Cover

Der Beginn

An meine Nachfahren.

Ich weiß nicht, wann euch dieses Buch in die Hände fällt. Ich weiß auch nicht, wie ihr lebt, wie sich eure Lebensumstände geändert haben. Genauso wenig weiß ich, was ihr von mir schon gehört habt, oder ob ihr überhaupt schon etwas von mir gehört habt. Ich möchte euch einfach das bisher wichtigste Ereignis meines Lebens erzählen, so wie ich es erlebt habe. Nicht die Version, die ihr vielleicht aus Geschichtsbüchern kennt, sondern so wie ich es gesehen habe.

Mein Name ist Johanna Falkenblitz. Aufgewachsen bin ich als Johanna von der Weberfamilie in Ara, der Hauptstadt von Avia. Unsere Familie hat schon seit Generationen in den Außenbezirken von Ara gelebt und ist dort ihrem Handwerk nachgegangen. Auch ich habe von klein auf das Weben gelernt. Es hat etwas beruhigendes, diese monotone und doch abwechslungsreiche Arbeit. Was, ihr könnt nicht verstehen, wie etwas monoton und abwechslungsreich zugleich sein kann?

Das ist ganz einfach. Monoton ist die Arbeit, da es immer die gleichen Arbeitsschritte und immer die gleichen Bewegungen sind. Abwechslungsreich wird es durch die vielen verschiedene Stoffe, die man herstellt. Am meisten haben wir Leinen produziert. Der wurde auch am meisten gebraucht. Zwei oder drei, manchmal sogar alle sechs, Webstühle waren immer für Leinen aufgezogen. Das lernt man auch als erstes. Danach kommen die weicheren Stoffe, wie zum Beispiel Wolle. Von den Wolltüchern wurde vor allem zur kälteren Jahreszeit hin, viel produziert. Selten hatte man dann mal was besonderes dabei, wie Seide oder Brokat. Was mir besonderes gefallen hat, waren die vielen verschiedenen Muster, die man sich auch immer wieder ausdenken konnte.

Ihr seht also, ich war ein ganz normales Mädchen in einer ganz normalen Handwerkerfamilie. Zu mindestens glaubten das alle, die mich damals kannten. Keiner hatte in meinen damals 17 Lebensjahren mein größtes Geheimnis entdeckt. Für mein Geheimnis muss ich euch erst unsere Gesellschaft erklären.

Wie ihr schon gelesen habt, habe ich in einer Handwerkerfamilie im Außenbereich von Ara gelebt. Damit habe ich zur größten, aber auch niedrigsten Schicht gehört. Auch, wenn wir nicht zu den ärmsten gehört haben, da wir recht gut verdient haben. Aber nach dem Geld sind unsere Stände auch nicht eingeteilt. Sie werden nach Fähigkeiten eingeteilt.

Meine Familie gehört zum niedrigsten Stand, da wir keine besonderen Fähigkeiten haben. Der Stand darüber sind die sogenannten Magier, oder auch Priester. Diese können häufig ein Element, selten auch mal zwei Elemente kontrollieren. Auch haben sie Heilmagie. Über diesen Priestern stehen die Kriegsmagier. Diese zählen schon zu den Adeligen und stellen die Befehlshaber und Sondereinheiten der Armee der Nation, ebenso wie die Palastwache. Der Rest der Soldaten wird aus den niedrigeren Ständen rekrutiert.

Über den Kriegsmagiern stehen nur noch zwei Gruppen. Die eine Gruppe besteht eigentlich nur aus Adeligen. Diese haben alle die Fähigkeit, sich Vogelflügel wachsen zu lassen und damit zu fliegen. Sie unterstehen nur der Königsfamilie und übernehmen von dieser besondere Aufgaben, wie zum Beispiel Geheimaufträge auszuführen. Wenn sie eine außergewöhnliche Tat vollbracht haben, oder irgendwie anders hervorstechen, dann bekommen sie einen zusätzlichen Namen verliehen, der dies auch für andere verdeutlicht.

Über allem steht die Königsfamilie mit Königin Viola an der Spitze. Die Königsfamilie vereint die verschiedenen Fähigkeiten in sich. Sie werden eigentlich von allen geliebt und respektiert. Zumindest war das die allgemeine Meinung, auch bei mir und meiner Familie.

So, nun wisst ihr eigentlich das wichtigste über unsere Gesellschaft. Nun werdet ihr mein damaliges Geheimnis besser verstehen können und euch vielleicht sogar schon ausmalen, was die Konsequenzen für mich waren.

Ja, wie fange ich da am besten an. Ihr werdet nun bestimmt sagen, am Anfang und damit habt ihr zweifellos auch recht.

Ich selber habe mein Geheimnis durch Zufall herausgefunden. Damals war ich zehn Jahre und noch nicht so stark in der Werkstatt und im Haushalt eingebunden. Dadurch hatte ich logischer Weise auch mehr Zeit zum spielen und Abenteuer erleben. Häufig musste ich mich in der Zeit alleine beschäftigen, da ich mich mit den Kindern in meinem Alter nicht wirklich gut verstanden habe. Ich konnte die Spiele der anderen nicht verstehen und die anderen haben mich nicht verstanden. Die beste Lösung war da einfach, dass ich alleine spielte. Dafür bin ich entweder auf unserem Grundstück oder im Haus gewesen, oder bin ein Stück aus der Stadt gelaufen auf einen Hügel mit einem kleinen, lichten Wäldchen. Dorthin ging ich aber meistens, wenn ich etwas mehr Zeit zur Verfügung hatte. Es war perfekt zum Spielen geeignet, da man nur selten auf andere Menschen traf. Als kleines, zehnjähriges Mädchen findet man das natürlich sehr spannend, da man so alles machen kann, was man sonst als Mädchen nicht machen sollte.

Ich war ein richtiger Wildfang. Eigentlich hätte ich mich so natürlich super mit den Jungs verstehen müssen, aber die wollten nie ein Mädchen mitspielen lassen. Den Mädchen dagegen war ich zu wild. So habe ich halt stattdessen alleine mein Wäldchen erkundet und bin zu einem ziemlichen Einzelkämpfer geworden. Auf einer dieser Erkundungen habe ich beispielsweise auch eine felsige, abgebrochene Stelle im Hügel gefunden. Diese zog sich mehrere Meter in die Höhe und war ziemlich steil. Am Fuße befindet sich eine schmale Felsspalte, die sich, wenn man sich hindurchzwängte, erweitert zu einem kleinen Höhlensystem. Ich habe viele Stunden damit verbracht, nur diese Höhlen zu erkunden. Ansonsten habe ich auch sehr viel Zeit damit verbracht, die besten Kletterbäume im Wald zu finden. Einer eignete sich besonders gut und ich wollte sogar ein Baumhaus darin bauen. Dabei ist es dann passiert und ich habe mein Geheimnis entdeckt.

Es war ein sonniger Sommertag gewesen. Ich bin früh aufgewacht. Sogar noch eher als alle anderen im Haus. Ich kann mich noch heute genau an diesen Tag erinnern, als wäre alles erst gestern passiert. Da ich genau wusste, welche Aufgaben ich zu erledigen hatte, fing ich schon einmal an, nur um dann früher fertig zu sein und in meinen Wald zu können. Ich dachte damals schon von ihm als mein Wald, da ich die einzige Person war, von der ich wusste, dass sie regelmäßig hineinging. Aber dieses Denken verstärkte sich noch, nachdem ich mein Geheimnis entdeckte.

So habe ich mich also leise angezogen und ins Erdgeschoss geschlichen. Dabei musste ich nur darauf achten, dass die Türen nicht zu sehr quietschten und die knarrenden Stellen im Boden und in der Treppe umgehen. Ich wollte ja nicht, dass jemand wegen mir wach wurde. Die konnten da schon richtig schlechte Laune bekommen. Nicht nur meine Eltern, sondern auch die Gesellen und unsere zwei Mägde waren nie begeistert, wenn man sie frühzeitig aufweckte. Aber am schlimmsten waren noch die Männer. Aber es war auch kein Wunder, dass sie so reagierten, schließlich arbeiteten sie alle hart und fleißig, teilweise sogar noch bis spät abends.

Kaum war ich unten angekommen, musste ich mir nicht mehr ganz so viele Gedanken machen. Von dort kamen die Geräusche nur noch gedämpft oben an. Ich hatte verschiedene kleine Aufgaben zu erledigen, von denen ich einige auch schon ohne Aufsicht und Hilfe erledigen konnte. Unter anderem hatte ich mich darum zu kümmern, dass genug Zunder in der Küche vorhanden war. Das war eigentlich recht einfach. Ich musste nur nach draußen auf den Hof und aus dem Schuppen dort kleine Zweige und trockenes Stroh holen und zusammen mit etwas getrocknetem Moos, das ich regelmäßig aus meinem kleinen Wäldchen mitbrachte, zu kleinen Bündeln zusammenbinden. Das war schnell erledigt. Danach schnappte ich mir einen Reisigbesen und fegte den Hof aus. Dies machte ich eigentlich nur, weil es mir Spaß machte und ich extra einen eigenen kleinen Besen bekommen hatte. Aber eine der Mägde würde später noch einmal fegen. Nachdem ich also gefegt hatte, ging ich zum Brunnen und füllte den kleinsten Eimer mit frischen Wasser. Auch der war wieder extra für mich geholt worden. Damit machte ich erst einmal eine schnelle Katzenwäsche. Also wusch ich meine Arme und Hände, das Gesicht und den Hals und ganz zum Schluss noch Füße und Beine. Das gebrauchte Wasser schüttete ich über unser kleines Kräuterbeet. Dann füllte ich den Eimer erneut und schleppte ihn in die Küche. Damit füllte ich erst einmal den großen Eisentopf, der an einem Hacken im Kamin hing. Darin würde später den ganzen Tag unser Abendessen kochen.

Noch einmal lief ich hinaus und holte Wasser. Davon schüttete ich einen Teil in die große Wasserschüssel. Der Rest wurde auf mehrere Krüge aufgeteilt, sowie in eine kleine Schale. Eine weitere Schale füllte ich mit etwas kalter Milch und stellte beide draußen im Hof neben die Tür für unsere zwei Katzen. Es war nicht so, dass wir sie wirklich füttern mussten, da sie sich ihr Futter eigentlich selbst fingen, aber Wasser und Milch lehnten sie nie ab.

Damit waren meine Aufgaben in dem Bereich auch schon abgeschlossen. Jetzt hatte ich nach dem Frühstück nur noch meine Aufgaben in der Werkstatt zu erledigen. Aber damit konnte ich erst anfangen, wenn auch die anderen wach waren. Ohne meinen Vater durfte niemand von uns in die Werkstatt. Außerdem gab er mir meine Aufgaben immer recht spontan. Ich konnte also zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, was ich später machen würde.

In dem Moment hörte ich die ersten leise Geräusche von oben, die mir sagten, dass nun langsam auch die restlichen Familienmitglieder wach wurden. Um noch etwas zu tun zu haben, holte ich das Geschirr aus dem Schrank und deckte den Frühstückstisch ein. Auch das Brot holte ich schon einmal hervor, ebenso wie den Krug Milch und die Butter. Einen Krug mit Marmelade und Platten mit Wurst und Käse holte ich auch aus dem Vorratsraum. Kaum war ich damit fertig, waren auch die anderen aus ihren Zimmern gekommen und hatten sich in der Küche versammelt.

Ich weiß nicht mehr, was genau alles gesagt wurde. So gut ist mein Gedächtnis nun doch wieder nicht. Nur weiß ich noch, dass alle sehr erstaunt waren, dass ich schon wach war und einen Teil meiner Aufgaben sogar schon erledigt hatte. Normalerweise verkrümelte sich mich sonst lieber und spiele irgendwo etwas leise, bis alle anderen wach waren. Aber an diesem Tag wollte ich möglichst viel Zeit im Wald haben. Da würden mir meine Aufgaben nur einen Strich durch die Rechnung machen.

Nach dem Essen half ich unserer Magd Vanessa noch beim Spülen, während meine Mutter mit Carmen zusammen den abendlichen Eintopf vorbereitete. Die Männer unterdessen bereiteten den Arbeitstag in der Werkstatt vor. Da wurde durchgefegt, die Kettfäden und Webstühle kontrolliert, die Aufträge für den Tag durchgesehen und fertige Stoffe abgenommen, sofern das noch nicht am Abend zuvor geschehen war, und die leeren Webstühle wieder neu bezogen.

Nach dem Spülen half ich auch mit, bis mich mein Vater zur Seite nahm. Da meine Arme noch nicht so lang waren und meine Finger kleiner und feiner als die der älteren Gesellen und meines Vaters, bekam ich auch schon einmal die Sonderaufträge zugeteilt. Diesmal half ich meinen Vater den kleinsten Webstuhl für ein schmales, aber langes Seidentuch vorzubereiten. Es war als Schärpentuch für die Festuniformen der Offiziere und Adeligen gedacht.

Das Aufziehen der Kettfäden ging uns eigentlich recht zügig von der Hand. Aber das wird nach einiger Zeit auch zu einer Gewohnheit.

Kaum waren wir damit fertig, setzte ich mich auch schon hin und fing an das Schiffchen durch die Kettfäden tanzen zu lassen. Der Schussfaden war, ebenso wie die Kettfäden in einem tiefen Blau gefärbt. Die Farbe ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben, da ich sie damals nicht sehr häufig gesehen habe. Es ist eine königliche Farbe und wird nur von den drei obersten Gesellschaftsschichten getragen. Beim Weben habe ich mir deshalb auch ausgemalt, wer mein blaues Band später dann wohl tragen würde.

Das faszinierende am Weben in einer großen Werkstatt ist, dass man durch das beständige Klappern unheimlich beruhigt wird. Zumindest war es bei mir immer so. Und es ist auch heute noch so. Manchmal falle ich fast in eine Art Trance und versinke total in meinen Gedanken. Dann blende ich alles um mich herum aus, auch die Gespräche der Gesellen miteinander und mit meinem Vater. Zum Mittagessen mussten sie mich schon oft regelmäßig in die Realität zurück reißen. So auch an dem Tag. Ich war gefangen in Gedanken an Offiziere mit blauen Schärpen und meine Pläne für den Nachmittag. An dem Tag wollte ich endlich anfangen meine Pläne für ein Baumhaus umzusetzen. In Gedanken war ich schon längst im Wäldchen und ging von einem Baum zum anderen und prüfte sie gedanklich auf ihre Baumhauseignung.

So schreckte ich auch ziemlich auf, als mich Jens auf dem Weg aus der Werkstatt anstieß. Er war unser Neuzugang und noch nicht so lange bei uns wie die anderen. Vom Alter her war er auch nicht viel älter als ich, so dass wir uns fast auf Anhieb verstanden. Er musste nur erst überwinden, dass ich ein Mädchen war. Aber inzwischen war er mit mir warm geworden und ich konnte mir schon vorstellen, dass ich ihn bald als eine Art Bruder sehen konnte. Er war der einzige Junge, der auch mal mit mir spielte, wenn wir beide Zeit hatten. Ich war auch am überlegen, ihn mal mit in den Wald zu nehmen.

Kaum war ich aus meinen Gedanken aufgetaucht, bemerkte ich auch schon den Essensduft, der aus der Küche in die Werkstatt zog. Mein Magen musste sich natürlich auch gleich melden. Da merkte ich erst einmal wirklich, wie viel Zeit schon vergangen war. Ein Blick auf den Webstuhl vor mir, bestätigte das auch. Ich hatte schon ein gutes Stück geschafft. Da hatte ich mir das Mittagessen auch wirklich verdient. Es gab sogar eines meiner Lieblingsgerichte. Frische, süß gefüllte Küchlein mit frischem Obst. Das war immer eine Besonderheit, wenn die ersten reifen Früchte zu bekommen waren. Natürlich griffen da alle kräftig zu. So musste man sich auch nicht wundern, als nach einer guten halben Stunde schon alle mit Essen fertig waren. Auf den Tellern waren noch nicht einmal mehr Krümmel zurück geblieben, so gut hatte es allen geschmeckt.

Während meine Mutter, Vanessa und Carmen nun den Tisch abräumten und das Geschirr spülten, schaute ich nach den Schälchen für die Katzen und füllte etwas Wasser nach. Unterdessen saß mein Vater mit seinen Lehrlingen und Gesellen noch um den Tisch und besprach die Aufgaben für den Nachmittag. Als ich an ihm vorbei ging, gab er mir dann auch endlich die ersehnte Erlaubnis, dass ich für den Rest des Tages keine Aufgaben mehr zu erledigen hatte und spielen gehen konnte.

Sofort rannte ich nach oben in mein Zimmer und zog mich blitzschnell um. Ich konnte schließlich schlecht in meinem recht guten Rock im Wald auf Bäume klettern. Ein Rock war im Wald sowieso ziemlich unpraktisch hatte ich festgestellt. Darum hatte ich mir schon vor einiger Zeit eine Kollektion an Jungenkleidung zusammengesammelt. Davon zog ich nun eine Hose an, ebenso wie ein einfaches Hemd. Um nicht negativ aufzufallen, zog ich darüber noch meinen ältesten Rock. Zufrieden damit, dass nun niemand etwas gegen meine Kleidungswahl sagen konnte, machte ich mich auf den Weg nach draußen. Im Vorbeigehen griff ich mir noch mein Nähzeug für die Rocktasche. Man wusste nie, wofür man beim Spielen nicht Nadel und Faden, oder auch einfach nur Stecknadeln brauchen konnte. Risse entstanden immer, vor allem im Wald. Ebenso nahm ich den Wasserbeutel mit, den mir Vanessa voraussehend gefüllt hatte und jetzt entgegenhielt. Sie kannte mich und meine Angewohnheiten halt nun mal schon recht gut.

Am liebsten wäre ich gleich vom Hof durch die Stadt in Richtung Wald gestürmt, aber bis zum Stadttor hinaus zügelte ich mich noch. Schließlich wollte ich nicht, dass meine Eltern irgendwelche Beschwerden bekamen. Das konnte schneller geschehen, als man denken würde. Ich hatte es schon oft genug erlebt. In dieser Gegend mussten die Leute häufig noch nicht einmal nachfragen, zu welcher Familie ich gehörte, da man sich in der näheren Umgebung gegenseitig gut kannte. Sogar bei den Soldaten war es zu einem großen Teil so. Das langsame Gehen hatte noch einen Vorteil. Die Gefahr, dass jemand sehen würde, dass ich unter meinem Rock noch eine Hose anhatte, sank so erheblich. Ich wollte auf keinen Fall, dass meine Eltern diese Angewohnheit von mir erfuhren. Es könnte ja sonst sein, dass sie mir diese Kleidung wieder wegnahmen, um mich zu einem „richtigen“ Mädchen zu erziehen. Noch sahen sie meine Wildheit nicht als ein Problem. Das könnte sich aber ändern, sollte sich irgendein Erwachsener zu sehr an mir stören.

Doch das änderte sich, sobald ich an den Stadtwachen vorbei war und ich sicher sein konnte, dass ich nicht mehr zu sehr beachtet werden würde. Nun konnte mich nichts mehr halten. Vom Weg runter und quer über die Wiesen zum Baumrand hin. Ich bekam sicher ein paar seltsame Blicke hinterher geworfen, aber das interessierte mich nicht mehr. Sobald ich im Schatten der Baumkronen verschwunden war, hatten die mich sowieso sicherlich gleich wieder vergessen.

Inzwischen wusste ich auch, welchen Baum ich für mein Baumhaus verwenden wollte. So steuerte ich auch zielsicher durch das Unterholz in Richtung Hügelkamm. Dort stand mein Lieblingskletterbaum direkt an der Abbruchkante des Hügels.

Ich war schon oft auf diesen Baum geklettert und kannte jeden Ast in - und auswendig. Man kam auch gut hinauf, da er sich schon nah am Boden in zwei Hauptstämme teilte und dicke Äste entwickelte. Es kam noch hinzu, dass er sich etwas über den Abgrund neigte und man musste so nicht senkrecht nach oben klettern. Durch diese Neigung hatte man auch eine wundervolle Aussicht über die anderen Bäume und in Richtung Stadt. So konnte ich auch sehen, wenn von dort jemand auf den Wald zu kam, wurde selbst aber nicht gleich entdeckt. Also in den Augen eines jeden Kindes der perfekte Platz für ein Geheimquartier und eine Aussichtsplattform.

In meinem Enthusiasmus noch einmal zu schauen, ob alles mit dem Baumhaus so funktionieren würde, wie ich mir das vorgestellt hatte, vergaß ich vor dem Hochklettern doch glatt meinen Rock auszuziehen. Und so passierte das unvermeidbare, wodurch ich etwas erfuhr, was ich sonst wohl nie erfahren hätte.

Beim Herumturnen in den Ästen kam ich natürlich immer mehr über den Abgrund. Irgendwann passte ich nicht mehr so richtig auf, da ich mich durch das jahrelange Klettern sehr sicher fühlte. Schließlich war ich schon zig Male dort hoch und wieder runter geklettert. In dem Moment der Unaufmerksamkeit passierte es. Mein Rock verhakte sich in einer Astgabel. Ihr könnt euch jetzt bestimmt vorstellen, was im Weiteren passiert ist.

Ich wollte weiterklettern ohne zu merken, dass ich feststeckte. In dem Moment, in dem ich mein Gewicht auf den nächst höheren Ast verlagern wollte und mein Stand auf dem vorherigen Ast unsicher geworden war, riss mich mein Rock nach hinten zurück und ich verlor komplett den Halt.

Zuerst realisierte ich gar nicht, was jetzt passierte. Erst als ich mich um mich selbst drehte und den Boden auf mich zurasen sah, kam die Erkenntnis, dass ich in meinen Tod stürzte.

Automatisch machte ich mich kleiner, indem ich mich zusammenrollte, und kniff die Augen zusammen. Vor meinem inneren Auge erschien wie aus dem Nichts das Bild eines Falken, der sich Richtung Boden fallen ließ und im letzten Moment die Flügel öffnete, anstelle der erwarteten Bilderflut meines kurzen Lebens. Aber genau so etwas wie bei dem Falken wünschte ich mir in dem Moment auch.

Vielleicht meinte ich genau deshalb, dass ich über das Rauschen des Windes hinweg das Reißen von Kleidung hörte. Aber ich tat es erst einmal als Wunschdenken ab. Stattdessen rechnete ich jeden Moment mit dem Aufprall, der nie kam. Da nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, dem sich nähernden Boden doch entgegenzublicken und öffnete die Augen. Der Boden befand sich etwa einen halben Meter unter mir und kam mir kurioser Weise nicht mehr näher. Vorsichtig entfaltete ich mich wieder und streckte meine Füße dem Boden entgegen. Kaum stand ich dann auch sicher und fest mit beiden Füßen auf dem Boden, traute ich mich endlich zu schauen, was meinen Fall gebremst hatte. Und zuerst wollte ich meinen Augen fast nicht trauen. Von meinen Rücken sprangen zwei Falkenflügel weg und flatterten sogar noch leicht.

Vor Schreck fiel ich erst einmal hinten über und landete auf meinem Hintern. Aber ich glaube, dass wäre wohl jedem im meiner Position passiert. Wer rechnete auch damit, plötzlich Vogelflügel zu haben, wenn sonst in der Familie niemand zu so etwas in der Lage war. Ich saß bestimmt fünf Minuten einfach nur da und starrte die Flügel an. So lange, bis ich merkte, dass mein Nacken durch das nach hinten drehen anfing zu schmerzen.

Dann erst fing ich an den Schock zu überwinden und meine kindliche Neugierde gewann die Oberhand. Was ich jetzt machte, hättet ihr an meiner Stelle bestimmt genauso gemacht. Ich habe versucht, die Flügel bewusst zu steuern. Aber wie es nun mal meistens so war, sobald ich versuchte, sie bewusst zu bewegen, hörten sie auf gleichmäßig zusammen zu flattern und jeder Flügel machte fast unkontrolliert etwas anderes.

Nach ein paar erfolglosen Versuchen, kam mir endlich die Idee, erst einmal mich nur auf einen Flügel zu konzentrieren. Und so bekam ich langsam die Kontrolle über den rechten Flügel. Dabei fing ich auch nach und nach an zu spüren, wie ich meine neu organisierten Muskeln bewegen musste, damit das geschah, was ich wollte. Als ich das verinnerlicht hatte, ging ich zum linken Flügel über und versuchte gleichzeitig den rechten ruhig zu halten. Nach ein paar Anläufen funktionierte auch das

Jetzt wurde ich übermütig. Ich wollte diesmal richtig fliegen und es auch richtig merken. Nicht wie gerade eben, wo ich es gar nicht richtig realisiert hatte. Aber bevor ich das tat, zog ich endlich meinen Rock aus. Schließlich wollte ich mich nicht schon wieder irgendwo verfangen. Es reichte ja schon, dass ich einen Riss im Rock flicken musste, bevor ich zurück nach Hause konnte, um meine Hose zu verdecken. Und mein Hemd musste auch repariert werden. Ewig konnte ich also auch nicht fliegen.

Darum stellte ich mich leicht gebückt mitten auf die kleine Lichtung vor dem Abbruch und versuchte mit beiden Flügeln gleichzeitig zu schlagen. Und zu meinem Frust wollte es wieder nicht funktionieren. Jeder Flügel machte etwas anderes. Aber ich wollte es mit aller Macht schaffen und trotzdem klappte es einfach nicht. Egal was ich ausprobierte.

Plötzlich riss mich das Rascheln im Gebüsch neben mir aus meiner Konzentration. Doch es war nur ein kleiner Hase, der sich mehr über mich erschreckte, als ich über ihn. Genauso schnell, wie er aufgetaucht war, war er auch wieder im Unterholz verschwunden. Für mich gab es trotzdem eine Schrecksekunde, als ich plötzlich vom Boden abhob. Doch in dem Moment, in dem ich Kontrolle darüber übernehmen wollte, fiel ich prompt wieder auf meinen Hintern. Aber ich rappelte mich gleich wieder auf und stellte mich wieder wie zuvor auf. Bevor ich jetzt aber wieder mit aller Macht versuchte abzuheben. Stattdessen überlegte ich kurz, warum es gerade einen Moment geklappt hatte, dann aber wieder nicht. Und dann kam ich darauf. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, sondern es einfach gemacht. Sobald ich mich daran hielt, hob ich wieder ab und schwebte über dem Boden. Im nächsten Moment befand ich mich ganz in der Luft und befand mich nach nur wenigen Flügelschlägen schon auf halber Höhe des Hügelabbruchs. Ein paar mehr und ich flog um die Krone meines Lieblingskletterbaumes. Dabei kam mir die Stadt wieder ins Blickfeld und ich bemerkte, dass man mich von dort aus sehen könnte. Das wollte ich aber nicht. Die Flügel sollten mein ganz persönliches Geheimnis bleiben. Wer wusste schon, was passieren würde, sollte jemand herausfinden, dass ich sie habe. Eigentlich sollte es ja noch nicht einmal möglich sein, dass ich sie habe. Und ich wollte nicht herausfinden, wie andere darauf reagieren würden. Aber landen wollte ich noch nicht. Noch hatte ich Zeit, bis ich mich auf den Rückweg machen musste. Meine Lösung war deshalb, knapp über den Baumwipfeln zu fliegen und den Hügel zwischen mich und die Stadt zu bringen. Nur konnte ich so nicht sehr viel austesten. Aber ich flog dann, bis ich wieder landen musste, um noch genug Zeit zu haben, meine Kleidung wieder soweit zu reparieren , dass man nicht gleich merkte, dass sie kaputt war, und ich trotzdem noch genug Zeit hatte, um rechtzeitig zum Abendessen wieder daheim zu sein.

Auf dem Weg nach Hause war ich sehr aufgeregt und konnte meinen nächsten Flug kaum erwarten. Es war einfach ein unbeschreibliches Gefühl gewesen und ich wollte es wieder erleben. Aber dafür sollte ich mir auf jeden Fall überlegen, wie ich das Risiko, dabei gesehen zu werden, verringern konnte. Nach einiger Zeit des Überlegens kam ich endlich auf eine Lösung. Ich würde einfach Nachts fliegen.

Trotz meiner Aufregung kam mir auch schon in meinen damals jungen Jahren noch ein anderer Gedanke. Von wem hatte ich diese Fähigkeit? Schließlich tauchte so etwas nicht einfach so auf, sondern wurde in bestimmten Familien weitervererbt. Und diese achteten darauf, dass es auch dabei blieb. Das wusste bei uns jedes Kind. Man brauchte sich also keine Hoffnungen zu machen, irgendwann mal in solch eine Familie einzuheiraten. Aber es hinderte niemanden, vor allem die jungen Mädchen nicht, daran, davon zu träumen.

Beim Essen dann war ich sehr hibbelig, aber trotzdem ungewöhnlich still. Ich konnte einfach nicht sitzen bleiben, war aber trotzdem so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass ich mich an keinem Gespräch beteiligte. Dafür beobachtete ich meine Eltern und suchte nach Ähnlichkeiten mit mir. Ich konnte aber nichts mit Sicherheit sagen, da ich meiner Mutter schon immer sehr ähnlich sah und nur wenig mit meinem Vater gemeinsam hatte. Nur unsere Augenfarbe ähnelte sich. Wir hatten beide hellblaue Augen, auch wenn meine einen Tick dunkler waren und mehr strahlten. Das musste aber nicht bedeuten, dass mein Vater nicht mein Vater war, sondern konnte auch daran liegen, dass meine Augen einfach dunkler wirkten, weil sie etwas von Mutters grauer Farbe mit abbekommen hatten.

Nachdem ich wirklich auffallend still gewesen war, fragte Carmen mich schließlich, was mit mir los sei, und ich versuchte sie abzuwimmeln und zu beruhigen, indem ich meinte, ich sei müde. Um damit nicht aufzufliegen, musste ich natürlich dann auch ins Bett gehen. Vorher kontrollierte ich aber noch die Wasserschale unserer Katzen und schnappte mir im Vorbeigehen noch etwas mehr Garn. Meine Kleidung war nur notdürftig repariert und ich hatte Glück, dass es niemandem aufgefallen war. Was aber nicht so bleiben würde, wenn jemand sie in die Finger bekam bei der Wäsche und sie bis dahin nicht richtig repariert worden waren.

Wenigstens gab es noch Tageslicht, so dass ich das sofort erledigen konnte, ohne eine Kerze anzuzünden. Kerzenlicht hätte man gleich bemerkt, sobald jemand an meiner Zimmertür vorbeikommen würde. Dann würde meine Flunkerei mit dem Müde sein auffliegen und außerdem müsste ich dann später erklären, warum die Kerze bei mir weniger lang als sonst gehalten hat.

Aber ich hatte Glück und konnte alles flicken, bevor das Tageslicht verschwunden war. Das ging aber auch nur, weil es Sommer war und es da länger hell.

Es kam auch niemand herein um nach mir zu sehen und erwischte mich. Nur kam mir während des Nähens ein Gedanke. Ich wollte nicht nach jedem Flug meine Kleidung reparieren, also musste ich dafür eine Lösung finden. Aber das überlegte ich mir nicht mehr an dem Tag. Stattdessen ging ich schlafen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meine Zimmernachbarin Viola. Danke für die Hilfe :) Du bist eine super Königin ;)

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