu Flick, legte kurz ihre Hand auf seine Schulter und flüsterte leise: „Danke.“ Dann schaute sie sich schnell um, entdeckte das kranke Mädchen und flog zu ihr. Erst berührte sie das Kind, dann dessen Eltern. Sie wünschte, sie könnte mehr tun, denn Mitleid hatten diese drei Menschen zuvor schon empfunden. Doch jetzt tat ihnen dieses Mitleid nicht mehr im Herzen weh, sondern wurde aufrichtig, ehrlich und voller Liebe empfunden.
Miseresca warf noch einen letzten Blick auf ihren Paten, dann verschwand sie mit einem Augenzwinkern ins Reich der Feen. Dort halten sich all die Feen auf, die gerade nicht unterwegs sind, um den Menschen Freude, Hoffnung, Liebe und Glück zu bringen.
Mit neugierigen, großen Augen sah Miseresca sich um. Das Reich der Feen war eine – im Moment – mit Schnee bedeckten Wiese mit angrenzendem Wald. Und es gab hunderte von Feen! In roten Kleidern die Feen der Liebe, in grünen Kleidern die Feen der Hoffnung, in orangefarbenen Kleidern die Feen der Freude. Und in goldenen Kleidern die Feen des Glücks. Doch eines fiel Miseresca sofort auf. Es gab nur sehr, sehr wenige Feen in weißen Kleidern.
In diesem Moment entdeckte eine Fee der Liebe sie. Mit hochgezogenen Augenbrauen flog sie zu Miseresca.
„Wer bist du denn?“, fragte sie.
„Ich bin Miseresca“, stellte sich Miseresca vor.
„Mein Name ist Amora“, erwiderte die andere Fee. „Ich bin eine Fee der Liebe.“ Dabei betonte sie das Wort Liebe, als wäre es das höchste der Welt. Dann musterte sie Miseresca abschätzig. „Und du eine Mitleids-Fee?“
Miseresca nickte schüchtern. Amora strahlte so eine Leidenschaft und Autorität aus, dass sie sich gleich ganz klein fühlte.
Amora schüttelte abschätzig den Kopf und flog davon. Doch Miseresca hörte sie noch „Zeitverschwendung, wer braucht schon Mitleid“ murmeln. Ihr wurde schwer ums Herz. Brauchten die Menschen kein Mitleid? War die Liebe wirklich so viel wichtiger als sie?
In diesem Moment tippte ihr jemand auf die Schuler. Miseresca wirbelte herum und sah sich einer grüngewandeten Fee gegenüber. „Hallo“, sagte die Fee. „Ich bin Esperence.“
„Mein Name ist Miseresca“, sagte Miseresca.
„Eine Fee des Mitleids, hm?“, meinte Esperence.
Miseresca nickte.
„Naja, kann ja nicht jeder eine Fee der Hoffnung sein, nicht wahr?“, sagte Esperence. „Da hast du eben Pech gehabt.“ Und schon war sie davongeflogen.
Miseresca ließ den Kopf hängen. Auch die Hoffnung schien sie nicht für wichtig zu erachten.
„Achtung!“, rief da eine Stimme.
Miseresca schaute auf und entdeckte zwei Fee, eine in goldenen, die andere in orangefarbenen Kleidern. Und wie schön die beiden im Sonnenlicht aussahen!
„Hallo“, sagte Miseresca. „Ich bin Miseresca.“
„Ja, ja“, sagte die orangegewandete Fee. „Ich bin Joy.“
„Und ich bin Fortuna“, ergänzte die goldene Fee. „Dir kann ich aber kein Glück bringen. Mitleid, tz, die Menschen brauchen wirklich was Besseres.“
Joy nickte zustimmend. „Wer Freude hat, braucht kein Mitleid mehr.“
Und hochnäsig rauschten Fortuna und Joy an Miseresca vorbei.
Miseresca jedoch kamen die Tränen. Liebe, Hoffnung, Glück, Freude, alles schienen die Menschen brauchen zu können, nur ihr Mitleid nicht! Hatte sie ihrem Paten denn helfen können? Nein! Hoffnung hätte er bekommen sollen. Liebe, weil er solch einen Wunsch ausgesprochen hatte. Und Glück, um Pflegeeltern zu bekommen. Und das Mädchen? Auch das hätte Glück gebraucht, um gesund zu werden. Und Freude konnte jeder von ihnen brauchen. Aber mit ihrem Mitleid hatte sie den vier Menschen gar nichts gebracht.
„Ach“, dachte Miseresca traurig, „ich bin zu nichts nutze. Die Menschen brauchen mich nicht.“ Und nach einem letzten, tränenverschleierten Blick über das Reich der Feen, verschwand sie und zog sich in den dunkelsten und kältesten Winkel der Menschenwelt zurück.

Doch nur wenige Tage später…
„Gott“, jammerte die Freuden-Fee Joy. „Ich kann die Menschen berühren und sie freuen sich trotzdem nicht richtig. Es ist, als wären sie krank!“
„Bei mir ist es genauso. Sie scheinen einfach nicht mehr richtig glücklich zu werden“, seufzte die zweite Fee, Fortuna.
„So ist es auch bei mir“, meinte Esperence, die Fee der Hoffnung. „Die Menschen hoffen nicht mehr wirklich. Es ist, als würde sie etwas bedrücken.“
„Bei mir ist es noch schlimmer“, klagte Amora, die vierte Fee. „Die Menschen wollen nicht mehr lieben. Das furchtbare daran ist, dass sie nicht einmal mehr an Liebe denken. Sie zeigen keinerlei Ambitionen mehr zu lieben.“
Gott hörte den Feen schweigend zu und nickte. „Ihr wisst, Gott sieht und weiß alles“, begann er. „So habe ich auch gesehen, wie ihr die neue Fee, Miseresca, behandelt habt.“
Die vier Feen sahen verlegen zu Boden.
„Ihr solltet euch auf die Suche nach ihr machen“, sagte Gott.
„Warum?“, fragte Amora.
„Die Menschen brauchen kein Mitleid, sie brauchen ein Wunder“, sagte Esperence.
„Ohne Miseresca wird die Menschheit eines Tages zu Grunde gehen“, sagte Gott jedoch.
„Wieso?“, fragte Joy verwirrt.
„Wenn die Menschen kein Mitleid mit anderen Menschen empfinden, warum sollten sie dann noch für sie hoffen? Wenn sie kein Mitleid für andere Menschen empfinden, wie können sie ihren Partner dann noch aufrichtig lieben? Und wenn sie kein Mitleid, keine Hoffnung und keine Liebe empfinden, wie können sie da noch Freude oder Glück empfinden?“
Und als Gott diese Worte aussprach, verstanden die vier Feen. Ohne das Mitleid ging es bei den Menschen genauso wenig, wie ohne Liebe oder Hoffnung, Freude oder Glück. Und so machten sich die Vier auf den Weg und stöberten Miseresca schließlich auf.
„Es tut uns Leid“, sagte Fortuna und reichte Miseresca die Hand.
„Wir haben uns selbst überschätzt“, entschuldigte sich Esperence.
„Wir haben uns sehr dumm verhalten“, meinte Joy.
„Wir bitte dich, zurück zu kommen und den Menschen wieder Mitleid zu bringen. Denn ohne dich sind wir sinnlos“, ergänzte Amora.
Miseresca sah die Feen mit großen Augen an. „Aber ohne die Liebe, Hoffnung, Freude und Glück könnten die Menschen erst recht nicht“, sagte sie und umarmte die Feen.
„Ab jetzt“, sagte Miseresca und ergriff die Hände von Amora und Fortuna, „sind wir ein Team!“
Und die Feen griffen sich an den Händen, bildeten so einen Kreis und flogen gemeinsam und lachend in die Luft. Von jetzt an, sollte keiner von ihnen mehr ausgeschlossen werden. Von jetzt an, sollte es den Menschen wieder gut gehen.
Und das erste, was sie gemeinsam machten: sie besuchten Flick und das kleine Mädchen und alle fünf Feen gaben ihr Bestes. Und so kam es, das ein kleines, genesenes Mädchen endlich einen Bruder bekam, Flick endlich eine Familie und die Eltern zwei gesunde Kinder.

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Tag der Veröffentlichung: 04.12.2009

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