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1.Kapitel


Ihre nackten Füße trommeln über den kühlen Waldboden. Niedriges Gestrüpp zerkratzt ihre Beine und ihr Kleid will sich abwechselnd zwischen ihren Beinen oder im den Büschen verfangen. Die schwitzigen Hände hat sie in den Rock gekrallt um ihn genau daran zu hindern. Ihr Zopf hat sich aufgelöst und die langen Haare flattern hinter ihr her. Bestimmt hängen schon einige Blätter in ihm. Ständig musste sie sich wieder losreißen, wenn wieder ein Ast sie an ihrem Haar festhalten wollte. Ihr Atem geht schon stoßweise und ein heftiges Seitenstechen kündigt sich schon an. Vor ihren Augen tanzen immer wieder bunte Sterne, was ihre Sicht zusätzlich zum ständig wechselnden Licht und Schatten erschwert. In ihren Ohren ist das Blut wie Meeresrauschen und wird scheinbar sogar immer lauter. Doch trotzdem kann sie noch ihre Verfolger hören. Grölend folgen ihr die anderen Dorfkinder und rufen ihr hinterher, dass es doch nichts bringt weg zu laufen. Sie wird doch gefangen werden. Wo will sie sich auch auf dieser kleinen Insel verstecken?
Einen Moment überlegt sie tatsächlich wieder einmal einfach aufzugeben. Gerade als sie langsamer werden will wird es vor ihr heller. Sie ist einmal quer durch den Wald gerannt. Weiter als all die Male zuvor. Hier im hinteren Bereich der Insel waren alle bis jetzt so selten, dass sie sich nicht wirklich auskennen. Auch wenn die Insel klein ist und ihr Dorf das einzige ist, heißt das nicht, dass alle ihre komplette Umgebung kennen.
Kaum hat sie den Schutz der Bäume verlassen, da bleibt sie erst einmal einen Moment stehen um sich zu orientieren. Im Wald ist sie eher blind gerannt, aber jetzt will sie sich einen Überblick verschaffen, damit sie doch eine Chance hat ihren Häschern zu entkommen.
Direkt vor ihr befindet sich ein abschüssiger Grashang, der zum Meer führt. Das Rauschen in ihren Ohren kommt also zumindest zum Teil von der Nähe des Meeres. Doch das registriert sie nur am Rande. Ihr Blick bleibt am blau glitzernden Wasser hängen und unbewusst geht sie einen Schritt auf das kühle Nass zu.
In dem Moment hört sie wieder einen Ruf im Wald hinter sich:
„Du gehörst jetzt dem Prinzen! Du kannst nicht vor deinem zukünftigen Ehemann weglaufen!“
Das reist sie aus ihrem Bann und hektisch sucht sie nach einer geeigneten Fluchtroute. Über den Strand wäre eine schlechte Idee. Ihre Fußspuren wären viel zu leicht zu verfolgen. Außerdem kann man sie weithin sehen. Tastend sucht ihr Blick weiter nach einer Versteckmöglichkeit. Er bleibt an einer großen Felsformation hängen, die sich links von ihr dem Meer entgegenstreckt. Sie ist wirklich groß und große, dunkle Spalten befinden sich in ihr. Dort könnte sie ein Versteck finden und das sogar, bevor der Erste ihrer Verfolger aus dem Wald herauskommen wird. Kurzentschlossen mobilisiert sie noch einmal ihre letzte Kraft und rennt auf ihre erste Chance, unbeschadet den Tag zu überstehen, zu.
Kaum angekommen sucht sie schon mit fliegenden Fingern Halt für ihre Hände. Noch im Rennen hat sie eine besonders große Felsspalte ausgemacht, die ihr als Versteck geeignet scheint. Zu ihr klettert sie nun. Sie erreicht einen ersten größeren Felsvorsprung und nutzt die Gelegenheit um sich noch einmal zum Waldrand umzuschauen. Dabei achtet sie nicht darauf, wo sie hintritt und im nächsten Moment findet sie sich im Dämmerlicht auf einem sandigen Untergrund liegend wieder.
Etwas benommen setzt sie sich auf und wartet darauf, dass ihre Augen sich an das Licht gewöhnen. Neugierig sieht sie sich dann um. Sie sitzt in einer erstaunlich großen Höhle. Der Boden ist mit weichem Sand gepolstert und fühlt sich leicht feucht und kühl an. Aber er hat ihren Sturz abgefedert. Als sie ihren Blick nach oben wendet, kann sie auch erkennen, woher sie gefallen ist. Schätzungsweise 5 m über ihr befindet sich ein Loch in der Decke. Es ist der einzige Eingang, den sie auf den ersten Blick ausmachen kann. Aber ohne ein Hilfsmittel wird sie die Höhle nicht auf den selben Weg verlassen können. Ihr Blick gleitet weiter und bleibt als nächstes auf einem sehr dunklen Schatten in der Wand ihr gegenüber hängen. Das könnte ein Tunnel sein, der zu einem andern Ausgang führt. Langsam erhebt sie sich und geht näher auf die Wand zu. Direkt davor stehend kann sie nun wirklich einen Tunnel erkennen. Er geht erst schräg nach rechts weg und macht dann nach 2 m einen Knick, so dass sie nicht sehen kann, wo er genau hinführt. Gerade will sie ihm folgen, als sie gedämpft die Rufe ihrer Verfolger hört.
„Namia wo steckst du? Komm lieber gleich raus, wir finden dich doch!“
Aber das interessiert sie nicht. Lieber erkundet sie diese Höhle. Vorsichtig tastet sie sich in den Tunnel vor. Kaum hat sie den Knick passiert, da wird es auch schon wieder etwas heller. Der schmale Gang ist nicht lang und endet wieder in einer Höhle. Diese ist sogar noch größer, als die vorherige. Bis zur Decke sind es bestimmt 10 m. Auch hier ist der Boden mit Sand bedeckt, aber die größte Fläche wird von einem flachen Becken eingenommen, das mit Meerwasser befüllt ist. Hier hat sie also ihren zweiten Ausgang. Durch den Wasserzufluss kann sie problemlos nach draußen ins Meer schwimmen und von dort wieder an den normalen Strand. Doch noch will sie nicht zurück. Nicht solange die anderen nach ihr suchen. Lieber bleibt sie noch eine Weile hier und genießt die seltene Ruhe.
Sie setzt sich an den Rand des Beckens und lässt ihre Beine hinein hängen. Das Wasser entspannt ihre überanstrengten Muskeln und nimmt etwas ihrer Anspannung weg. Mit einem kleinen Aufseufzen fällt sie nach hinten auf den Rücken und streckt ihre Arme weit von sich. Dann gönnt sie sich für einen Moment den Luxus einfach mal die Augen zu schließen und nur zu fühlen. Dazu kommt sie viel zu selten, obwohl es die beste Entspannung ist, die sie kennt.
Der Sand unter ihr ist leicht kühl und feucht, aber das ist nicht unangenehm. Eher kühlt es ihren überhitzten Körper. Ein paar Haarsträhnen kitzeln sie an ihren Schultern und Armen. Eine warme Brise streichelt über ihren Körper und auch das Meerwasser an ihren Beinen hat eine angenehme Wärme. Eigentlich sollte man ja meinen, dass es in einer Höhle, in der keine Sonne ist, kalt ist, aber das ist hier nicht der Fall.
Leicht fängt sie an weg zu dösen. Von draußen dringen immer noch leise Stimmen zu ihr. Mit einem lauten Seufzen erinnert sie sich, wie es zu dieser Situation gekommen war.

Vor zwei Tagen war ihr 16. Geburtstag gewesen und wie es so Brauch ist in ihrem Dorf, suchte der Häuptling für sie einen zukünftigen Gefährten aus. Nur leider hat er den genommen, den sie am wenigsten ausstehen kann. Seinen jüngsten Sohn, der nur ein Jahr älter ist als sie. Von ihm hat sie schon immer Sticheleien ertragen müssen und er war es auch, der die anderen Kinder gegen sie aufgehetzt hat und zu ihren Schikanen angestiftet hat. Als sie älter wurden hat er immer versucht sie zu zwingen seine Freundin zu werden. Jedes Mal hat sie sich geweigert und ihn zurückgewiesen. Und jedes Mal hat er ihr daraufhin gedroht, dass sie doch eines Tages mit ihm zusammen sein würde. Damals hatte sie darüber gelacht, doch an ihrem Geburtstag hat sie erfahren, was er damit gemeint hat. Er hat es tatsächlich geschafft seinen Vater zu überreden die beiden zu verbinden.
Gestern war er dann gekommen um seine Erfolg auszukosten, doch sie hat ihn wieder zurückgewiesen mit den Worten:
„Ich werde dich niemals als meinen Gefährten anerkennen. Lieber versuche ich über das Meer von der Insel zu fliehen, selbst wenn ich bei dem Versuch umkommen sollte.“
Daraufhin war er wutschnaubend abgezogen. Doch heute ist er wiedergekommen. Sie hat gerade für ihre Tante Früchte im Wald gesammelt, als er mit den anderen Jugendlichen gekommen ist. Plötzlich war sie umzingelt. Im nächsten Moment lag der Korb mit den Früchten auf dem Boden und er stand ganz dich vor ihr.
„Wenn du mich nicht freiwillig akzeptieren willst, dann müssen wir dich eben zu deinem Glück zwingen. Überleg doch mal. Wenn du mit mir zusammen bist, dann wird niemand mehr etwas darüber sagen, dass keiner weis, wer deine Mutter ist und woher dein Vater dich hat. Du wärst endlich ein geachtetes Mitglied unseres Dorfes. Willst du das wirklich ausschlagen?“
Daraufhin hat sie nur lachen können.
„Dank dir ist doch erst dieses ganze Gerede so extrem geworden. Würdest du mich einfach in Ruhe lassen, dann wäre mir mehr geholfen, als wenn ich mich mit dir verbinden würde. Glaubst du wirklich ich würde mich freiwillig mit meinem größten Feind verbünden? Du hast sie ja nicht mehr alle!“
Den letzten Satz hätte sie vielleicht besser nicht gesagt. Jetzt war er wütend und sie wusste, es wäre besser nun zu flüchten. Sie wirbelte herum und hat den kleinsten aus ihrer Reihe einfach weg geschubst und ist in den Wald geflüchtet. Die anderen sind ihr nicht gleich gefolgt. Er hat ihnen gesagt, sie sollen ihr einen Vorsprung lassen. Wie lange sie schlussendlich weggerannt ist, weis sie nicht mehr. Aber nun ist sie ziemlich erschöpft

Plötzlich werden die Stimmen lauter. Alarmiert setzt sie sich auf und lauscht.
„Hat schon jemand hier bei den Felsen nachgeschaut?“
„Nein, aber wir suchen jetzt auch schon so lange nach ihr, die ist bestimmt nicht mehr hier. Wahrscheinlich sitzt sie schon längst wieder im Dorf und lacht sich schlapp, weil sie uns doch mal entkommen ist.“
„Du hast wahrscheinlich Recht. Lasst uns wieder zurück gehen.“ Das ist seine Stimme. Sie spannt sich noch mehr an.
Wieder die erste Stimme:
„Macht das, ich schaue trotzdem nochmal hier bei den Felsen nach.“
Die Stimmen werden wieder leiser, aber der eine scheint immer noch da zu sein. Angestrengt lauscht sie auf weitere Geräusche. Dieses Kratzen gerade, könnte von ihm kommen, wie er nach oben klettert. Hoffentlich fällt er nicht durch das gleiche Loch wie sie.
Plötzlich ein kleiner Aufschrei. Er ist doch gefallen.
Vorsichtig lässt sie sich ins Wasser gleiten um ein Plätschern zu verhindern. Wenn sie sich beeilt, ist sie aus der Höhle, bevor er die zweite Höhle entdeckt.
Misstrauisch lauscht sie noch einmal, vernimmt aber erst einmal nur ein leises Fluchen. Noch scheint er den Tunnel nicht entdeckt zu haben. Dann taucht sie ganz unter. In dem Moment passiert etwas seltsames. Ihre Beine werden steif und ziehen sich plötzlich an wie Magnete. Dann sind sie zusammen und ein Kribbeln zieht sich von ihrer Hüfte abwärts zu ihren Füßen. Ihr erster Gedanke ist ein Krampf. Die aufkommende Panik mühsam unterdrückend versucht sie ihre Beine zu bewegen. Gegensätzlich funktioniert das ganze gar nicht. Aber als sie mit beiden gleichzeitig die selbe auf-ab Bewegung macht, schießt sie förmlich aus der Höhle ins offene Meer. Vor Schreck will sie schreien. Zu spät fällt ihr ein, dass sie ja immer noch unter Wasser ist. Mit rasender Geschwindigkeit entweicht die Luft ihren Lungen und wird durch Meerwasser ersetzt. Doch anstatt das ein Gefühl des Erstickens eintritt, kann sie nun richtig atmen. Jetzt riskiert sie auch einen Blick auf ihre Beine. Doch an deren Stelle ist ein roter Fischschwanz getreten. Ihr Blick wandert weiter nach oben an ihrem Körper. Das rote Kleid ist auch verschwunden. An seiner Stelle ist ein Oberteil aus ebenfalls roten Schuppen, das nur etwas mehr als ihre Brüste bedeckt.
Im nächsten Moment wird ihre Aufmerksamkeit wieder auf etwas anderes gelenkt. Die Strömung hat ihr ihre schwarzen Haare ins Gesicht getrieben. Doch sie sind nicht mehr rein Schwarz, sondern haben rote Strähnen. Was passiert hier gerade mit ihr?
Sie weis es nicht, aber einem Teil von ihr ist es auch egal. Sie fühlt sich fantastisch so. Erst jetzt fühlt sich sich richtig zu Hause. Ohne noch einen weiteren Gedanken an ihren zukünftige Gefährten oder ihre Verfolger zu verschwenden, entschließt sie sich, diese Gestalt noch etwas auszunutzen und sich endlich einmal richtig frei zu fühlen. Ohne ständig den Blick der anderen auf sich zu spüren und ihren Sticheleien ausgesetzt zu sein.
Mit diesem Gedanken dreht sie sich nach unten und schwimmt dem Meeresboden entgegen um ihn zu erkunden.


2.Kapitel


Im ersten Moment kommt der Boden ihr viel zu schnell entgegen. Erst in letzter Sekunde schafft sie es abzubremsen. Das mit der richtigen Kraftdosierung sollte sie vielleicht mal üben. Am besten noch bevor sie ihre Umgebung weiter erkundet. Aber wie soll sie das am besten anstellen mit dem üben? Vielleicht, indem sie sich ein bestimmtes Ziel sucht und gezielt darauf zu schwimmt? Doch, das könnte klappen.
Überlegend schaut sie sich um nach einem geeigneten Punkt. Langsam dreht sie sich um ihre eigene Achse. Das klappt ja schon mal ganz gut. Dann fällt ihr Blick auf eine auffällige Steinformation. Es ist ein sehr hoher Felsen mit einem Loch in der Mitte, durch das immer wieder kleine Fische schwimmen. Doch sie würde auch da durch passen. Kurzentschlossen nimmt sie ihn zu ihrem Ziel. Er ist auch nicht zu weit weg von ihr. Vorsichtig bewegt sie ihre Flosse und setzt sich langsam in die gewünschte Richtung in Bewegung. Das klappt ja ganz gut. Mutiger geworden schlägt sie etwas kräftiger aus und wird auch schneller, aber nicht so wie beim letzten Mal. Nun schwimmt sie im normalen Schwimmtempo eines Menschen auf den Felsen zu, braucht aber viel weniger Kraft dafür. Nun erkennt sie auch ihren Fehler von vorher. Sie hat die gleiche Kraft benutzt, die sie als normaler Mensch gebraucht hätte und das war einfach zu viel gewesen.
Jetzt hat sie auch die Zeit das Schwimmen zu genießen. Sie spürt die warme Sonne immer noch auf ihrer Haut, auch wenn es nicht mehr so intensiv ist. Das Wasser streichelt ihre Haut wie Samt und sie fühlt sich eher schwerelos und schwebend, als das sie das Gefühl hat zu schwimmen.
Dann ist sie bei ihrem Ziel angekommen. Aus einer Eingebung heraus setzt sie sich in das Felsloch und betrachtet neugierig das sich ihr bietende Szenario. Alles am Boden ist mit hellem Sand bedeckt, nur hin und wieder unterbrochen von einem Seegrasfeld oder einzelnen größeren Steinen. Überall tummeln sich kleine und größere bunte Fische. Manche sind einzeln unterwegs, andere in einem Schwarm. Und das ganze wird vom Licht der Sonne erhellt. Doch wegen des Wasser ist diese Helligkeit etwas gedämpft und durch die Wellen der Oberfläche entstehen immer wieder neue Schatten auf dem Sand, was dauernd neue Muster erzeugt.
Namia ist von der Schönheit dieses friedlichen Bildes so überwältigt, dass sie gedankenverloren auf ihrem Platz bleibt bis es anfängt dunkler zu werden. Da rafft sie sich endlich auf und schwimmt in Richtung Insel zurück.
Doch als sie in ihre Nähe kommt, hat sie plötzlich einen erschreckenden Gedanken. Was, wenn sie nicht wieder an Land gehen kann, sondern eine Meerjungfrau bleiben muss? Dann könnte sie ihre Familie nie wieder sehen. Aber versuchen wird sie es trotzdem. Vielleicht reicht es ja, wenn sie einfach aus dem Wasser kommt?
Sich immer wieder nach anderen aus ihrem Dorf umschauend, nähert sie sich einem Strand in der Nähe der Siedlung. Noch ist sie in einem Bereich, in dem sie ohne Probleme untertauchen kann und nicht mehr gesehen wird. Sollte sie allerdings im wirklich flachen Wasser sein und dann kommt jemand und sieht sie so, will sie sich gar nicht vorstellen, was passieren könnte. Trotzdem nähert sie sich dem Strand noch weiter.
Kaum ist sie allerdings in einem Bereich, wo das Schwimmen ihr schon schwerer fällt, überkommt sie wieder dieses Kribbeln wie zu Anfang auch. Doch diesmal ist es in umgekehrter Richtung. Fasziniert kann sie beobachten, wie sich die Schwanzflosse wieder in ihre Beine verwandelt und auch ihr Kleid plötzlich wieder ihren Körper bedeckt.
Schnell richtet sie sich im Wasser auf und schaut noch einmal, ob auch niemand gekommen ist. Doch sie ist immer noch allein. Schnellen Schrittes macht sie sich auf den Weg zur Hütte ihrer Tante Mirilla.
So geht das also mit dem zurückverwandeln. Sie hat einfach nur in sehr flaches Wasser kommen müssen. Ob sie wohl noch einmal zur Meerjungfrau werden kann? Sie hätte auf jeden Fall nichts dagegen öfter ihre Zeit unter dem Wasser zu verbringen.

Vorsichtig nähert sie sich den ersten Hütten des Dorfes. Hoffentlich wird sich nicht von einem der anderen Jugendlichen entdeckt. Doch sie hat Glück und erreicht ihr Ziel ohne gesehen zu werden.
Leise schleicht sie sich nach drinnen. Es wäre ja möglich, dass ihr Glück noch länger an hält und sie einer Strafpredigt von Mirilla entgeht, weil sie so lange weggeblieben ist. Doch darauf hofft sie vergeblich. Die ältere Frau hat einfach zu gute Ohren. Namia ist gleich entdeckt und natürlich ist ihre Tante sauer. Sie kommt viel zu spät und dann auch noch ohne die Früchte.
Zur Strafe schickt sie das Mädchen ohne Essen sofort auf ihr Zimmer. Doch das macht Namia nichts. Sie ist noch viel zu aufgeregt von ihrem Abenteuer heute Nachmittag, als das sie etwas essen könnte. Und sie wäre jetzt sowieso lieber allein, um weiter ihren Gedanken nachzuhängen. Würde sie in der Nähe ihrer Tante bleiben, dann würde diese sofort merken, dass etwas passiert ist und solange nachhaken, bis sie es ihr erzählt hätte. Doch das mit der Meerjungfrau wollte sie lieber für sich behalten.

Am nächsten Morgen ist sie erstaunlicherweise noch früher auf als sonst. Die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen und die ersten Vögel fangen gerade erst an aufzuwachen. Leise schleicht sich Namia nach draußen und begibt sich zum Brunnen in der Dorfmitte. Dort unterzieht sie sich einer Katzenwäsche. Das kalte Wasser tut ihr gut und weckt sie noch mehr auf.
Mit einem sehnsüchtigen Blick aufs Meer beschließt sie auch gleich Wasser zum Wäschewaschen mitzunehmen. Dann ist sie hoffentlich früher mit ihren Pflichten fertig und kann wieder im Meer schwimmen gehen. Hoffentlich wird sie wieder zur Meerjungfrau dabei.
Mit zwei großen Eimern Wasser kehrt sie zur Hütte der Tante zurück und schüttet einen auch gleich in das Becken fürs Wäschewaschen. Es ist ein flacher, etwas breiterer Holzbehälter. Zum Wasser kommt noch Seife dazu und dann wird die Wäsche einzeln und von Hand auf einem Brett geschrubbt, bis sie sauber ist. Danach spült man sie einmal in klarem Wasser aus und wringt dann alles Wasser so gut wie möglich aus. Danach wird der Rest vom Wind und der Sonne getrocknet.
Den zweiten Eimer stellt sie neben dieses Becken. Das ist das klare Wasser zum Ausspülen. Anschließend schleicht sie sich noch einmal in die Hütte und holt den großen Korb mit Wäsche aus seiner Ecke. Wieder draußen macht sie sich gleich an die Arbeit. Während die Sonne immer höher in den Himmel wandert und das Dorf langsam aus seinem Schlaf erwacht, bearbeitet sie ein Stück nach dem anderen.
Als ihre Tante schließlich müde aus der Hütte tritt um sich zum Brunnen für eine kurze Wäsche zu begeben ist Namia gerade dabei das Schmutzwasser zu entsorgen. Gemeinsam mit der verwunderten Mirilla macht sie noch einmal den Weg zum Brunnen und holt neues Wasser zum Kochen und den Abwasch danach.
Auf ihre Frage, warum Namia schon wach und am arbeiten ist, antwortet diese nur, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Das sie einfach nur schnell fertig werden will mit ihren Pflichten sagt sie nicht.
Gemeinsam bereiten die Frauen ihr Frühstück und besprechen was heute noch getan werden muss. Mirilla will die Hütte aufräumen und gründlich putzen. Namia soll dafür noch einmal Früchte holen und ein paar Wurzeln sammeln. Außerdem soll es heute Fisch zu Essen geben. Das bedeutet angeln für sie.
Direkt nach dem Abwasch macht sie sich an die Erledigung ihrer Aufgaben. Als erstes geht sie in den Wald um die Früchte und Wurzeln zu holen. Von weitem kann sie ihren Verlobten, Larko sehen, aber er bemerkt sie nicht. Er ist zu ihrem Glück gerade beschäftigt.
Völlig unbehelligt von allen kann sie ihrer Arbeit in Wald nachgehen. Und da sie sich noch mehr beeilt als sonst um endlich verschwinden zu können, ist es nicht verwunderlich, dass sie früher als erwartet wieder zurück im Dorf ist und ihrer Tante die gewünschten Dinge bringt.
Diese will sie in ein Gespräch verwickeln, weil sie merkt, dass ihre Kleine wegen irgendwas total aufgeregt ist. Doch Namia schnappt sich so schnell ihre Angelsachen und ist wieder draußen, dass die Ältere gar nicht richtig zu Wort kommt.
Beim Angeln kann man sich leider nicht beeilen. Da hat man entweder Glück oder Pech. Und meist braucht man sehr viel Geduld. Um sich die Zeit etwas zu vertreiben mein Warten singt sie leise ein paar Lieder vor sich hin. Alle handeln vom Meer und ihrer Insel. Dabei fällt ihr ein besonderer Name für die Insel auf. In einem Lied wird sie Insel der Meereskinder genannt. Ob damit wohl Meerjungfrauen gemeint sind? Sie beschließt den Medizinmann des Dorfes zu fragen. Wenn das jemand wissen kann, dann er.
In dem Moment wird ihre Aufmerksamkeit unweigerlich auf ihre Angel gelenkt. Es scheint ein Fisch angebissen zu haben. Mit schnellen und geübten Bewegungen befördert sie ihn an Land. Er ist wirklich groß. Mit den Beilagen zusammen wird er auf jeden Fall Mirilla und sie satt machen.
Zufrieden lächelnd macht sie sich auf den Rückweg. Die Sonne hat noch nicht ganz ihren Zenit erreicht und sie hat schon alles erledigt.
Auch ihre Tante ist in der Zeit weit gekommen. Ein Großteil der Hütte glänzt schon wieder nur so vor Sauberkeit. Als sie ihre Nichte mit den Fisch sieht, die gerade hereinkommt, legt sie den Putzlappen allerdings beiseite und ohne sich absprechen zu müssen, beginnen sie mit den Vorbereitungen für ihr Mittagessen.
Beim Essen selber reden sie nicht viel. Dann beim Abwaschen fragt Mirilla Namia, ob sie ihr noch beim Rest der Hütte helfen will. Doch diese antwortet:
„Sei mir nicht böse, aber ich möchte ganz schnell zum Medizinmann. Ich habe eine Frage für ihn, die nur er mir beantworten kann.“
Leise seufzt die andere. Sie kennt die unstillbare Neugierde des Mädchens. Ständig löchert sie den alten Mann mit Fragen und gibt keine Ruhe, bis sie nicht eine zufriedenstellende Antwort bekommen hat.
„Na gut, dann geh zu ihm. Wenn ich dich hierbehalten würde, käme doch nichts gescheites dabei raus. Du wärst viel zu ungeduldig.“ Fast meint Namia ein Lachen in diesen Worten zu hören. Ohja, ihre Tante kennt sie wirklich gut.
Kaum ist der Abwasch beendet, ist sie auch schon wie ein wahrer Wirbelwind auf dem Weg zum Medizinmann. Seine Hütte ist etwas außerhalb des Dorfes und sie muss ein Stück durch den Wald laufen und dann zur Hälfte auf den kleinen Berg steigen, der hinter dem Dorf aus der Insel aufragt und so die Hütten etwas vor den starken Stürmen des Winters schützt.
Angekommen klopft sie vorsichtig an. Von innen ertönt die krächzige Stimme des alten Mannes.
„Herein kleine Namia. Was hast du denn diesmal auf dem Herzen?“
Vorsichtig und wie immer mit Ehrfurcht erfühlt, betritt sie die Hütte, die sie immer wieder in Staunen versetzt. Jeder Erreichbare Fleck an der Decke scheint mit getrockneten Kräutern und anderen Pflanzen voll gehängt. Die Regale, die sich die ganzen Wände entlang ziehen, sind nur so verstopft von Büchern und verschiedenen Tiegeln und Töpfen in denen es die seltsamsten Dinge gibt. Und der kleine Tisch in der Mitte des Raumes verschwindet fast unter all den Pergamentrollen. In Mitten dieses Chaoses sitzt ein alter gebrechlicher Mann, der ihr aus wachen, weisen Augen entgegen blickt.
„Guten Tag Weiser Nepu. Ich habe eine Frage, die nur ihr mir beantworten könnt.“ Namia ist wie immer nervös, wenn sie ihn anspricht, auch wenn sie ihn schon so lange kennt.
„Ich bin immer der einzige, der deine Fragen beantworten kann. Das ist nichts neues mein Kind. Nun stell schon deine Frage.“ Auch er scheint belustigt zu sein. Es ist ein sich immer wiederholendes Ritual, dass sie zu ihm kommt, wann immer sie eine Frage hat. Ihre Fragen sind immer so außergewöhnlich, dass die anderen Dorfbewohner ihre Neugier einfach nicht zufrieden stellen können.
„Warum wird unsere Insel auch Insel der Meereskinder genannt?“
„Oh, die Frage ist neu. Vor dir hat sie mir noch niemand gestellt.“ Der alte Nepu ist sichtlich erstaunt.
„Auf diese Frage gibt es leider keine genaue Antwort. Nur eine Legende gibt einen Hinweis auf die Herkunft des Namens.“
Bei diesen Worten bedeutet er ihr, sich zu setzen. Kaum hat sie sich einen Platz gesucht, redet er weiter.
„Als unsere Vorväter auf dieser Insel ankamen, da waren sie hier nicht allein, so besagt die Legende. Ein weiteres Volk lebte nahe der Insel und beide Völker besuchten sich oft. Es herrschte auch ein reger Handel und das andere Volk half den Vorvätern ein starkes und sicheres Dorf aufzubauen. Doch die wahre Herkunft dieses Volkes blieb immer ein Rätsel. In der Nähe gab und gibt es immer noch nicht andere Inseln und die Mitglieder des anderen Volkes schienen immer wie aus dem Nichts auf der Insel aufzutauchen. Nie sah man sie mit einem Boot wegfahren, oder ankommen. Auch fand sich auf der Insel keine andere Siedlung. Dieses Volk nannte sich selbst Kinder des Meeres. Und weil sie viel früher als wir hier waren, wird die Insel auch noch manchmal Insel der Meereskinder genannt, auch wenn die meisten nicht mehr wissen, warum es diesen Namen gibt. Wie bist du eigentlich darauf gekommen?“
Neugierig mustert er das wissbegierige Mädchen vor ihm.
„Ich bin auf den Namen in einem unserer Lieder gestoßen und ich wollte wissen, ob sich mein Verdacht bestätigt über seine Bedeutung.“
„Und hat er das?“
Nun ist die Neugierde Nepus geweckt. Das Mädchen scheint etwas herausgefunden zu haben, was er nicht weis.
„Ja, hat er. Ich glaub, ich weis sogar, woher dieses Volk kommt. Sie tragen es sehr deutlich in ihrem Namen. Tut mir leid Weiser Nepu, aber ich muss jetzt los. Ich komm dich bald wieder besuchen.“
Bei diesen Worten ist sie auch schon aufgesprungen und auf den Weg den Berg hinunter. Zurück lässt sie einen verwirrten alten Mann. Er kann sich die Worte des Mädchens nicht so ganz erklären

Namia eilt nicht ins Dorf zurück. Stattdessen nimmt sie bei der Wegkreuzung direkt bevor sie wieder durch den Wald muss, den Weg zu einer kleinen abgelegenen Bucht.
Kurz vor der Bucht verlangsamt sie ihre Schritte und lauscht auf Stimmen vor sich. Die Jugendlichen des Dorfes kommen in ihrer Freizeit gern hier her um etwas unbeobachtet von den Erwachsenen zu sein. Doch aus der Bucht kommt kein Laut. Sie scheint Glück zu haben. Die Anderen haben ihre Aufgaben anscheinend noch nicht erledigt.
Ihren Schritt wieder beschleunigend, rennt sie direkt ins Meer. Im flachen Wasser, wo sie noch rennen kann, passiert erst mal gar nichts. Doch kaum stürzt sie sich mit dem Oberkörper voran in die Wellen und will anfangen zu schwimmen, da verspürt sie wieder dieses Kribbeln in ihren Beinen. Diesmal geht es schneller als beim letzten Mal und nur einige Sekunden später ist sie wieder in die Unterwasserwelt abgetaucht.
Erst als die Dämmerung einsetzt taucht sie wieder von ihrer Erkundungstour auf.


3.Kapitel


Auf diese Weise vergehen einige Tage. Jeden Tag versucht Namia ihre Pflichten möglichst schnell zu erledigen, um anschließend ihre Erkundungstour um die Insel fortzusetzen. Dadurch kann sie auch den anderen Jugendlichen, doch vor allem Larko, aus dem Weg gehen.
Dieser wird jeden Tag wütender, dass sie es schafft, sich ihm zu entziehen. Er will sie endlich haben. Sie ist das schönste Mädchen des Dorfes und seiner Meinung nach, steht es nur ihm zu sie zu besitzen. Was sie davon hält ist ihm ziemlich egal. Für heute hat er sich vorgenommen sie auf jeden Fall abzufangen, bevor sie verschwinden kann.
Namia ist zu den Zeitpunkt gerade damit beschäftigt, Teig für Fladenbrote zuzubereiten. Es ist ihre einzige Aufgabe für heute. Mirilla meinte, sie solle sich danach mal einen schönen Tag machen. Diese sitzt auch neben ihr und feuert schon einmal den Ofen an. Beide werden fast gleichzeitig fertig und machen sich dann gemeinsam daran die kleinen Fladen zu formen. Nachdem sie die im Ofen untergebracht haben, lässt Namia sich nicht lange bitten und ist schon wieder auf dem Weg zum Meer.
Dabei kommt sie an Larko vorbei. Er will wissen, wo sie hin geht, aber sie meint nur.
„Das geht dich nichts an.“
Damit beeilt sie sich aus seinem Blickfeld zu kommen. Doch der junge Mann will sich nicht mit dieser Antwort zufrieden geben. Er folgt ihr. Schnell wird er aber von ihr bemerkt und sie versucht ihn abzuschütteln. Zum Schluss rennen beide. Er folgt ihr bis zur kleinen Bucht. Da überrascht sie ihn. Anstatt am Strand weiter zu rennen, stürzt sie sich kopfüber ins Meer. Ihm fällt ein, dass sie ja die beste Schwimmerin des Dorfes ist. Schon immer gewesen ist. Höchst wahrscheinlich will sie sich so vor ihm in Sicherheit bringen. Aber eins hat sie nicht bedacht, denkt er sich. Irgendwann muss sie an Land kommen. So lange braucht er sie nur am Strand zu verfolgen.
Konzentriert beobachtet er das Meer um zu sehen, wo sie wieder auftaucht, aber auch nach Minuten passiert nichts. Jetzt wird er nervös. Was, wenn sie aus irgendeinem Grund nicht wieder auftauchen kann? Fast schon panisch rennt er ins Meer um sie zu suchen. Er kann sich nicht verlieren. Damit hätte er nicht mehr das schönste Mädchen zur Verlobten. Doch so lange er auch taucht, er kann sie nirgends finden.
Namia hat sich noch im selben Moment, in dem sie mit ihrem ganzen Körper im Wasser war, wieder zur Meerjungfrau gewandelt. Sofort ist sie mit einem schnellen Schwanzschlag weit raus ins Meer geschwommen. Heute ist es definitiv sicherer, sich nicht zu nahe an der Insel aufzuhalten. Das hatte sie zwar sowieso vorgehabt, aber Larkos Anwesenheit am Strand bestätigt sie nur noch in diesem Entschluss.
Immer tiefer schwimmt sie. Hier wird es schon etwas dunkler. Die Sonne kommt nicht mehr so gut durch das Wasser. Doch trotzdem kann man noch alles gut erkennen. Dieses gedämpfte Licht tut ihren Augen sogar besser, als das ganz grelle Licht weiter oben.
Neugierig beobachtet sie ihre Umgebung. Hier sind auf jeden Fall mehr größere Fische. Kurz sieht sie einen Hai aus der Ferne. Eine Delfinschule lädt sie zum Spielen ein. Dabei wird sie plötzlich von hinten angesprochen.
„Guten Tag Lady.“
Erschrocken wirbelt sie herum. Vor ihr ist ein junger Meermann. Er hat eine grüne Schwanzflosse und eine durchtrainierten nackten Oberkörper. Sein Gesicht ist sehr männlich und kantig. Ein Gesicht, was man einfach nicht verwechseln kann. Sie kann einen leichten Bartschatten erkenne. Einzelne Strähnen seines etwas längeren braunen Haars werden ihm von der Wasserströmung immer wieder in die Stirn getrieben. Seine warmen braunen Augen beobachten sie genau und fixieren sie auf ihrem Platz. Er ist der erste des Meervolks, den sie trifft.
„G-Guten T-Tag.“, stottert sie etwas überrumpelt und verlegen.
Er nähert sich ihr und ergreift ihre Hand zum Handkuss. Dann fragt er:
„Dürfte ich ihren Namen erfahren, schöne Lady?“
Namia spürt, wie ihr Gesicht warm wird. Bestimmt hat sie jetzt ganz rote Wangen.
„Ich bin Namia. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
Ein Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. Völlig fasziniert kann sie ihren Blick nicht von ihm nehmen. So ein schönes Lächeln hat sie noch nie gesehen.
„Ich bin Idrico Lague, Prinz von Aquatic“
Dabei macht er eine leichte Verbeugung.
„Und aus welchem Reich kommst du, Namia? Aus Aquatic kannst du auf jeden Fall nicht. Da kenne ich jeden Bewohner.“
„Ähm.“, fängt sie an zu stottern.
„Ich komme eigentlich aus keinem Unterwasserreich. Ich bin auf der Insel der Meereskinder aufgewachsen. Vor einigen Tagen habe ich mich plötzlich im Wasser zur Meerjungfrau verändert.“
Sein Gesicht drückt jetzt das reine Erstaunen aus.
„Dann bist du ja zur Hälfe ein Mensch. Das gab es schon lange nicht mehr. Weist du, wer deine Eltern sind?“
Damit nimmt er ihre Hand und zieht sie zu einigen größeren Steinen um sich mit ihr zu setzen.
„Ich bin bei meinem Vater Nem und meiner Tante Mirilla aufgewachsen. Meine Mutter kennt keiner im Dorf. Sie sind sich noch nicht einmal sicher, ob mein Vater überhaupt mein Vater ist. Er kam eines Tages einfach mit mir auf dem Arm ins Dorf zurück. Aber seit 2 Jahren ist er verschwunden. Er wollte mit seinem Kanu aufs Meer fahren und Fische fangen. Dabei wurde er von einem Sturm überrascht. Seit dem hat ihn niemand mehr gesehen. Immer wenn ich ihn nach meiner Mutter gefragt habe, meinte er nur, er würde es mir an meinem 16. Geburtstag sagen. Der war vor einigen Tagen und da habe ich meine Tante gefragt, ob sie etwas weis, aber ihr hat er auch nie etwas gesagt. Deshalb weis ich über sie nichts. Mein Vater war auf jeden Fall ein normaler Mensch und meine Tante ist es auch. Sie sind in dem Dorf geboren.“
„Dann wird deine Mutter die Meerjungfrau gewesen sein. Nur wird es schwer werden herauszufinden, wer sie ist, wenn sie es gut geheim gehalten hat. Ich könnte es trotzdem versuchen herauszufinden.“
Dann wird sein Blick nachdenklich.
„Du bist also erst sein ein paar Tagen 16, also volljährig. Aber es ist nicht verwunderlich, dass du vorher nicht zur Meerjungfrau geworden bist. Bevor ein Halbblut nicht volljährig geworden ist, erwacht das Meerjungfraugen nicht. Danach kann man sich dann entscheiden, zu welchem Volk man gehört. Entscheidet man sich aber für die Menschen und macht es endgültig, dann kann man niemals wieder zur Meerjungfrau werden. Entscheidet man sich für das Meeresvolk, dann ist der einzige Unterschied, dass es ein Limit gibt, wie lange du an Land bleiben kannst. Du wirst dich bald entscheiden müssen, aber wie willst du das,wenn du das Unterwasserreich gar nicht wirklich kennst? Ich schlage vor, dass ich dir erst einmal Aquatic zeige.“
Namia kann bei diesem Vorschlag nur begeistert nicken und wird auch schon im nächsten Moment von Idrico hinterher gezogen. Er hat kurzerhand ihr Handgelenk geschnappt und ist los geschwommen. Doch schon bald ist das nicht mehr nötig, weil sie von selbst neben ihm schwimmt. Trotzdem lässt er sie nicht los.
Sie sind noch gar nicht lange unterwegs, als unter ihnen in einer nicht sehr tiefen Meeresschlucht eine Stadt auftaucht. Sie ist sehr groß und sehr bunt. Jedes Gebäude ist aus einem anderen Stein gemacht und glitzert richtig im wenigen Licht der Sonne. Dadurch wirkt es auch viel heller. Je näher die beiden kommen, desto mehr Meerjungfrauen und Meermänner kann Namia erkennen. Alle sind wirklich schön und doch total unterschiedlich. Es gibt jede nur erdenkliche Farbe als Schwanzflosse und auch als Haarfarbe.
Staunend schaut sie sich um und ist nun froh über Idricos Hand. Ohne ihn wäre sie schon mehr als einmal gegen etwas oder jemanden geschwommen. Dabei lauscht sie seinen Erklärungen zur Stadt.
Irgendwann fällt dann ihr Blick auf die Sonne.
„Du Idrico? Ich muss nach Hause, sonst macht sich meine Tante Sorgen“
„In Ordnung. Ich begleite dich, damit du dich nicht verirrst.“
Und schon hat er sie wieder hinter sich hergezogen.
Beide schwimmen so schnell sie können und es dauert nur wenige Minuten, bis sie wieder an der Insel angekommen sind.
„Treffen wir uns morgen wieder Namia?“ Sein Blick hat etwas flehendes und trauriges.
Aus einem Impuls heraus umarmt sie ihn.
„Auf jeden Fall treffen wir uns wieder. Mir hat der Tag mit dir heute auf jeden Fall sehr viel Spaß gemacht.“
Damit dreht sie sich um und schwimmt auf den Strand zu. Seinen Blick kann sie die ganze Zeit auf sich spüren. Als sie wieder an Land ist, dreht sie sich noch einmal zum Meer und ihr Verdacht bestätigt sich. Dort im etwas tieferen Wasser schwimmt er und als er ihren Blick bemerkt, winkt er ihr zu. Sie winkt zurück und dann dreht sie sich in Richtung Dorf.

In der Nacht träumt sie von Idrico und am nächsten Morgen kann sie es kaum erwarten wieder ins Meer zu kommen. Ihre Aufgaben erledigt sie sogar noch schneller als die Tage zuvor. Doch bevor sie wieder zum Meer verschwinden kann, versucht Larko sie wieder aufzuhalten.
„Namia, wo warst du gestern? Du bist nicht wieder aus dem Meer aufgetaucht und ich habe dich den ganzen Tag gesucht ohne dich zu finden. Und heute bist du plötzlich wieder da? Wie hast du das gemacht?“
Unwirsch schüttelt sie ihn ab.
„Das geht dich alles gar nichts an. Ich kann machen was ich will, ohne dir Rechenschaft ablegen zu müssen.“
Damit lässt sie einen wütenden Larko zurück.
Wieder im Meer macht sie sich gleich auf die Suche nach Idrico. Doch nicht sie findet ihn, sondern er findet sie.
„Hey Namia! Wie war dein Tag?“
„Frag besser nicht! Mein Möchtegern-Verlobter musste mich mal wieder nerven. Er bildet sich ein über mich bestimmen zu können, dabei hab ich ihm schon tausendmal gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll und sich ne andre Frau nehmen soll. Aber er will einfach nicht aufgeben. Er empfindet noch nicht einmal etwas für mich. Er will mich nur, weil ich die schönste im Dorf bin.“
Plötzlich findet sie sich in Indricos Armen wieder. Leise flüstert er:
„Der Kerl hat dich doch gar nicht verdient! Wenn ich an seiner Stelle wäre...“
„Was wäre, wenn du an seiner Stelle wärst?“ Neugierig hebt sie ihren Kopf, der vorher auf seiner Brust gelegen hat.
„Ähm... Ist nicht so wichtig.“ Verlegen versucht er ihrem Blick auszuweichen. Dann wechselt er das Thema.
„Ich hab auch eine Verlobte. Die Prinzessin des Nachbarreichs. Wir wurden uns schon kurz nach unserer Geburt versprochen. Das Problem ist nur, das ich und auch noch niemand sonst, sie je gesehen hat. Und in etwas mehr als einer Woche soll ich sie heiraten.“
Bei diesen Worten zieht sich Namias Herz zusammen, aber sie weis nicht wieso. Ohne es zu merken zieht sie sich noch enger an Idrico. Doch er bemerkt es und erwidert es sofort.
Sein Mund kommt ihrem Ohr näher. Sie kann seinen Bart leicht über ihre Wange kratzen fühlen. Ein angenehmer Schauer läuft ihr den Rücken runter.
„Ich habe mich gleich im ersten Moment in dich und deine wunderschönen meerblauen Augen verliebt. Ich liebe dich. Ich will diese Unbekannte nicht heiraten. Doch mein Vater wird niemals zulassen, dass ich jemand andern heirate.“ Bei diesem letzten Satz klingt er unendlich traurig.
Es macht auch Namia traurig ihn das so sagen zu hören. Gleichzeitig hüpft ihr Herz vor Freude darüber, darüber, dass er sie liebt. Denn jetzt weis sie auch, warum ihr der Gedanke an seine Verlobte so missfallen hat. Sie liebt ihn auch und das sagt sie ihm auch gleich.
„Ich liebe dich auch.“
Bei diesem Satz löst er sich etwas aus ihrer Umarmung. Sie sieht ihm nicht in die Augen, sondern blickt stur auf seine Brust. Da fühlt sie zwei Finger unter ihrem Kinn. Mit sanftem Druck zwingt er sie ihn anzusehen. Lange Zeit blicken sie sich einfach nur in die Augen. Sie in seine braunen, er in ihre blauen. Dann beugt er sich etwas runter und kommt damit mit seinem Mund ihren Lippen immer näher. Ganz automatisch wandert ihr Blick nach unten zu diesen Lippen, die so wunderbar lächeln können. Der Wunsch ihn zu küssen wird immer größer und sie kommt ihm entgegen. Langsam schließt sie ihre Augen und dann ist es so weit. Sie spürt seine warmen, weichen Lippen auf ihren und sie schmilzt dahin. Minutenlang versinken sie in dem Kuss und tauchen erst wieder auf, als sie leise Stimmen wahrnehmen, die sich langsam nähern.
„Namia, wärst du bereit, dein altes Leben hinter dir zu lassen um für immer unter dem Meer mit mir zu leben? Wir könnten zusammen von hier weggehen und uns weit weg von hier ein gemeinsames Leben aufbauen.“
Bei diesen Worten hat er sich aus ihrer Umarmung gelöst und hält sie etwas von sich weg. Doch er sieht ihr immer noch tief in die Augen und fesselt sie mit seinem Blick.
Erst kann sie seine Worte nicht glauben, doch dann leuchten Ihre Augen vor Freude auf und sie fällt ihm regelrecht um den Hals.
„Liebend gerne. Den einzigen Menschen, den ich aus meinem Leben vermissen würde, wäre meine Tante. Aber wenn ich dafür dich kriegen würde, kann ich sie verlassen. Irgendwann hätte ich sie sowieso verlassen müssen.“
Er legt seine großen Hände um ihre Taille und zieht sie noch näher an sich. Gemeinsam wirbeln sie herum.
Auf einmal werden sie angesprochen.
„Entschuldigung.“
Gleichzeitig schauen sie in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Dort ist eine etwas ältere Meerjungfrau, die sehr sehr vornehm wirkt, aber auch sehr freundlich. Sie ist genauso schön, wenn nicht sogar noch schöner als die anderen Meerjungfrauen, die Namia gestern gesehen hat.
„Kennt ihr zufällig einen Mann von der Insel namens Nem? Ich bin auf der Suche nach ihm.“
Völlig verwirrt betrachtet Namia die Fremde genauer. Sie hat blonde lange Haare, die zu einer kunstvollen Frisur gesteckt sind und genau so meerblaue Augen wie sie selbst. Ihre Schwanzflosse ist auch rot, aber ein paar Nuancen heller als die der jüngeren. Dann antwortet sie ihr.
„Ich kannte ihn. Er ist mein Vater, aber vor 2 Jahren ist er in einem Sturm verschollen.“
Nun ist es an der älteren verwirrt, aber auch traurig zu sein. Es dauert einen Moment bis sie ihre Sprache wiederfindet.
„Wenn er dein Vater ist, dann bedeutet das, dass du Namia bist.“
„Stimmt, woher wissen Sie das?“ Die junge Meerjungfrau ist noch verwirrter als vorher.
„Weil ich dir diesen Namen gab und danach dich deinem Vater übergab. Ich bin deine Mutter, Königin Azurra von Turchina, dem Nachbarreich von Aquatic.“
Nach dieser Enthüllung ist sowohl Namia, als auch Idrico erst einmal sprachlos. Idrico findet als erstes seine Sprache wieder.
„Weist du was das bedeutet?“ Mit strahlenden Augen schaut er zu Namia.
„Das bedeutet, dass du die Prinzessin bist, die ich heiraten soll!“
Nun ist diese Information auch bei Namia angekommen und beide versinken wieder in einer innigen Umarmung. Doch dann löst sie sich von dem Prinzen und fällt Azurra in die Arme.
„Mutter.“, ist das einzige, was sie leise sagt.
Sie wird von der Königin in eine zärtliche Umarmung gezogen.
„Ich habe dich so vermisst meine Tochter. Aber es war für dich einfach sicherer hier aufzuwachsen. Bei Hofe hätte es einfach zu viele gegeben, die versucht hätten dir zu schaden um mir zu schaden. Bei deiner Geburt gab es viele Unruhen in meinem Volk. Einige hätten nicht gezögert dich zu ihrem Vorteil zu nutzen, wenn sie von dir gewusst hätten. Das konnte ich einfach nicht zulassen.“ Leise hat sie dies Namia ins Ohr geflüstert.
An den Prinzen gewannt, sagt sie nun:
„Es sieht so aus, als ob sie mit ihrer zukünftigen Königin mehr als einverstanden sind, Prinz Idrico.“
„Ich habe keinen Grund zu klagen. Sie hat im Sturm mein Herz erobert, obwohl ich noch nicht einmal wusste, wer sie ist.“
Dann schauen beide gleichzeitig zu Namia.
„Bleibst du gleich bei uns und kommst mit zurück nach Aquatic? Ich will dich meinem Vater vorstellen.“, fragt Idrico seine Geliebte.
„Vorher würde ich mich noch gerne von meiner Tante verabschieden. Sie soll wenigstens wissen, dass ich nicht zurückkommen werde.“
„Das ist schon in Ordnung. Wir warten dann hier auf dich meine Tochter“, mischt sich nun auch ihre Mutter ein.
Noch einmal fällt Namia den beiden um den Hals.
„Bis gleich! Ich werde mich beeilen!“
Damit dreht sie sich um und schwimmt wieder zum Strand. Noch einmal spürt sie das vertraute Kribbeln bei der Rückverwandlung. Es wird für eine lange Zeit das letzte Mal sein, dass sie es spürt, da ist sie sich sicher.
Mit schnellen Schritten eilt sie auf das Dorf zu. Sofort steuert sie die Hütte an, die so lange ihr Zuhause war. Davor sitzt ihre Tante und näht an einem Kleid. Kurz bevor Namia bei ihr ankommt, hebt sie ihren Kopf und schaut ihr entgegen.
„Was ist los mein Kind, dass du es so eilig hast?“
Ohne ein Wort fällt diese Mirilla um den Hals. Dann sagt sie:
„Ich werde zu meiner Mutter gehen. Aber dann kann ich nicht hier bleiben. Sie ist gekommen um mich abzuholen. Irgendwann kann ich dich bestimmt mal wieder besuchen, aber ich weis noch nicht wann das sein wird.“
„Du verlässt mich also?“
„Ja.“
„Dann pass gut auf dich auf meine Kleine. Ich habe es schon fast geahnt die letzten Tage. Dich hat es weggezogen. Ich wünsch dir, das du glücklich wirst.“ Fest umarmt sie Namia noch einmal. Beiden Frauen laufen stumme Tränen des Abschieds über die Gesichter. Dann lösen sie sich von einander und Namia will wieder in Richtung Meer laufen.
Vorher wird sie jedoch von Larko aufgehalten. Er hat gesehen, wie sie durchs Dorf geeilt ist und will sie nun wegen ihrem Verhalten zuvor zur Rede stellen.
„Namia, was sollte das vorhin und wohin willst du schon wieder?“ Mit ärgerlicher Stimme reist er sie grob an ihrem Arm zu sich herum. Doch sie schüttelt seine Hand einfach wieder ab.
„Ich gehe, Larko, und du wirst mich nicht aufhalten.“ Seinen Namen spuckt sie fast aus, als wenn es eine saure Frucht wäre, die sie aus versehen in den Mund genommen hat. Damit dreht sie sich um und rennt wieder ins Meer. Sie hinterlässt einen verdutzten und sehr verärgerten Häuptlingssohn, der sich nun doch eine andere Braut suchen muss.
Im Meer wird sie von ihrem Geliebten und ihrer Mutter erwartet. Die beiden nehmen sie in ihre Mitte und zu dritt schwimmen sie von der Insel weg in Richtung Aquatic.
„Wie funktioniert das jetzt eigentlich mit dem Entscheiden für eine Welt?“, will Namia irgendwann wissen.
„Das ist ganz einfach.“, antwortet ihre Mutter. „Du musst einfach für etwas mehr als eine Woche entweder an Land bleiben ohne ins Meer zu gehen, oder halt im Meer bleiben ohne an Land zu gehen. Danach hat sich dein Körper an seine Umgebung angepasst.“

2 Wochen später ….

Namia schwimmt nervös in ihrem Gemach hin und her. Die Dienerin ist schon ganz verzweifelt, weil sie so nicht ihr Haar frisieren kann. Auch Azurra fällt es schwer ihre Tochter zu beruhigen.
„Du siehst ihn doch schon gleich wieder und nach der Zeremonie seit ihr für immer Mann und Frau und müsst euch nie wieder trennen. Und jetzt setz dich, damit die arme Dienerin ihre Arbeit machen kann.“ Man kann ihr anhören, dass die Nervosität ihrer Tochter sie amüsiert.
Aber sie hat es geschafft, dass sie sich setzt und ihre Haare endlich beendet werden können. Ein Teil ihrer Wellen fließt noch immer offen über ihren Rücken. Der Rest ist mit vielen Perlen kunstvoll hochgesteckt und ein Diadem aus Meereskristal schmückt ihren Kopf.
Gemeinsam mit ihrer Mutter verlässt sie kurz darauf das Gemach und macht sich auf den Weg zur Zeremonienhalle. Dort soll die Hochzeit stattfinden.
An der Hand ihrer Mutter schwimmt sie in die bis zum letzten Platz gefüllte Halle. In dem Moment setzt die Musik ein und langsam schwimmen die beiden durch den Gang nach vorne, wo bereits Idrico nervös auf seine Braut wartet.
Endlich sind sie angekommen und Azurra übergibt die Hand ihrer Tochter an ihren Geliebten. Dann beginnt die Zeremonie. Als sie sich ihr Ja-Wort geben und endlich küssen dürfen, jubelt ihnen jeder im Saal zu und sie beide strahlen nur noch um die Wette. Sie sind sich sicher, nun die glücklichsten Wesen der Welt zu sein.

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Texte: Alle Rechte bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2011

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