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Jason stand auf einer Brücke. Auf einer sehr hohen Brücke. Erst viele Meter tief unter ihm schoss der Eisbach entlang. Er hieß nicht umsonst so und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Seinen Anfang nahm er hoch oben in den Gletschern und er führte fast das ganze Jahr Eis mit sich. Mal mehr, mal weniger. Und er war bekannt dafür, auf dieser Strecke mehrere Kilometer lang sehr gefährlich zu sein. Eiskalt und jede Menge Strudel. Ganz abgesehen davon war er ziemlich tief.
Doch das kam Jason gerade recht. Schließlich stand er nicht innerhalb der Begrenzung der Brücke, sondern außerhalb. Mit dem Rücken lehnte er an dem Gitter, die eine Hand krampfte sich um die oberste Stange. Wenn er noch länger so stehen würde, würde ihm die Hand daran festfrieren, so kalt war es.
Er starrte hinunter in das gierig schlürfende und gurgelnde Monster. Immer wieder sprang es ihm entgegen, emporgehoben durch eine Eisscholle oder ein Stück Treibholz. Wie lange, dünne Finger reckte es sich zu ihm, lockte ihn. Säuselnd versprach es ihm einen raschen Tod, ein schnelles Ausscheiden von dieser grausamen, kalten Welt. Spring, Spring, Spring, schien das Wasser zu rufen. Wir werden dich einhüllen, dich sanft in unsere nassen Arme nehmen und dich wiegen und schaukeln, wie einst deine Mutter.
Seine Mutter… vor drei Monaten war sie gestorben. Herzversagen. Die Ärzte hatten ihr nicht mehr helfen können. Doch sie war sein ein und alles gewesen. Die leitende Hand, die schützende Helferin. Niemand mehr würde ihm samstags selbstgemachte Windbeutel oder Amerikaner vorbeibringen. Keiner würde ihm mehr durch das Haar streichen und dann „Du bist, wer du bist. Sei stolz drauf“, zuflüstern. Sie fehlte ihm so sehr.
Genauso wie Miriam. Die wunderbare Miriam. Kurzes, blondes Haar, himmelblaue Augen und so sinnliche Lippen. Er hatte sie vom ersten Moment an geliebt. Und er hatte nie, niemals geglaubt, dass sie dasselbe für ihn empfinden würde. Alle seine Kollegen waren auf sie abgefahren. Doch sie hatte ihn erwählt. Den kleinen, schwachen, stillen Jason. Ein Wunder. Und genau das war sie für ihn gewesen. Ein Wunder.
Aber er hätte wissen müssen, dass das zu viel Glück auf einmal gewesen war. Ein betrunkener Autofahrer, eine neblige Straße und der falsche Zeitpunkt. Miriam war sofort tot - Genickbruch. Er sah immer noch ihr blasses Gesicht und die Schnittwunde an ihrer rechten Wange vor sich, als er ihren Leichnam hatte identifizieren müssen. Ein grausames Bild, dass ihn Nacht für Nacht heimsuchte.
Drei Wochen war es her. Und er hielt es ohne sie einfach nicht mehr aus. Er hatte seinen Job verloren und das Haus zum Verkauf freigegeben. Das wunderschöne, kleine Häuschen im Grünen, das sie erst vor kurzem erworben hatten. Das sie, sobald sie Zeit gefunden hatten, gemeinsam renovierten. Es fehlte zwar noch hier und da was und benötige noch einige Monate Arbeit, aber erst wenige Tage vor ihrem Tod waren sie eingezogen. In ihr neues Heim, dass bereit war für eine kleine Familie, die eigentlich vorgehabt hatte, anzuwachsen.
Spring, Spring, Jason. Wir erlösen dich, ganz bestimmt, säuselte der reißende Strom und erneut streckte sich ihm ein Wasserarm entgegen, ehe er zurück in den Fluss sank und wieder eins mit ihm wurde.
Komm, komm zu uns. Es wird schnell gehen, du wirst sehen.
„Wenn Sie springen, dann springe ich Ihnen hinterher“, sagte eine eindeutig menschliche Stimme in Jasons Rücken.
Jason drehte den Kopf. Schräg hinter ihm stand eine Frau. Sie hatte braunes, lockiges Haar, vom selben Farbton wie ihre Augen. Ein langer Mantel hüllte ihre etwas pummelige Gestalt ein. Um den Hals schlang sich ein farbenfroher Schal und ihre Hände schützten ein Paar wollener, knallrosa Handschuhe.
„Was?“, sagte Jason.
„Wenn Sie springen, springe ich Ihnen hinterher“, wiederholte die Frau.
„Verschwinden Sie“, sagte Jason unwirsch.
„Nein.“
„Wie, nein?“
„Nein.“
„Hauen Sie endlich ab!“
„Das hier ist eine öffentliche Brücke. Jeder darf sie zu jeder Zeit benutzen, so lange er oder sie möchte. Und ich möchte sie im Moment benutzen.“
„Lassen Sie mich endlich alleine!“
„Oh, fühlen Sie sich von mir nicht gestört. Genießen Sie die Aussicht. Sie ist einfach herrlich. Aber wenn Sie springen, springe ich Ihnen hinterher.“
„Das sagten Sie bereits.“
„Ich weiß. Aber offenbar haben Sie es noch nicht begriffen. Ich bin übrigens Annabelle. Sie können mich aber gern Anna nennen.“
„Hören Sie, Anna. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann verschwinden Sie!“
„Sie haben sich mir noch nicht vorgestellt.“
Jason starrte sie an.
„Was ist? Ist es so schlimm, wenn ich Ihren Namen wissen möchte? Mögen Sie ihn nicht?“
„Jason“, murmelte Jason, in der Hoffnung, die Frau würde dann endlich verschwinden.
„Wie bitte? Sie müssen schon etwas lauter reden. Der Fluss macht so einen Lärm.“
„Jason“, wiederholte Jason lauter.
„Ist doch ein schöner Name. Kein Grund, deswegen da runter zu springen.“
„Deswegen will ich ja auch nicht springen!“, sagte Jason wütend.
„Sondern?“
„Was geht Sie das an?“
„Meinen Sie nicht, dass ich ein Recht darauf hätte, es zu erfahren? Immerhin springe ich Ihnen ja dann hinterher.“
„Das werden Sie nicht tun!“
„Doch. Das werde ich. Ich glaube kaum, dass Sie das dann noch verhindern können. Oder können Sie fliegen?“
„Natürlich nicht!“
„Dann hätten wir das ja geklärt.“ Anna lächelte ihn freundlich an.
„Wenn ich von dieser Brücke runtergehe, verschwinden Sie dann?“
„Vielleicht.“
„Was heißt vielleicht?“
„Vielleicht heißt eventuell.“
„Hören Sie auf, sich über mich lustig zu machen!“
„Meinen Sie nicht, dass das der falsche Augenblick ist, um Scherze zu machen?“
„Doch, das ist er. Also hören Sie auf damit!“
„Also ehrlich, ich versuche hier ein vernünftiges Gespräch zu führen.“
„Jetzt hauen Sie endlich ab!“
„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich das nicht tun werde.“
„Ich springe jetzt und Sie werden mir nicht folgen, verstanden?“
„Ich denke, dass Sie mir nicht glauben“, sagte Anna. Sie schwang den Fuß hoch und kletterte etwas ungeschickt über die Brüstung. Dabei rutschte sie halb ab.
Unwillkürlich zuckte Jason vor und half Anna zurück auf festen Grund. Als seine Hand den von ihrem Körper angewärmten Mantel von Anna berührte, traf ihn die Wärme nach der Kälte der Brüstung fast wie ein Schock.
„Sind Sie verrückt?“, brachte Jason wütend heraus. „Lassen Sie das!“
„Ich halte meine Versprechen. Und ich habe Ihnen versprochen, Ihnen zu folgen, wenn Sie springen“, erwiderte Anna etwas außer Atem. „Schöne Aussicht von hier oben, nicht?“
„Was muss ich machen, damit Sie verschwinden?“
„Erst mal die Seite wechseln.“
„Was?“
„Na die Seite dieses Gitters. Klettern Sie schon rüber. Wenn Sie sich noch länger in dem Aufzug da ran lehnen, dann erkälten Sie sich noch und sterben letztendlich an einer Lungenentzündung. Das wollen Sie doch nicht, oder?“
Jason starrte sie an. Einfach unglaublich! Dieses Mädchen war doch verrückt! Aber er wollte auf keinen Fall, dass sie ihm hinterher sprang. Bloß, weil sein Leben so verpfuscht war, musste er ja nicht ihres mit zerstören. So weit in die Gleichgültigkeit war er noch nicht abgerutscht.
„Also gut“, sagte er schließlich und kletterte über das Gitter.
Anna drehte sich um, so dass sie sich nun gegenüber standen, nur getrennt durch das Gitter.
„Kommen Sie auch rüber.“
„Nein.“
„Wieso nein?“
„Weil Sie sonst doch nur wieder Blödsinn anstellen.“
„Sie sind verrückt. Einfach verrückt!“
„Mhmm… lassen Sie mich darüber nachdenken… ja. Ja, ich bin wohl verrückt. Stört Sie das?“
Jason schüttelte ungläubig den Kopf. „Jetzt kommen Sie schon rüber. Ich werde schon nichts Unüberlegtes tun.“
„Versprochen?“
„Ja, meinetwegen, versprochen.“
„Und Sie halten Ihre Versprechen?“
„Ja, doch!“
„Okay.“ Ächzend schwang sich Anna über das Gitter und richtete dann wieder ihre Kleider her. „Und, haben Sie schon etwas für heute geplant?“
„Geplant?“
„Na, immerhin haben Sie jetzt noch ein paar Stunden, ehe Sie es erneut irgendwo anders versuchen können“, sagte Anna.
Jason konnte nur erneut den Kopf schütteln. Diese junge Frau war anders als alle anderen Frauen, die er je kennen gelernt hatte.
„Sie meinen, ich sollte jetzt so richtig die Sau raus lassen? Weil mich danach eh keiner mehr belangen kann?“
„Och, das muss ja gar nicht sein. Es würde für den Anfang reichen, wenn Sie einfach mal diesen wunderbaren Ausblick genießen würden. Das haben Sie bisher immer noch nicht getan.“
„Warum reiten Sie so darauf herum?“
Anna streckte die Hand aus und deutete nach vorne. „Sehen Sie? Dort hinten? Ein Regenbogen.“
„Na und? Es ist nur ein Regenbogen.“
Anna sah ihn an und lächelte. „Das Leben ist wie ein Regenbogen.“
„Was?“
„Ihn kann es nur geben, wenn es Regen und Sonne gibt. Wie das Leben. Kein einziger Mensch erfährt in seinem Leben nur sonnige Tage. Es gibt traurige Tage, Regentage und es gibt fröhliche, schöne Tage, Sonnentage.“
Jason betrachtete den Regenbogen. Wie ein Halbkreis spannte er sich über den Fluss und strahlte in seinen nach unten verblassenden Farben.
„Ich habe es auch schon versucht“, sagte Anna nach einer Weile des Schweigens.
„Was?“
„Mir das Leben zu nehmen.“
Ruckartig wandte Jason den Blick von dem Regenbogen.
„Du?“ Unbewusst war Jason in die persönlichere Anrede übergegangen. „Das glaub ich nicht.“
Anna zog sich die Ärmel ihres Anoraks hoch und drehte die Handflächen nach oben. Zwei feine Narben zogen sich quer über beide Handgelenke.
„Warum?“, fragte Jason.
Anna lächelte und betrachtete wieder den Regenbogen. „Sind es im Grunde nicht bei allen dieselben Gründe? Zu viele Regentage.“
„Hast du es danach… du weißt schon, noch einmal versucht?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Vor meinem Krankenhauszimmer war ein Regenbogen“, sagte Anna, als würde das als Antwort genügen.
„Du hattest seit dem nicht mehr den Wunsch…?“
„Es gibt Tage, an denen ich mich frage, ob es die richtige Entscheidung war. Aber ich komme immer wieder zum selben Ergebnis.“
„Zu welchem? Dass das Leben doch lebenswert ist?“
„Finde es selbst heraus.“ Lächelnd wandte sich Anna ihm zu. „Es ist immer noch deine Entscheidung. Du hast es in der Hand. Denk darüber nach.“ Sie drehte sich um und ging davon.
„Warte!“, sagte Jason.
„Nein, du brauchst mich nicht mehr. Oh, und vergiss nicht. Wenn du hier springst, dann spring ich dir hinterher. Auch wenn ich erst morgen aus der Zeitung erfahre, dass du es getan hast. Dann komm ich wieder her. Das versprech ich dir.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie sich endgültig um und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Jason blieb allein auf der Brücke zurück. Allein mit seinen Gedanken, seinen Gefühlen und seinen Erinnerungen. Erinnerungen an ein verrücktes, nettes, unglaubliches Mädchen. Nachdenklich wandte er sich wieder dem Fluss zu. Sein Blick flirrte hinauf zu dem Regenbogen und wieder hinab zu dem strudelnden Wasser. Seine bloßen Hände schlossen sich um das kalte Eisen des Gitters. Und er fällte eine Entscheidung. Die wahrscheinlich wichtigste Entscheidung seines Lebens.

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Texte: Copyright Cover: Jedidiah (Gnome)
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2008

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