Laura war fünf Jahre alt, als sie ihn das erste Mal sah. Es war ein Tag wie jeder andere auch, Ende September. Den ganzen Tag über hatte es gewittert und erst gegen Abend war die Sonne herausgekommen. Ihre Eltern waren an diesem Abend auf einem Wohltätigkeitsball und Marlene passte auf sie auf. Sie mochte Marlene recht gern, weil sie trotz ihrer 16 Jahre nicht so zickig wie die anderen Mädchen ihres Alters war.
Aber an diesem Tag war Laura recht zappelig, weil sie die ganze Zeit im Haus eingesperrt gewesen war. Sie warf sich im Bett unruhig hin und her, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. Es war kurz vor neun. Ihre Eltern würden noch stundenlang weg sein und Marlene wahrscheinlich fernsehen.
Doch als sie ins Wohnzimmer kam, lag ihre Babysitterin auf der Couch und schnarchte leise. Laura überlegte kurz, ob sie sie wecken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Leise schlich sie hinaus und lief in den angrenzenden Park. Am Ententeich stoppte sie und setzte sich auf eine Bank. Die war noch etwas feucht, doch das störte sie nicht. Sie starrte hinauf zum Himmel. Der Vollmond strahlte ihr kugelrund entgegen und sie erinnerte sich unwillkürlich an ein Lied, das die Mutter ihr oft vorgesungen hatte. Verstohlen schaute sie sich um, doch sie war allein. Mit leiser Stimme begann Laura zu singen.
Ein Himmel aus Seide,
Ein Geigen wie Wind;
Ein Planet aus Kreide,
Dort lebt das Mondenkind.
Jede Nacht sitzt er dort,
Ist immer für uns da.
Er scheint ja so weit fort,
Er ist uns aber nah.
Am vierten Mond im Jahr
Schau zu ihm hinauf;
Siehst du ihn ganz klar,
Nimmt alles seinen Lauf.
Ruf einfach voller Glück:
„Oh komm, oh Mondenkind.“
Strahlt hell der Mond zurück,
Dann kommt er ganz geschwind.
Während Laura sang, schien es ihr, als würde der Mond immer heller leuchten, bis der See schließlich im milchigen Licht lag und kleine, funkelnde Wellen schlug. Verträumt schaute Laure dem sanften Wiegen des Seegrases im Wind zu und lauschte dem leisen Rauschen des Wassers und dem Zirpen der Grillen.
Auf einmal legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Schreiend sprang Laura auf und wirbelte herum. Hinter der Bank stand ein etwa gleichaltriger Junge mit silberblonden, fast weißen Locken und einem breiten Grinsen im Gesicht. Er trug ein weites Hemd und eine flatternde Hose aus grauweiß gemustertem Stoff.
„Hallo“, sagte er freundlich und streckte ihr die Hand entgegen.
„Du hast mich erschreckt“, sagte Laura und verschränkte die Finger ineinander.
„Das tut mir Leid, es war nicht meine Absicht“, beteuerte der fremde Junge. „Aber immerhin hast du mich gerufen.“
„Ich hab was?“, fragte Laura erstaunt.
„Na, gerufen hast du mich. Oder besser: nach mir gesungen.“
„Du spinnst ja“, protestierte Laura.
„Oh komm, oh Mondenkind. Das waren deine Worte“, erklärte der Junge.
„Ja, na und? Das war nur ein Lied.“
Der Junge runzelte die Stirn. „Du willst also nicht, dass ich mit dir spiele?“, fragte er.
Laura zögerte. Das plötzliche Auftauchen des Jungen hatte sie erschreckt, aber andererseits wollte sie schon gerne mit ihm spielen, auch wenn er komisches Zeug redete. Denn so alleine spielen war schon etwas langweilig. Und ins Bett gehen wollte sie jetzt noch nicht.
„Na also“, sagte der Junge und lächelte wieder, wobei er eine Reihe strahlend weißer Zähne entblößte. „Ich bin übrigens Luno.“ Noch immer hielt er ihr die Hand hin.
Zögernd schüttelte Laura sie. „Laura.“
„Lass und spielen, Laura!“ Lachend zog er Laura an der Hand mit sich, bis sie den Spielplatz neben dem See erreicht hatten.
„Wollen wir eine Burg bauen?“, fragte er und sprang im hohen Bogen in den Sandkasten, der seltsamerweise ganz trocken war, obwohl es den ganzen Tag geregnet hatte.
„Ein Schloss, und oben drauf muss eine Fahne“, sagte Laura begeistert und griff nach einer Schaufel, die ein Kind vergessen hatte.
Gemeinsam schütteten sie einen großen Haufen Sand auf.
„Und jetzt mach die Augen zu“, sagte Luno.
„Warum? Dann seh ich doch gar nicht, was ich mache“, sagte Laura erstaunt.
Luno lächelte geheimnisvoll. „Tu es einfach.“
Laura zögerte kurz, dann machte sie die Augen zu. „Und jetzt?“
„Jetzt stell dir das Schloss vor. Mit all seinen Türmen und Erkern und Fenstern.“
Fest dachte Laura an ein wunderschönes Schloss. Es hatte unzählige, runde Türme mit Zinnen und runden Fenstern. Und ein riesiges Tor mit einer Zugbrücke.
„Hast du ein Bild vor Augen?“, fragte Luno.
Laura nickte.
„Denk ganz fest daran“, sagte Luno und griff nach ihrer Hand.
Angestrengt presste Laura die Lider zu.
„Und jetzt wirf dein Bild auf den Sandhaufen. Aber lass schön die Augen zu“, sagte Luno.
„Wie soll das denn gehen?“, fragte Laura.
„Stell dir dein Schloss einfach weiter fest vor und sag dem Sand, er soll sich formen.“
Stumm beschwor Laura dem Sand, sich zu formen.
„Gut so!“, rief Luno. „Und jetzt öffne die Augen.“
Laura blinzelte. Blinzelte noch einmal. Und riss erstaunt die Augen auf. Der Sand, der eben noch nur ein kleiner Haufen gewesen war, war nicht mehr ein einfacher Haufen. Ein prächtiges Schloss hatte sich daraus gebildet. Genau das Schloss, das sie sich gerade eben noch vorgestellt hatte!
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Laura begeistert.
„Ich hab damit fast nichts zu tun, das warst schon du“, sagte Luno lachend.
„Aber ich hab doch nichts gemacht“, protestierte Laura.
„Oh doch, eine ganze Menge. Ich hab dem ganzen nur ein bisschen nachgeholfen“, schmunzelte Luno. „Jetzt müssen wir nur noch eine Fahne basteln.“
„Ohja, aber aus was?“, fragte Laura und schaute sich eifrig um.
„Aus Blättern natürlich“, sagte Luno und sprang auf. Er lief zu einem Lindenbaum und pflückte drei längliche Blätter. „Welche Farben möchtest du haben?“, fragte er und hob einen geraden Zweig auf.
„Ich mag rosa“, sagte Laura.
„Und ich weiß“, meinte Luno.
„Und dann noch gold“, ergänzte Laura. „Schließlich ist es ein reiches, herrschaftliches Schloss mit einer wunderschönen Prinzessin!“
„Also rosa, weiß, gold“, wiederholte Luno und wickelte je ein Ende der Blätter um den Zweig. „Puste mal drauf“, sagte er und hielt Laura die Fahne hin.
Laura blies kräftig und die Blätter flatterten in ihrem Atemstrom. Und noch während sie flatterten, wechselten sie die Farben. Das oberste Blatt wurde rosa, das mittlere strahlend weiß und das unterste erglänzte golden. Selbst der Zweig färbte sich zu einer schwarzen Fahnenstange.
„Toll!“, hauchte Laura und nahm die Fahne entgegen. Voller Stolz steckte sie sie in die Spitze des höchsten Turms.
„Jetzt brauchen wir noch Bewohner“, sagte Luno.
„Ja, eine Prinzessin und ihre Zofe. Den König! Und ein Pferd und einen Stallburschen“, sprudelte Laura los. „Und natürlich eine Magd!“
„Langsam, langsam“, lachte Luno. „Nimm mal eine Hand voll Sand.“
Laura grub ihre kleine Hand in den Sand und hielt sie anschließend Luno hin. Ihre Augen leuchteten in gespannter Erwartung, welche Zauberei Luno jetzt für sie bereithielt.
„Augen zu!“, kommandierte Luno.
Gehorsam schloss Laura sie.
„Und jetzt stell dir deine Prinzessin vor.“
Laura dachte an eine wunderschöne Frau mit langen Haaren, einem prächtigem Kleid und einen spitzen Hut. Dann warf sie das Bild auf den Klumpen in ihrer Hand. Als sie die Augen wieder aufmachte, lag eine kleine Gestalt in ihrer Hand. Das Geschöpf bestand vollständig aus Sand, doch sie war so fein, dass es genauso gut eine echte Prinzessin hätte sein können. Selbst Augen, Nase und Mund besaß die Miniaturfigur. Staunend sah Laura sie an.
„Ihr fehlt ein Schleier an ihrem Hut“, stellte Luno fest und stand wieder auf. Vorsichtig wickelte er ein unbewohntes Spinnennetz auf und klebte es vorsichtig an die Spitze des Huts, wo es augenblicklich zu einem zarten Schleier wurde, der sich sanft im Wind bewegte.
„Setz sie doch mal in den Hof, während wir die anderen basteln“, schlug Luno vor.
Laura kam seiner Aufforderung nach. In den nächsten Minuten entstanden viele weitere Sandfiguren. König und Königin, Ritter und Knecht, Magd und Zofe. Auch zwei Pferde und ein Esel entstanden aus dem Sand. Sogar ein paar Hühner schälten sich aus einem Klumpen. Schließlich war der Hofstaat vollständig.
„Die Magd braucht noch einen Gemüsegarten“, sagte Laura eifrig.
„Stimmt, der König will sich schließlich auch gesund ernähren“, sagte Luno zustimmend und pflückte ein paar Blätter. „Hier.“ Er reichte Laura ein Blatt. „Reiß ein Stück ab und roll es zwischen den Fingern, bis es eine kleine Kugel ist.“
Laura rollte und rollte, bis sich acht kleine Kugeln auf ihrem Handteller stapelten.
„Jetzt musst du draufspucken“, sagte Luno.
Laura verzog das Gesicht. „Das ist doch eklig“, sagte sie.
Luno zwinkerte ihr zu. „Vertrau mir.“
„Na schön“, brummte Laura und sammelte Spucke im Mund. Schließlich spuckte sie auf ihre Hand. Doch der Speichel berührte nicht ihre Haut. Stattdessen schmiegte er sich um die kleinen Kügelchen und gleich darauf wuchsen kleine Salatblätter daraus hervor. Binnen Sekunden lagen nicht mehr verknödelte Ahornblätter auf ihrer Hand, sondern winzige Salatköpfe. Vorsichtig setzte Laura den Salat in den Hof. Unterdessen drehte Luno die restlichen Blätter zu langen Stangen.
„Einmal pusten, bitte“, sagte er und hielt Laura die Blätterstangen hin.
Laura spitzte die Lippen und blies. Sofort verwandelten die Blätter sich in lange, dünne Gräser, die an Binsen erinnerten.
„Schnittlauch“, erklärte Luno, als er Lauras fragenden Blick bemerkte. „So ein frisches Schnittlauchbrot ist schon was Feines.“ Er pflanzte den Schnittlauch neben den Salat.
„Und jetzt müssen wir dreimal in die Hände klatschen“, sagte Luno.
„Warum?“, fragte Laura.
„Das wirst du dann schon sehen. Also auf drei. Eins. Zwei. Drei!“
Klatsch. Klatsch. Klatsch.
Laura klatschte so laut sie konnte, dass ihr die Handflächen brannten. Und kaum war der letzte Ton verklungen, als das Schloss plötzlich zum Leben erwachte. Die Magd kniete sich an das Beet und zupfte an den Salatblättern herum, der Knecht tätschelte einem Pferd den Hals, das unruhig hin und hertänzelte, während der Ritter sichtlich Mühe hatte, mit dem Schild in der Hand das nervöse Pferd zu besteigen. Die Zofe lief hinter der Prinzessin her, die in einen Turm stürmte, während der König seine Königin durch eine große Tür wohl in den Thronsaal geleitete. Die Hühner pickten am Boden herum und der Esel rieb sich den Rücken an einem Pfosten des Stalls.
„Ohhhh“, war alles, was Laura dazu im ersten Moment sagen konnte. Mit leuchtenden Augen schaute sie dem vergeblichen Mühen des Ritters zu und lachte schallend, als er scheppernd zu Boden fiel. Rasch eilte der Knecht herbei und half stöhnend und ächzend dem Ritter auf. Doch im nächsten Moment keilte das Pferd nach hinten aus und traf dem armen Ritter mit Wucht gegen den Brustpanzer. Jammernd stürzte er erneut zu Boden. Sofort wuselte der Knecht wieder herbei, doch der Ritter winkte resigniert ab und lehnte sich stattdessen gegen die Stallwand.
„Hm, irgendwas fehlt“, sagte Luno grüblerisch. „Ah, ich hab’s!“ Er schnippte mit den Fingern und nahm eine Hand voll Sand auf. Ehe man sich versah, kauerte auf einmal ein Sanddrache auf seiner Hand. Drohend bleckte er die Lefzen und Rauch stieg aus seinen Nüstern.
„Ein Drache“, flüsterte Laura.
„Ganz recht, jetzt beginnt das Abenteuer“, sagte Luno lächelnd. „Schau, deine Prinzessin ist jetzt dort im Turm.“
Tatsächlich. Die langhaarige Frau schaute aus dem runden Fenster des höchsten Turms, während sich die Zofe im Hintergrund an einen Tisch krallte. Sie schien die Höhe nicht zu vertragen.
„Du kannst sie lenken“, erklärte Luno.
„Lenken?“, fragte Laura erstaunt.
„Ja, sag ihr dass sie zurücktreten soll.“
„Prinzessin, tretet einen Schritt zurück“, befahl Laura.
Die Frau gehorchte.
„Toll!“, rief Laura erfreut.
„Es reicht sogar, wenn du die Befehle nur denkst“, erklärte Luno. „Damit kannst du alle hier steuern.“ Er machte eine ausholende Geste über das Schloss. „Du musst nur darauf achten, dass du die Befehle an den richtigen schickst. Also, bist du bereit? Dann lass ich den Drachen los. Soll der Ritter mal zeigen, was er kann.“
„Halt, warte!“, rief Laura.
„Was ist?“, fragte Luno.
„Der Ritter hat ja gar keine Waffe, nur ein Schild“, sagte Laura.
„Du hast recht, gut aufgepasst“, sagte Luno und hob einen Zweig auf. „Draufspucken“, bat er.
Laura beugte sich vor und spuckte auf den Zweig. Im nu fing er an silbern zu glänzen und sich zu schärfen. Binnen Sekunden hatte er sich in ein beachtliches Schwert verwandelt.
„Herr Ritter“, sagte Luno förmlich und reichte dem gepanzerten Mann das Schwert. Der nahm es dankbar an und verneigte sich vor Luno. Dabei geriet er etwas zu weit aus der Senkrechten und stürzte Kopfüber in den Sand, dass er mit seinem Körper und der Erde ein Dreieck bildete, den Hintern als Spitze nach oben. Sofort wuselte der Knecht herbei und zerrte den Ritter wieder nach oben.
Laura lachte. „Für einen Ritter ist er ziemlich tollpatschig“, kicherte sie.
„Oh, unterschätze ihn nicht. Wenn es drauf ankommt, ist er ein wahrer Held“, sagte Luno. „Das kann er uns jetzt beweisen.“ Vorsichtig öffnete Luno die Hand, in der er immer noch den Drachen hielt. Sofort breitete dieser die langen Flügel aus und stieß sich ab. Eine Stichflamme schoss aus seinem Maul, als er laut brüllte und auf den Turm zuhielt, an dessen Fenster die Prinzessin inzwischen wieder stand.
„Oh nein, oh nein, zu Hilfe, Hilfe!“, rief Laura und im selben Moment bewegte die Prinzessin die Lippen und beugte sich aus dem Fenster. Flehentlich schaute sie sich um. „Herr Ritter, helft mir“, flehte die Prinzessin mit Lauras Stimme.
„Nur keine Angst, holde Maid!“, rief Luno und der Ritter bewegte die Lippen. „Ich werde Euch vor dem furchtbaren Drachen Scharfzahn erretten!“
„Beeilt Euch, oh großer Ritter“, flehte die Prinzessin und entging dem Feuerstrom des Drachens nur, weil die Zofe sie hastig zurück ins Zimmer zog.
Ächzend kletterte der Ritter mithilfe des Knechts auf das bockende Pferd, das laut wieherte und im wilden Galopp über den Hof preschte.
„Ho, ho, HO!“, brüllte der Ritter. „Bleib stehen! Brrr, sag ich! Stopp!”
Das Pferd grub die Hufen in den Sand und durch das abrupte Halten wurde der Ritter im hohen Bogen über den Kopf des Pferdes geschleudert und krachte gegen die Tür des Turms. Ächzend sank er zu Boden.
Die Prinzessin lachte.
„Also wirklich, junges Fräulein! Mehr Anstand, wenn ich bitten darf!“, knurrte der Ritter, als er sich am Türknauf hochzog.
„Verzeiht, edler Herr“, sagte die Prinzessin. „Doch Ihr gebt auf dem Pferd eine reichlich komische Figur ab.“
„Es mag sein, dass meine Talente nicht im Reitstil liegen, doch meine Künste zu Pferd sind auch nicht vonnöten, um Euch zu erretten“, sagte der Ritter in seiner gestelzten Art.
Laura grinste Luno wegen seiner Ausdrucksweise an. Doch Luno zuckte nur lächelnd die Schultern und ließ den Ritter keuchend und schnaufend die vielen Stufen des Turms erklimmen. Von draußen sahen sie ihn nur immer wieder an den Fensteröffnungen vorbeiklettern.
„Holde Maid“, keuchte der Ritter, das Turmzimmer betretend und kippte vornüber zu Boden.
„Eieieieiei“, jammerte die Zofe und eilte dem Ritter entgegen. Mit aller Kraft wälzte sie ihn auf den Rücken und fächelte ihn mit ihrem Fächer Luft zu.
„Habt Dank, verehrte Zofe“, keuchte der Ritter und schaffte es, sich aufzusetzen.
Die Zofe knickste und eilte wieder an die Seite ihrer Herrin.
In diesem Moment streckte der Drache den Kopf zu einer Fensteröffnung herein, da er es leid war, nur um den Turm herumzufliegen.
„Vorsicht!“, rief der Ritter und stürzte sich auf die beiden Frauen. Schwer fielen sie zu Boden, doch die Flamme zuckte gefahrlos über sie hinweg. Wütend brüllte der Drache.
„Verzeiht, die Damen“, sagte der Ritter und zog sein Schwert. Geschickt sprang er durch die Öffnung auf den Kopf des Drachen und rutschte seinen langen Hals hinunter. Jetzt saß er rittlings auf dem Drachenleib. Vor ihm schlugen die Schwingen und entfachten einen heftigen Wind.
Doch Laura dachte gar nicht daran, tatenlos zuzusehen, wie Ritter Luno den Drachen tötete. Denn im Moment sah es gar nicht gut für ihn aus. Der Drache schnappte immer wieder nach dem Ritter, der den scharfen Zähnen nur schwerlich ausweichen konnte. Lediglich sein Schild schützte ihn vor den Attacken, doch es bröselte schon bedenklich auseinander.
„Nimm das, du gemeines Vieh“, schrie die Prinzessin ganz undamenhaft und schlug mit einem Wasserkrug nach der Nase des Drachen. Wasser spritzte aus der Karaffe und hinterließ dampfende Löcher in der Schnauze des tobenden Tiers. Ein Schmerzensschrei löste sich aus dessen Kehle. Der Ritter nutzte die kurze Ablenkung aus und stieß sein Schwert tief in den sandigen Leib des Untiers. Mit einem letzten Schrei stürzte das Untier tödlich verwundet in die Tiefe und schlug dumpf auf dem Hof auf.
„Herr Ritter!“, rief die Prinzessin aufgeregt und raffte ihre Röcke. Schnell wie der Wind stürzte sie die enge Wendeltreppe im Turm nach unten und lief auf den Hof zu dem staubigen Kadaver. Ihre Zofe folgte ihr in geziemteren Tempo.
„Edler Recke!“, rief die Prinzessin. „So antwortet mir doch!“
„Ich bin hier“, ächzte es von irgendwo hinter dem Drachen.
Rasch eilte die Prinzessin um den massigen Leib und entdeckte schließlich den Ritter, dessen Beine unter einer der schweren Schwingen begraben waren.
„Seid Ihr verletzt?“, fragte die Prinzessin und zerrte mit aller Kraft an dem Flügel.
„Ich fürchte, ich habe mir etwas gebrochen“, sagte der Ritter und drückte erfolglos gegen die Schwinge.
Erst als der Knecht und die Magd mit anpackten, gelang es ihnen, den Flügel beiseite zu schieben.
Traurig sah Laura auf den Sandritter hinab. Knapp unter dem Knie war ihm der Fuß abgebrochen.
„Jetzt ist er kaputt“, sagte sie und eine Träne rann ihr über die Wange.
„Sei nicht traurig“, sagte Luno und fing ihre Träne mit dem Finger ab. „Du vergisst, dass sie nur aus Sand sind. Schau!“ Er tropfte Lauras Träne in einen Krug, den die Magd in der Hand hielt. Sofort eilte sie zu dem Ritter. Vorsichtig bestrich sie den Fußstumpf mit dem Salzwasser. Dann hob sie das abgebrochene Bein hoch und drückte es an den Stumpf. Anschließend schüttete sie den Rest Wasser auf den Boden und verklebte das Bein mit dem nassen Sand. Schon wenige Minuten später konnte man keinen Riss mehr erkennen und der Ritter stand ohne weiteres auf.
„Habt Dank“, sagte er zu der Magd und gab ihr einen Handkuss. „Ihr sollt reich belohnt werden.“
Doch die Magd winkte nur verlegen ab und wandte sich wieder ihrem Beet zu.
„Nun denn“, sagte der Ritter. „Ihr seid alle zu dem Festschmaus heute Abend eingeladen.“ Lächelnd bot er der Prinzessin seinen Arm an und führte sie stolz hinein in die Burg.
„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, sagte Luno leise und lächelte Laura an.
„Das war schön“, sagte Laura und strahlte über das ganze Gesicht.
„Ja, mir hat es auch Spaß gemacht“, sagte Luno. „Aber jetzt wird es Zeit.“
„Zeit?“, fragte Laura.
„Ja, du musst ins Bett. Es ist schon spät.“
„Aber ich bin gar nicht müde“, sagte Laura und musste im nächsten Moment heftig gähnen.
Luno lachte. „Na komm“, sagte er. „Nicht dass man dich noch vermisst.“
„Mhmm“, brummte Laura und fühlte sich auf einmal sehr schläfrig. Wie spät es wohl schon war? Müde schleppte sie sich neben Luno die Wiese hinauf bis zu ihrem Haus. Vor der Tür blieben sie stehen.
„Spielen wir morgen wieder?“, fragte Laura und rieb sich die Augen.
Luno lächelte traurig. „Ich kann nicht“, sagte er leise.
„Und übermorgen?“
„Auch da nicht.“
„Wann dann?“, fragte Laura traurig.
„Ich kann nur bei Vollmond zu euch herabkommen“, sagte Luno.
Laura sah ihn verständnislos an. „Was?“
„Ich bin das Mondenkind“, erklärte Luno. „Nur wenn es einen zweiten Vollmond innerhalb eines Monats gibt, den so genannten blauen Mond kann ich herkommen, wenn nach mir gerufen wird.“
„Wann ist der nächste blaue Mond?“, fragte Laura.
Luno sah hinauf zum Vollmond. „Nicht sehr bald“, sagte er leise.
„Wann?“, drängte Laura.
Luno sah sie wieder an. „Er findet nur etwa alle drei Jahre statt“, sagte er.
Lauras Augen wurden groß. „Drei Jahre?“, wiederholte sie.
Traurig nickte Luno. „Aber ich werde dir von da oben zuschauen“, versprach er.
„Ich will nicht, dass du gehst“, sagte Laura leise und Tränen traten ihr in die Augen.
Luno umarmte sie. „Weine nicht“, sagte er. „Ich komme wieder, so du nach mir rufst. Drei Jahre sind schneller vorbei, als du denkst.“
„Wie rufe ich nach dir?“, fragte Laura erstickt.
„Sing einfach wieder das Lied“, sagte Luno und wischte ihr die Tränen weg. Dann griff er in die Tasche. Als er die Hand wieder herausnahm, lag feiner Sand auf seiner Handfläche. Rasch blies er ihn in Lauras Gesicht.
Laura blinzelte und rieb sich die kitzelnde Nase.
„Sternenstaub“, sagte Luno. „Das bringt dir die Stunden Schlaf zurück, die dir heute Nacht fehlen. Machs gut und vergiss mich nicht.“
Im nächsten Moment war Luno verschwunden.
„Luno?“, rief Laura und schaute sich hastig um, doch ihre Stimme verklang ungehört und ihre Augen erblickten nur die Umrisse der Bäume an der Auffahrt. Sie seufzte leise und ging zurück ins Haus. Es war schon kurz nach Mitternacht. Ihre Eltern mussten bald nach Hause kommen und Marlene schlief immer noch tief und fest auf dem Sofa. Laura huschte in ihr Zimmer und kuschelte sich in ihr Bett. Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand auf ihrem Fensterbrett die Sandprinzessin mit dem Spinnennetzschleier. Sanft bewegte sich der Schleier im Luftzug, der durch das gekippte Fenster wehte. Doch sonst stand sie still und steif da.
Laura nahm die Prinzessin in die Hand und rannte wie der Wind nach draußen zum Spielplatz. Ihre nackten Füße tapsten eilig über die Wiese, bis sie vor dem Sandkasten stehen blieb. Von dem prächtigen Schloss war nur ein kümmerlicher Sandhaufen übrig geblieben. Und alles, was noch an die Nacht erinnerte, war die Fahne. Sie war wieder lindgrün und die Blätter schon welk.
Traurig drückte Laura die Sandprinzessin an sich und flüsterte: „Ich werde dich nie vergessen, Luno.“
Texte: Cover von der NASA
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für alle Kinder mit viel Fantasie