Schwärze. Überall. Einfach nur undurchdringliche Schwärze. Wo sind die Farben hin? Das samtweiche Blau des Himmels? Das süße Rot der Erdbeeren? Das saftige Grün der Wiesen? Weg. Für immer verschwunden. Wo sind die Formen hin? Ich habe schon fast vergessen, wie eine Flasche aussieht. Ein Kopfhörer… eine Katze? Beschreibe es mir, sage ich in letzter Zeit oft zu meinen Mitmenschen. Aber sie sind so hilflos. So wortlos, wenn sie mir die Alltagsdinge beschreiben sollen. War ich früher auch so? Als ich noch sehen konnte?
Lang, dünn, rund. Wie soll ich bei diesen aussagelosen Worten den Kugelschreiber vor meinem inneren Auge sehen? Sie sind so verdammt nichtssagend. So hohl und leer. Verschweigen diese Buchstaben mir mit Absicht das wahre Aussehen? Worte sind wie eine süße Verlockung von der Welt, die mir nun verschlossen ist, doch sie haben sich gegen mich gestellt. Sie wollen mir nicht das preisgeben, nach dem ich mich so sehne.
Du musst lernen, mit den Händen zu sehen, raten mir andere Blinde. Aber wie? Wie? Ich bin hilflos, wie ein neugeborenes Kind. Wie soll ich meinen Händen das Sehen beibringen, wo sie bisher nur fühlen mussten? Kann man in drei Monaten lernen, was man mit den Augen einfach so kann? Ich nicht. Noch nie habe ich mich so einsam gefühlt. Alleingelassen, in dieser schwarzen, formlosen Welt, die mir ihr Gesicht nicht mehr zeigen will. Ich kann in einer Menschenmenge stehen und fühle mich doch so alleine wie nie. Sind diese Wesen da? Ich kann sie hören, ich kann sie spüren. Aber ich sehe sie nicht… Sind sie wirklich da? Ich weiß es nicht…
Ich sitze hier, auf einen Stuhl, auf dem ich schon seit Jahren sitze und will mir nur eins einreden: ich habe nur die Augen geschlossen. Du musst sie nur öffnen und schon wirst du alles wieder sehen. Aber diese Illusion kann ich nicht lange aufrecht erhalten. Denn ich habe vergessen. Vergessen, wie der mir wohlbekannte Stuhl aussieht. Vergessen, wie rot aussieht, wie blau oder gelb. Es sind nur noch Worte. Trügerische Worte, die mir zuflüstern und wispern, so viel sagen wollen. Doch mein Gehirn kann nichts mehr mit ihnen anfangen. Farbe? Was ist das? Licht? Schatten? Kenne ich nicht mehr…
Alles hat sich geändert. Die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal für mich war. Hat sie sich geändert, oder ich mich? Ich kann es nicht sagen. Ich sitze einfach nur hier in der Schwärze und warte. Auf was? Ich weiß es nicht.
Meine Katze springt mir auf meinen Schoß. Sie schnurrt. Ich kann mich zwar nur noch verschwommen daran erinnern, welche Farbe ihr Fell hat, welche Zeichnung, doch wenigstens eins ist mir geblieben: Das Schnurren. Wenigstens etwas, dass mir in dieser Dunkelheit noch etwas Wärme bringt. Ein sanfter, süßer Ton, der mir schon früher Ruhe spenden konnte. Mir wurde die sichtbare Welt gestohlen, doch wenigstens das Schnurren hat es mir gelassen. Ein kleiner Trost. Aber immerhin einer. Wird man genügsamer, wenn man erblindet? Bin ich überhaupt noch ich? Oder habe ich mich in eine völlig andere, mir fremde Person verwandelt? Kennt mich überhaupt noch jemand? Mein früheres ich?
Alle wollen mir helfen. Sie scharwenzeln um mich herum. Meine Familie, meine Freunde, die Ärzte. Alle sprechen sie mir gut zu. Doch sie wissen nichts. Sie wissen nicht, wie es mir geht. Sie können es nicht verstehen. Ja, ihnen ist die Welt geblieben. Ihr Mitleid ist fast das Schlimmste. Kann ich was für dich tun? Ich hol dir dies, ich hol dir jenes. Ich bring dich hierhin und dorthin, du musst nur etwas sagen. Ich bin jetzt blind, aber bin ich deswegen kein eigenständiger Mensch mehr? Kann ich es überhaupt noch sein? Ich will doch einfach nur leben…
Meine Augen brennen. Welch Ironie. Diese beiden runden Dinger in meinem Gesicht, die für mich nun völlig nutzlos sind, bereiten mir nun auch noch Schmerzen. Du musst weiter blinzeln, haben mir die Ärzte gesagt. Damit die Augäpfel nicht austrocknen. Wozu? Sollen sie doch austrocknen. Macht das denn noch einen Unterschied? Gehören sie wirklich noch zu mir? Sie erscheinen mir so fremd. Sie sind ja nutzlos. Und genau so fühle ich mich auch. Nutzlos. Was kann ich noch tun? Ich war ein leidenschaftlicher Bücherleser. Jetzt bleiben mir nur noch die Hörbücher. Ich habe es geliebt zu zeichnen. Und jetzt? Natürlich kann ich noch Stift und Blatt zur Hand nehmen. Aber ich werde meine Werke nie wieder sehen, geschweige denn, dass ich etwas Schönes zustande bringen könnte. Nichts von meinen Leidenschaften ist mir geblieben. Starr und stumpf sitze ich auf meinem Stuhl und tue nichts...
Jede alltägliche Bewegung wird zu einem schwierigen Unterfangen. Der Weg zum Klo: Eine Abenteuerreise. Der Gang nach draußen: lebensgefährlich. Radfahren? Inlineskaten? Vergangenheit. Was bietet mir die Zukunft? Ich weiß es nicht. Will ich es überhaupt wissen? Auch das kann ich nicht sagen. Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Eine Frage, die für mich nur noch Schrecken birgt. Ja, was will ich denn werden? Was kann ich denn werden? Meine Zukunft ist ein einziges, großes Fragezeichen. Aber wie sieht das Fragezeichen noch einmal aus? Werde ich alles vergessen? Wie meine Mutter aussieht? Mein Vater? Wie… ich aussehe? Werde ich mich selbst vergessen?
Doch eines weiß ich ganz genau: Ich gebe nicht auf. Man hat mir so viel genommen, fast mein ganzes Leben. Aber nur fast. Ich stehe vor Fragen. Vielen Fragen. Und vielleicht werde ich nie alle Antworten finden. Vielleicht werde ich alles um mich herum vergessen. Doch dass ich blind bin, das werde ich nie vergessen. Nie vergessen können. Es wird mich mein Leben lang begleiten. Ein stummer und bitterer Begleiter. Aber ich werde lernen müssen, damit zu leben. Und ich werde kämpfen. Ich habe Angst. Große Angst. Doch dieser Unfall konnte mir eins nicht nehmen: Meinen Überlebenswillen.
Texte: Copyright von Cover und Text liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Menschen, die durch einen Unfall oder ähnliches ihre Sehkraft verloren haben.