Halloween. Wie ich diesen Tag hasse. Kleine, nervende Kinder in bescheuerten Verkleidungen, die von Haus zu Haus rennen und dämliche Sprüche von sich geben. Süßes, sonst gibt’s Saures… von mir aus könnt ihr von mir Saures haben!
Ich bin Melanie, fünfzehn Jahre alt und mit einem unterbelichteten, kleinen Bruder bestraft, der natürlich total auf Halloween abfährt. Gott sei Dank übernachtet er heute bei seinem Freund Jan. Und da Mama und Papa auf einer Geschäftsfeier sind, hab ich meine Ruhe. Naja, zumindest solange nicht geklingelt wird, was natürlich heute ständig passieren wird. Wenn ich etwas mehr von Technik verstehen würde, hätte ich die Klingel längst außer Betrieb gesetzt.
Ich hatte mich schon früh mit einem Stapel Horrorfilme ins Wohnzimmer zurückgezogen. Und durch die ersten beiden hatte ich mich auch schon durchgeschaut. Es war schon fast halb elf, als es erneut nach der ersten dreiviertel Stunde Ruhe an der Tür klingelte. Genervt drückte ich auf Pause und trottete zur Tür. Zum x-tausendsten Mal fragte ich mich, warum ich öffnete und zum x-tausendsten Mal antwortete ich mir, weil ich es meinen Eltern versprochen hatte. Die Tür schwang auf und… nichts. Niemand stand da. Ein Scherz? Vorsichtig streckte ich den Kopf hinaus, schaute nach links und rechts. Nada. Wie ich Halloween hasse. Nur Idioten unterwegs. Also schloss ich die Tür wieder. In dem Moment, in dem sie ins Schloss fiel, ging das Licht aus. Na wunderbar.
Da unser Haus etwas abseits in einem kleinen Wäldchen steht, wird es von keinen Straßenlaternen beleuchtet. Das einzige Licht kam vom Vollmond draußen. Immerhin etwas, aber eigentlich zu wenig für den Keller, der natürlich nur durch einen winzigen Lichtschacht beleuchtet wurde. Und dort musste ich hin, weil natürlich ausgerechnet da der Sicherungskasten war.
Leise vor mich hin fluchend, tastete ich mich die Treppe hinab. Es war nicht das erste Mal, dass ich die Sicherung wieder reintun musste. Es war nun mal ein altes Haus. Aber normalerweise hatte ich eine Taschenlampe oder wenigstens eine Kerze. Doch dummerweise hatte ich keine Ahnung, wo weder das eine, noch das andere war. Eigentlich hatten wir neben der Kellertreppe immer eine Taschenlampe aufgehängt, aber die war natürlich gerade heute nicht da. Typisch.
Also stapfte ich im Finstern die Treppe runter. Selbst als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich so gut wie nichts. Meine Hände tasteten über die Tür, bis sie endlich die Klinke gefunden hatten. Was einen pochenden Finger nach sich zog. Aua. Eindeutig nicht mein Tag.
Mit einem Quietschen, das eindeutig nach Öl rief, drückte ich die Klinke runter und öffnete die Tür, die genauso kläglich ächzte wie die Klinke. Ich machte einen Schritt in den Raum hinein, stockte aber sofort wieder. Der Boden fühlte sich nicht so an, wie er sich hätte anfühlen sollen. Er war… matschig und uneben. Was, zum Teufel, lag da auf dem Boden? Etwas wiederwillig ging ich in die Hocke und tastete in die Dunkelheit hinein.
Uäh.
Es war haarig.
Entsetzt zuckte ich zurück und stolperte nach hinten. Das da die Stufen waren, hatte ich natürlich nicht bedacht. Mit einem Schrei verlor ich das Gleichgewicht und landete unsanft auf der Treppe. Schmerz zuckte durch meine Ellbogen und mein Steißbein. Ich biss die Zähne zusammen und wartete, bis der Schmerz abklang. Schon mal erwähnt, dass ich Halloween hasse?
Ich rappelte mich auf, nahm all meinen Mut zusammen und ging in den Kellerraum. Über das eklige Zeug. Es wurde nicht besser. Je weiter ich vordrang, desto schlimmer schien es sogar zu werden. Den Kellerboden schien ich überhaupt nicht mehr zu berühren.
Ein Schauer nach dem anderen jagte mir über den Rücken. Aber hey, ich bin fünfzehn, ich habe vor nichts Angst, versuchte ich mir selbst einzureden. Eher erfolglos, aber ich schaffte es immerhin bis zum Sicherungskasten. Ich tastete darüber und stieß daneben gegen etwas Hartes, Rundes. Eine Taschenlampe. Perfekt. Ich nahm sie von dem Haken und knipste sie an. Mein erster Blick fiel auf den Boden.
Nicht gut.
Eine Hundertschaft von Spinnen und Schlangen wand sich dort unten. Okay, ich gebe zu, ich habe vor etwas Angst. Vor Schlangen und Spinnen. Also kein Wunder, wenn mein Hirn meinen Füßen sofort befahl, zu rennen, oder? Natürlich kamen meine Beine sofort dem Befehl nach. Zum Glück. Schreiend stürzten ich aus dem Raum und die Treppe rauf.
Obwohl im Moment mein Hirn auf Sparflamme lief – die Panik hatte die Gewalt über den Körper übernommen – blieb ein geistiger Notiz hängen: Jacky foltern. Mein lieber Bruder hatte sich diesen Scherz mit Sicherheit ausgedacht. Dieser Halloween-Freak!
Nur mit Mühe kam ich um die Ecke – ich hab schon immer gesagt, dass glatte Parkettböden eine Gefahr sind - und ins Wohnzimmer, wo mich der nächste Schreck erwartete.
Zwei orangerote Augen glühten mir entgegen.
Der Raum war stockfinster, weil ich die Rollläden hinunter gelassen hatte. Nur diese Augen glühten mich jetzt an. Ich erstarrte vor Angst. Meine Knie zitterten vor Anstrengung und Panik.
Die Augen flackerten wie Flammen im Luftzug. Moment mal. Flammen? Mit bebenden Händen hob ich die Taschenlampe. Doch sie war aus. Bei meiner wilden Flucht nach oben, war sie gegen die Wand geprallt und dabei wohl kaputt gegangen. Ich schüttelte sie und tatsächlich, sie flackerte kurz auf. Lange genug, um zu erkennen, dass die glühenden Augen zu einem Kürbis gehörten.
Ich hätte mich Ohrfeigen können.
Gott sei Dank war es dunkel, so konnte niemand sehen - auch wenn keiner da war -, wie rot ich anlief. Ich Idiot. Fürchtete mich vor einem Halloween-Kürbis.
Erleichtert lief ich zu den Augen und hob den abgetrennten Deckel ab. Ein Teelicht brannte in dem ausgehöhlten Kürbis.
Mit einem entsetzten Schrei ließ ich den Deckel fallen, als mir ein Gedanke kam. Wie zum Teufel kam er hier rein? Ich war allein zu Hause und vorhin stand der eindeutig noch nicht da.
„Hallo?“, rief ich mit zitternder Stimme. Mein Mund war ganz trocken. „Ist da jemand?“
Keine Antwort.
Das bildest du dir nur ein, versuchte ich mir einzureden. Aber wer hatte den Kürbis da hin? Und das Teelicht angezündet? Mein Bruder? Wohl kaum in den letzten Stunden, er war bestimmt noch mit seinem Kumpel in der Stadt unterwegs, um andere Menschen zu erschrecken.
Du hast ihn vorher einfach nur nicht bemerkt, redete ich mir gut zu. Das Ding stand zwar auf dem kleinen Tisch zwischen Couch und Fernseher, so dass ich gar nicht hätte fernsehen können, aber das versuchte ich zu verdrängen. Alles war gut. Nur keine Panik.
Fröstelnd rieb ich mir über die Gänsehaut auf meinen Armen. Irgendwie war es kalt geworden.
„Wo ist der Kopf?“, fragte in diesem Moment eine Stimme.
Schreiend wirbelte ich herum. Hinter mir stand ein Geist. Ja, ein Geist. Das… Wesen war perlweiß und halb durchsichtig. Und es trug ein Kind in den Armen. Etwa drei Jahre alt. Aber ohne Kopf!
„Das ist nur eine Halluzination. Das bilde ich mir nur ein“, sagte ich laut und versuchte mich mit meiner eigenen Stimme in die Wirklichkeit zurück zu holen. Nur dumm, wenn man da schon ist.
„Wo ist der Kopf meines Kindes?“, fragte die Geisterfrau erneut. Ihre toten Augen bohrten sich kühl in meine vor Angst weit aufgerissenen.
„Ich… ha…hab keine Ahnung“, stotterte ich. Redete ich gerade mit einem Geist? Mein Gott, wurde ich verrückt? Oder war ich eingeschlafen? Ich zwickte mich in den Arm. Autsch.
„Du musst den Kopf finden“, sagte der Geist.
„Nein, ich tue nie, was mir meine Halluzinationen sagen“, erwiderte ich und drückte mich an der Wand entlang in Richtung Treppe. Mit etwas Glück schaffte ich es hinauf in eins der Zimmer.
„Wenn du den Kopf nicht findest, werde ich mir einen anderen Kopf besorgen müssen“, sagte die Frau.
„Ja, dann mach das mal. Ich muss jetzt gehen. Dringende Geschäfte, du verstehst?“ Benutzte ich gerade wirklich die behämmerte Ausrede aus den kitschigen Fernsehserien? Egal. Mit einem Satz sprang ich auf die oberste Treppenstufe und rannte hinauf. Ich stürzte in das Badezimmer und drehte den Hahn auf. Kaltes Wasser floss heraus und ich spritze es mir ins Gesicht.
„Aufwache, aufwachen, aufwachen“, sang ich mir selbst vor. Ich schaute nach oben in den Spiegel. Mein Gesicht war ganz blass und meine Augen hatten einen gehetzten Ausdruck.
„Ganz ruhig“, redete ich mir gut zu. „Das ist alles nur ein Scherz von deinem Bruder, bestimmt.“
Eine schaurige Musik setzte ein. Wie in einer Höhle mit Löchern. Ein Pfeifen und Jaulen, untermalt von einem Stöhnen und Jammern von… ja, Menschen. Ich presste mir die Hände auf die Ohren und schaute mir fest in die eigenen Augen.
„Hör auf mit den Halluzinationen!“, befahl ich mir selbst.
Leider hatte ich etwas vergessen. Das Gespenster durch Wände gehen können.
Mühelos streckte die Geisterfrau in diesem Moment ihren Kopf durch die Badezimmertür. Ich sah sie im Spiegel. Mit einem Schrei wirbelte ich herum.
„Bis Mitternacht hast du Zeit“, sagte die Geisterfrau und verschwand. Löste sich einfach im Nichts auf.
Ich riss die Tür auf und stürzte in mein Zimmer. Ich sah vor mir mein Fenster. Fluchtmöglichkeit! Ich griff nach dem Fenstergriff. Nach dem dritten Versuch kapierte ich endlich, dass ich nach oben und nicht nach unten drehen musste. Das Fenster sprang auf und ich kletterte auf den Sims.
Direkt gegenüber von meinem Fenster steht ein Baum. Ein dicker, alter Baum. Mit etwas Schwung kann man von dem Sims aus da hinüber springen. Ich machte mich schon bereit, als ich etwas im Baum sitzen sah, dass mir gar nicht gefallen wollte.
Ein Vampir.
Blut tropfte ihm von den langen Eckzähnen. Der Mund war ganz verschmiert damit. Seine blasse Haut schimmerte in dem Vollmondlicht. Ein schwarzer, wallender Mantel schlang sich um seine magere Statur.
Ich hasse Knoblauch, fuhr es mir in dem Moment durch den Kopf. Ein völlig unsinniger Gedanke in solch einer Situation, und doch war es das Erste, was ich dachte.
Ich hasse Knoblauch.
Im nächsten Moment fragte ich mich ernsthaft, ob ich allein deswegen schon prädestiniert wäre, Vampir zu werden. Doch bereits der nächste Gedanke lies mich wieder zum Leben erwachen.
Ich mag die Sonne.
Schreiend – wie oft hab ich heute eigentlich schon geschrien? – prallte ich zurück. Ich wirbelte herum und stellte erleichtert fest, dass mir der Geist nicht gefolgt war. Also nutzte ich die Gelegenheit, riss die Tür auf und stürzte nach unten in den Wintergarten. Es war erstaunlich kalt. Kein Wunder, schließlich stand die Tür offen.
Offen? Warum das? Ich weiß genau, dass sie zu war!
Mit heftig pochendem Herzen schaute ich mich um. Einbrecher? Oder derselbe Eindringling, der auch den Kürbis in das Wohnzimmer gestellt hatte?
Was war nur heute los? Warum machte mich meine Fantasie so fertig? Was anderes konnte es nicht sein. Geister, die durch Türen schauten? Vampire vor dem Zimmer? Schwachsinn. Und für meinen Bruder eindeutig zu viel, als das er sich das alles hätte ausdenken und umsetzen können.
In dem Moment fiel mir ein, dass ich das Fenster offen hatte stehen lassen. Scheiße! Jetzt konnte der Vampir da ungehindert rein!
Nein, nein, der Vampir existiert nicht. Genauso wenig, wie der geifernde Hund mit dem Schaum vor dem Maul da draußen. Mit tellergroßen Augen starrte ich auf das Vieh mit dem struppigen Fell.
„Sparky?“, fragte ich schwach. So hieß der Hund vom Nachbarn. Er hatte gewisse Ähnlichkeiten. Bis auf dem Schaum vor dem Maul. Und dem struppigen Fell. Ganz abgesehen davon, dass Sparky nicht wie ein Mensch reden konnte.
„Ich bin ein Werwolf“, sagte das Vieh und fletschte die Zähne.
„Nein, du kannst nicht reden. Das bilde ich mir nur ein“, redete ich mir gut zu. Das meine Stimme mehr ein Piepsen, denn eine wirklich menschliche Stimme war, überhörte ich dabei geflissentlich.
„Mach dir keine Gedanken“, geiferte der Werwolf. „Gleich brauchst du dir über nichts mehr Gedanken machen. Du siehst aus, wie ein leckeres Stück Fleisch.“
In diesem Moment stürzte sich das Vieh auf mich. Schreiend – aua, meine Kehle – drehte ich mich um und rannte durch den Flur auf die Haustür zu. Der Vampir stürzte die Treppe runter, um mir den Weg abzuschneiden. Ich wusste, ich hätte das Fenster schließen sollen!
Mit einem Satz hechtete ich zur Tür und riss sie auf. Finger schrappten über meinen Rücken, doch ich startete voll durch. Ich folgte dem weichen Waldweg, bis er sich gabelte. Was nun? Rechts oder links? Rechts ging es in den Friedhof. Links führte der Weg in einem Bogen an ihm vorbei. Bis sich die beiden Wege schließlich wieder vereinten und in die Stadt führten. Durch den Friedhof war es kürzer.
Ich warf einen Blick zurück. Der Vampir und der Hund hatten schon kräftig aufgeholt. Also Friedhof. Obwohl mir das gar nicht gefallen wollte. Bisher hatte ich die Schauergeschichten über Friedhöfe als Aberglaube abgetan. Aber jetzt kam ich langsam doch ins grübeln.
Knarrend schwang das Tor auf und ich lief den Weg entlang.
Gräber bauten sich links und rechts von mir auf und versanken gleich darauf wieder in der Dunkelheit. Mein Herz pochte rasend schnell. So schnell und stark wie heute hatte es noch nie schlagen müssen. Mal ganz abgesehen von meinem Adrenalinspiegel. Jeder Dopingtest würde jetzt wohl positiv ausfallen.
Ich sah schon das Tor am anderen Ende, als plötzlich sich ein Skelett davor erhob. Mit einem Grinsen auf dem kahlen Schädel winkte er mir mit seiner Knochenhand zu.
Schlitternd kam ich zum stehen und fiel in den Matsch. Mir war furchtbar kalt. Die Gänsehaut auf meinen Armen würde ich wohl nie wieder wegbekommen.
Ein weiteres Skelett erhob sich aus einem Grab, links neben dem anderen Skelett. Auch dieses winkte mir erst zu, ehe es leise klappernd einfach nur dastand. Das Schauspiel wiederholte sich auf der rechten Seite.
„Lasst mich doch alle in Ruhe!“, schrie ich hysterisch und rappelte mich auf. Es war einfach zu viel. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ja, verdammt, es war Halloween. Aber deswegen mussten doch nicht plötzlich alle Schauergeschichten real werden!
Ich drehte mich um. Gott sei Dank. Kein Werwolf, kein Vampir. Den Tränen nahe stürzte ich durch das andere Tor und wollte schon in den anderen Weg biegen, als eine Gestalt von dort auf mich zu taumelte.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. Was kam jetzt noch? Konnte es noch schlimmer kommen? Ich war nass, dreckig und blutete aus ein paar Schürfwunden. Geister, Vampire, Werwölfe, lebende Skelette. Was fehlte denn noch in meiner Gruselsammlung?
Die Gestalt kam immer näher. Sie lief seltsam, als ob es auf seinen zwei Füßen ganz unsicher wäre. Ein Zombie?
Als sie aus dem Schatten des Waldes ins volle Mondlicht trat, erkannte ich ihn. Es war mein Bruder. Jacky. Doch er sah furchtbar aus. Er war blass. Blut lief ihm aus dem Mund. Seine Kleider waren zerrissen und… irgendwie lebte sein Körper. Als ich auf ihn zulief, erkannte ich, was es war. Insekten. Sie krabbelten auf ihm herum, in seine Ohren hinein, aus seinen Nasenlöchern heraus.
Mir wurde ganz schlecht bei dem Anblick. Ich hatte das Gefühl, als würden die Viecher auf mir rumkrabbeln. Es schüttelte mich am ganzen Körper, fast hätte ich mich gekratzt.
Was war mit meinem Bruder passiert? Dass das nicht sein Halloweengewand war, wusste ich. Er hatte sich als Astronaut verkleidet. Als ziemlich billiger Astronaut, gehüllt in Folienpapier aus der Küche.
„Jacky?“, rief ich heiser. War seine Nacht genauso furchtbar gewesen wie meine?
Als ich fast bei ihm war, hob er hilfesuchend seine Arme. Und seine rechte Hand fiel ab und landete tot auf dem Boden. Sie brach ihm einfach ab. Als hätte man sie mit einem Hieb von seinem Körper getrennt. Blut spritzte aus dem Armstumpf.
Mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Flur von unserem Haus am Boden. Und mein Kopf war klatschnass. Mein naseweiser Bruder hatte mir einen Eimer voll kalten Wassers über den Kopf geschüttet.
Prustend setzte ich mich auf. Und stellte erleichtert fest, dass das Licht wieder an war. Ich schaute mich um und entdeckte meinen Bruder neben seinem Freund Jan. Und neben dem Werwolf. Schreiend sprang ich auf und packte Jacky am Ärmel. Dass er seine Hand wieder hatte, fiel mir im ersten Moment gar nicht auf, genauso wenig, dass keine Viecher mehr auf ihm herumkrabbelten.
„Schnell, weg!“, rief ich und zerrte ihn in Richtung Tür.
„Hey!“, protestierte er. „Lass mich los!“
„Der Werwolf!“, rief ich panisch.
Jacky und Jan lachten laut auf.
„Das ist doch kein Werwolf“, prustete Jan. „Das ist Sparky mit ein bisschen Rasierschaum. Gell, Sparky?“
Der Hund bellte einmal laut.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass mein Bruder im bestem Zustand war. Dass der Werwolf wirklich nur Sparky war. Und dass der ganze Abend nur ein beschissener Scherz von meinem Bruder war.
Diesmal war es leider nicht Dunkel, um meinen roten Kopf zu verbergen.
Wütend wandte ich mich meinem Bruder zu und schüttelte ihn wie irre. „Der ganze Abend war nur eine Veraschung?“, schrie ich.
„Richtig, Schwesterherz“, sagte Jacky breit grinsend und befreite sich aus meiner Umklammerung. „War eine Schweinearbeit.“
Nachdem ich die beiden Zwerge einmal durch das ganze Haus gejagt hatte und meinem Bruder ordentlich eine Gescheuert hatte, war ich bereit, mir die Geschichte von Anfang an erzählen zu lassen. Denn trotz allem musste ich zugeben, dass das ganze gar nicht schlecht inszeniert worden war.
So erzählten die Jungs, wie sie bereits am frühen Abend Plastikschlangen und -spinnen in den Keller gelegt hatten und eine ferngesteuerte Stereoanlage mit einer CD voller Halloweengeräusche in das Bad gestellt hatten. Wie sie den Stromausfall inszeniert, den Kürbis in die Wohnung geschmuggelt und die Tür des Wintergartens geöffnet hatten. Wie sich Jacky als Vampir verkleidet und in den Baum gesetzt hatte und Jan unterdessen dem Hund Schaum ums Maul geschmiert und mit einem Walkie-Takie ausgestattet hatte, an dessen anderen Ende natürlich Jan gesprochen hatte. Wie Jacky durchs Fenster geklettert war, während Jan zum Friedhof gelaufen war und die Skelette an Fäden in den Bäumen aufgehängt hatte, wodurch er nur noch an den Enden der Schnüre hatte ziehen müssen, damit die Skelette auferstanden und mit den Händen winkten. Und wie Jacky schließlich den Vampirmantel und die Hose abgelegt hatte, die falschen Zähne raus und die Insekten in die Klamotten gesteckt hatte. Und er dann mit einer falschen Hand auf mich zugewankt war und die Plastikhand dann hatte fallen lassen. Und dadurch eine Blutpatrone hatte platzen lassen, dass das falsche Blut nur so spritzte.
„Also, kreativ ward ihr“, musste ich schließlich zähneknirschend zugeben. So viel Fantasie hatte ich den beiden wahrlich nicht zugetraut.
„Yea!“ Die Jungs klatschten sich im High-Five.
„Aber ihr bekommt noch Ärger, das versprech ich euch!“, brummte ich. „Wie habt ihr eigentlich den Geist gemacht?“, fragte ich.
Die Jungs schauten sich an.
„Geist?“, sagte Jacky gelangweilt.
„Ja, den Geist mit dem kopflosen Kind“, sagte ich ungeduldig.
„Geister sind was für Babys“, sagte Jan. „Wir machen doch keine Geister!“
„Genau“, sagte Jacky. „Wir sind doch keine Kinder mehr. Für Bettlakenspiele sind wir zu alt.“
Sie schüttelten empört die Köpfe.
In diesem Moment schlug die Standuhr über den Köpfen der Jungs zwölf Mal.
Mitternacht.
Die Geisterfrau, diesmal ohne Kind, glitt durch die Uhr hindurch und blieb hinter den Jungs in der Luft schweben.
Ich starrte sie an.
„Wo ist der Kopf?“, fragte die Frau.
Ich lachte etwas zittrig. „Du kannst mir keine Angst mehr machen“, sagte ich. „Der Scherz ist nach hinten losgegangen“, fügte ich an die Jungs gewandt hinzu. Denn ich wollte unbedingt glauben, dass es trotz allem die Jungs inszeniert hatten.
„Was?“, fragte Jacky verwirrt. „Was für ein Scherz? Du hast doch jetzt schon alles erfahren!“
Jan starrte mit entsetztem Gesichtsausdruck auf den Geist.
„Wo kommt die denn her?“, stotterte er. „Ist das ein Scherz von dir, Melanie?“
„Nein“, sagte ich tonlos.
Die Geisterfrau schien es als Antwort für sich zu verstehen.
„Dann muss ich mir einen anderen Kopf holen“, sagte sie sachlich.
Sie griff Jacky von hinten an den Kopf und zog ihn mit einem heftigen Ruck nach hinten.
Texte: Copyright Cover liegt bei mir
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Halloween-Fans und auch die, die es nicht sind