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1. Nie wieder Violine...

"Ich werde nicht mehr Violine spielen."
Mit diesem Satz hat sie ihre größte Leidenschaft beendet.
Das war vor 5 Jahren gewesen. Doch ihren Eltern und ihrem Musiklehrer hat es nicht viel ausgemacht. Sie haben ja noch ihre große Schwester Maria, das Wunderkind. Ständig hat sie sich anhören müssen, wie toll doch Maria ist und warum sie nicht etwas mehr wie sie sein konnte. Der Lieblingssatz ihrer Eltern und ihrer Lehrer ist:
"Miriam nimm dir doch ein Beispiel an Maria."
Das geht ihr so auf die Nerven. Warum konnten sie nicht akzeptieren, dass sie eben nicht wie ihre Schwester ist. Keiner nimmt sie wirklich wahr. Noch nicht einmal ihre sogenannten Freunde in der Schule. Die sind nur mit ihr befreundet, weil Maria das beliebteste Mädchen der Schule ist und sie noch dazu zu einer berühmten Violinenspielerin geworden ist. Häufig ist sie mit den Eltern unterwegs um auf einer der großen Bühnen der Welt zu spielen. Von überall hört man ihr Lob in den höchsten Tönen. Manchmal wünscht sich Miriam, sie wären keine Schwestern.
Es ist nicht so, dass sie Maria nicht mag, aber manchmal wünscht sie sich einfach mal für ihre eigene Person wahr genommen zu werden und nicht als die kleine Schwester der berühmten Violinistin.
Und das Maria sie abgöttisch zu lieben scheint und anscheinend ständig das Gefühl hat, sie vor allem und jedem zu beschützen macht es auch nicht grade besser.
Doch es gibt etwas, das Miriam alles vergessen lässt und wonach sie sich immer einfach blendend fühlt. Und das ist eine ganz besondere Violine. Niemand weis, das sie die hat. Und wenn sie darauf spielt wird all ihre Traurigkeit und ihr Frust einfach in Luft aufgelöst. Vor einem Monat hat sie die auf eine echt ungewöhnliche Weise erhalten.

Einen Monat zuvor:
Miriam läuft durch die Stadt. Es ist noch nicht mal Mittag, aber niemand schenkt ihr Beachtung. Würden sie es tun, dann wäre ihnen klar, dass sie gerade die Schule schwänzt. Aber dort hat sie es einfach nicht mehr ausgehalten.
Es ist ziemlich warm heute und das obwohl es noch immer Vormittag ist. Das ist eigentlich auch kein Wunder. Schließlich ist es es schon Mai. Lange dauert es nicht mehr bis zum Juni. Da sollte einen das Wetter nicht wirklich überraschen.
Gerade schlendert Miriam durch einen Park und genießt die warme Sonne. Sie ist nicht ganz aufmerksam, da sie meint, hier alleine zu sein. Da übersieht sie doch glatt den Penner, der mit einem alten Einkaufswagen ihr entgegen kommt. Dieser sieht auch nicht wirklich viel, da seine Haare ihm strähnig ins Gesicht hängen. Normalerweise würde Miri, wie sie von einigen ihrer Freunde genannt wird, einen großen Bogen um ihn machen. Aber da sie nicht auf ihre Umgebung achtet, passiert das unausweichliche. Sie kracht mit ihm zusammen. Ziemlich unsanft landet sie auf ihrem Po und das Gerümpel aus dem Einkaufswagen verteilt sich um sie herum.
"Ohje. Entschuldigung! Ich hab dich gar net gesehn."
Der alte Penner ist ziemlich entsetzt, das er sie einfach so umgefahren hat und hält ihr seine Hand hin. Sie ergreift sie und lässt sich aufhelfen.
"Nicht so schlimm. Mir ist ja nix passiert. Ich helfe ihnen eben ihre Sachen wieder einzusammeln. Zu zweit geht das schneller als allein."
"Oh! So ein freundliches Mädchen trifft man nicht oft. Normalerweise ignorieren immer alle, wenn mir was wegfällt."
Miri ist von sich selbst auch ziemlich überrascht. Eigentlich wäre sie auch einfach weitergegangen. Aber da sie es schon angeboten kann und er sich anscheinend so darüber freut.
Gemeinsam packen sie alles wieder in den Einkaufswagen. Zum Schluss hebt der Alte noch einen ziemlich ramponiert aussehenden Violinenkasten auf. Plötzlich hat er einen sehr überraschten Gesichtsausdruck.
"Hier! Sie gehört zu dir. Ich sollte immer nur ihren Besitzer suchen."
Damit hält er ihr den Kasten hin. Etwas überrascht und perplex nimmt sie ihn entgegen und betrachtet ihn genauer. Es ist kein typischer Violinenkasten. Auf den ersten Blick schon, aber dann fällt einem auf, das er etwas größer ist als normal und eine etwas seltsame Form aufweist.
Während Miri noch in die Betrachtung des Kastens versunken ist, verschwindet der Penner ganz leise und ohne das sie es merkt.
Als sie ihn fragen will, was er mit seinem komischen Satz gemeint hat, ist er plötzlich verschwunden. Ihr bleibt also nichts andres übrig, als sein Geschenk mit nach Hause zu nehmen.
Sie macht sich auch sofort auf den Weg. Sie ist mal wieder alleine daheim, da ihre Eltern mit ihrer Schwester auf einem Konzert sind.
So kann sie sich ungestört ihr seltsames Geschenk anschauen.
Als erstes kümmert sie sich um das Äußere des Kastens. Mit einem feuchten Tuch reinigt sie ihn. Das Ergebnis ist verblüffend. Er sieht fast aus wie neu.
Dann öffnet sie vorsichtig den Deckel, gespannt was wohl darin liegt.
Der Inhalt überrascht sie total. So eine Violine hat sie noch nie gesehen. Der Körper ist etwas größer und wird unterhalb von zwei Hälsen von einer Öffnung unterbrochen. Auch der Bogen, der neben der Violine im Samt liegt, ist sehr ungewöhnlich. Er ist dreigeteilt. Das Instrument selbst, sieht im Gegensatz zum Kasten kein bisschen ramponiert aus. Eher sieht sie aus wie neu.
Fast schon ehrfürchtig nimmt Miri das Instrument heraus. Liebevoll legt sie es in ihre Halsbeuge und nimmt den Bogen zur Hand. Und dann beginnt sie zu spielen. Es ist, als ob sie nie ein anderes Instrument gespielt hätte. Sie weis sofort, wie sie ihre Hände und Finger halten muss. Und die Violine belohnt dies, indem sie ein ganzes Orchester ins Zimmer zaubert, so scheint es. Dabei ist die einzige, die spielt, Miri selbst.
Und sie bekommt nicht genug davon. Ein Stück nach dem anderen spielt sie und bevor sie sich versieht ist es Abend und ein grummelnder Magen macht sie darauf aufmerksam, dass sie außer Frühstück noch nichts gegessen hat heute.
Also packt sie die Violine wieder weg und macht sich endlich etwas zu essen. Danach sucht sie ein Versteck in ihrem Zimmer für ihren neuen Schatz. Denn sie hat das Gefühl, das niemand sonst aus ihrer Familie sie sehen sollte.

Zurück in der Gegenwart:
Miri lauscht ins stille Haus. Es ist alles ruhig, ein sicheres Zeichen, dass alle schlafen.
Leise holt sie ihre Violine aus ihrem Versteck und öffnet das Fenster. Ihr Zimmer liegt im Erdgeschoss als einziges von den Schlafzimmern. Dadurch kann sie jederzeit ungesehen das Haus verlassen, selbst wenn ihre Eltern noch im Wohnzimmer sitzen.
Ungesehen huscht sie durch den Garten und verschwindet durch das gut geölte Hintertürchen in den Wald. Dann folgt sie einem gut versteckten Pfad tiefer in den Wald, bis sie an eine kleine Lichtung mit einem kleinen See kommt. Hierher führt kein anderer Weg, außer dieser Tierpfad, den sie durch Zufall einmal entdeckt hatte. Deshalb kann sie sich sicher sein, das niemand sie hier entdecken wird.
Auf einem großen Stein stellt sie den Geigenkasten ab und holt ihre Geige hervor. So liebevoll wie immer nimmt sie diese in die Hand und fängt aus dem Gedächtnis an ihr Lieblingslied "Golums Song" vom Herr der Ringe Soundtrack zu spielen. Dabei versinkt sie vollkommen in der Musik und bekommt nichts mehr um sich herum mit.
Auch nicht, den menschlichen Schatten, der sich durch die Bäume auf den See zubewegt.


2. Wunder im Wald

Michael hat es so langsam satt immer umziehen zu müssen. Alle paar Jahre muss er sich wieder von seinen gerade gewonnen Freunden trennen und nach einiger Zeit den Kontakt einschlafen lassen.
Diesmal ist er also in dieser fast schon Kleinstadt gelandet. Naja, es kann ja nicht schaden sich schon mal genauer umzusehen. Schließlich wird er eine Zeit lang hier leben.
Damit verlässt er sein neues Haus und macht sich auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Viel gibt es ja nicht zu sehen. Eine typische Innenstadt eben. Zwei Eisdielen, drei Cafés, in den Seitengassen der eine oder andere Club, ein paar Klamottenläden, zwei Schuhläden, drei Juweliere, und so weiter. Die Bereiche um die Innenstadt sind normale Wohngegenden. In einem Teil stehen die Mietshäuser, dann kommen die kleinen Einfamilienhäuser. Die werden immer größer, woran man sehen kann, dass die Leute, denen die gehören, auch mehr Geld haben. Außerdem gibt es nur ein Gymnasium, zwei Grundschulen, zwei Hauptschulen und eine Realschule. Und mitten drin liegt ein kleiner Park. Der ist das Beste an dieser Stadt. Wenn man mittendrin ist, merkt man gar nicht, dass es ein Park ist. Alles wächst total wild und sieht in keinster Weise vom Menschen beeinflusst aus. Ab und zu kommen mal kleine Teiche oder Springbrunnen und halb zugewachsenen Figuren. Hier fühlt sich Michael wohl. Als er den Park komplett durchquert hat, entdeckt er am Ende noch einen Wald, der anscheinend zum Park gehört. Aber es führen keine Wege hinein. Trotzdem wird er gerade magisch dorthin gezogen. Inzwischen ist es schon späte Nacht und niemand ist mehr draußen unterwegs. Mit einen schnellen Blick, ob er auch wirklich alleine ist, macht er sich auf den Weg quer über die Wiese zum Wald.
Hier ist es noch dunkler, als sowieso schon. Doch das stört ihn nicht sonderlich. Er kann noch genug sehen. Deshalb kann er sich auch ohne ein Geräusch durch das dichte Unterholz bewegen. Auch wenn er noch nicht hier gewesen ist, zieht ihn ein Gefühl wie magisch immer weiter in den Wald. Und er gibt diesem Gefühl nach. Immer wenn er so etwas hat, dann passiert etwas wichtiges, bei dem er auf jeden Fall dabei sein sollte.
Plötzlich fängt er an leise Musik zu hören. Es ist fast, als ob ein ganzes klassisches Orchester mitten im Wald spielt. Vorsichtig tastet er sich näher an den Ursprung der Musik heran. Da vorne schimmert etwas durch die Bäume. Es ist so, als ob eine kleine Lichtquelle vom Wasser gespiegelt wird und nun Muster auf die Blätter der Bäume malt. Ein wirklich wunderschöner Anblick. Doch woher kommt das Licht? Es ist nicht der Mond, dafür ist das Licht nicht blass genug. Aber es ist auch kein Feuer, das wäre heller. Elektronisches Licht von einer Taschenlampe kann es auch nicht sein. Er kann es einfach nicht einordnen. Wenn er es bezeichnen müsste, dann würde er es überirdisch nennen.
Noch mehr auf Geräuschlosigkeit bedacht als vorher kommt er endlich an. Und was er sieht, verschlägt ihn die Sprache.
So etwas schönes hat er noch nie gesehen. Ein kleiner See mitten im Wald und noch gänzlich unberührt. Doch das besondere ist die Lichtquelle. Es ist eine Person, die direkt am Ufer des Sees steht und halb abgewandt von ihm, so dass er nur sehen kann, dass sie ihre Augen geschlossen hat. Von ihr geht dieses Leuchten aus. Im linken Arm hat sie eine Violine angesetzt, die sie verträumt spielt. Nein halt! Das ist keine typische Violine. Das ist eine Orchestra! Davon soll es nur zwei gegeben haben, aber niemand konnte darauf spielen. Und es heißt, dass sie zerstört wurden. Und dieses Mädchen spielt darauf, als wenn es das selbstverständlichste auf der ganzen Welt wäre. Doch das ist es nicht alleine, was ihn fesselt. Sie ist wunderschön in diesem schlichten weißen Kleid. Es ist trägerlos und liegt hauteng an ihrem Oberkörper, aber ab der Hüfte fällt es locker um ihre Beine bis auf den Boden. Ihre braunen Haare fallen ihr in sanften Wellen bis zum Po. Doch wovon er seinen Blick nicht lösen kann, sind die leuchtenden Engelsflügel, die aus ihrem Rücken wachsen.
"Das gibt es nicht! ...Ein Lichtengel mit einer Orchestra! Das wird mir niemand glauben. Beides gehört selbst bei uns zu den Legenden und Sagen.", flüstert er leise vor sich hin.
Es kommt ihm vor wie Stunden, dass er, versteckt von Bäumen und Büschen, dieses wunderschöne Wesen beobachtet und ihrer Musik lauscht. Ständig hat er Angst, dass sie im nächsten Moment verschwindet, wenn er den Blick auch nur kurz abwendet.
Dann plötzlich hört sie auf zu spielen. Das Leuchten verschwindet, ihre Haare werden kürzer und fallen nur noch bis knapp über ihre Schultern. Anstelle des Kleides trägt sie nun normale Jeans und ein weißes T-Shirt. Auch ihre Flügel haben sich in einem Lichtregen aufgelöst. Bevor Michael wirklich realisiert, was gerade passiert ist, hat die Fremde die Orchestra weggepackt und ist zwischen den Bäumen verschwunden. Er kann nur auf die Stelle starren, an der sie bis kurz vorher noch gestanden ist.
Ein paar Minuten später kann er sich aus seiner Starre lösen und will ihr folgen. Er muss wissen, wer sie ist. Doch auf der anderen Seite der Lichtung angekommen, kann er den genauen Ort, an dem sie in den Wald gegangen ist, nicht mehr finden. So sehr er sich auch anstrengt, er sieht keinen Weg, den sie genommen haben könnte und einfach auf gut Glück losgehen ist nicht sehr klug. Aber wenn er Glück hat, dann wird er sie in der Schule wiedersehen. Mit dem Gedanken dreht er sich um und macht sich auf den Heimweg.


3. Der Neue

Völlig gerädert wacht Miri am nächsten Morgen auf. Sie hätte sich besser nicht die Nacht vor einem Schultag raus geschlichen, um Violine zu spielen. Langsam tapst sie ins Bad um zu Duschen. Die wird sie bestimmt etwas wacher machen. Von unten kann sie ihre Familie beim Frühstück hören. Anscheinend unterhalten sie sich mal wieder über eins von Marias Konzerten. Da kann sie ja wieder damit rechnen, dass sie bald alleine gelassen wird. Dann ist es wieder einfacher ihre Violine zu spielen.
Seufzend steht sie unter dem warmen Wasser. Es entspannt ihren Körper und sie kann wieder klarer denken. Aufgewärmt wickelt sie sich dann in ein großes Handtuch und trocknet ihre Haare. Danach noch etwas schminken und dann zurück ins Zimmer. Vor ihrem Kleiderschrank muss sie erst einmal überlegen, was sie denn heute anziehen wird. Mit einem verschmitzten Lächeln holt sie ihren schwarz-rot karierten Minirock hervor und dazu ein schwarzes T-Shirt, das auf dem Rücken und an den Ärmeln mehr Schnüre als Stoff hat. Dadurch kann man von hinten einen Teil ihres schwarzen Spitzen-BHs sehen. Es sind ihre Lieblingsklamotten. Dazu zieht sie schwarze Netzhandschuhe an, die ihr fast bis zum Ellbogen gehen und an den Händen offen mit nur einer Aussparung für den Daumen. Komplettiert wird das ganze mit schwarzen Kniestrümpfen, die knapp über ihrem Knie enden. Schnell schlüpft sie noch in ihre schwarzen Chucks und schnappt ihre Schultasche. Fertig ist sie für die Schule.
Auf dem Weg nach draußen huscht sie nur noch einmal kurz in die Küche, wo der Rest der Familie immer noch zusammen sitzt. Im Vorbeigehen schnappt sie sich einen Apfel und meint nur:
"Ich bin dann in der Schule. Bis dann."
Sie hört ihre Mutter empört aufschnappen und wartet nur auf ihren üblichen Satz. Und da kommt er auch schon.
"Du willst doch wohl nicht so in die Schule? Du bist doch keine Nutte. Zieh dir gefälligst etwas ordentliches an. So wie Maria. Die zeigt auch nicht jedem ihre Unterwäsche.", empört sie sich wie fast jeden Morgen. Ihr Vater sitzt daneben und nickt nur zustimmend. Ihre Schwester setzt mal wieder dazu an, ihrer Mutter zu widersprechen. Doch vorher fällt Miri ihr ins Wort.
"Es ist verdammt nochmal meine Sache, wie ich mich anziehe. Das geht dich einen feuchten Dreck an. Ich trage, was mir gefällt und falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Ich bin NICHT meine Schwester."
Damit rauscht sie aus der Küche und hinterlässt mal wieder wütende Eltern. Aber denen kann man anscheinend sowieso nichts recht machen, wenn man nicht Maria heißt und super Violine spielen kann. Im Flur schnappt sie sich ihr Skateboard und schon ist sie in rasanter Geschwindigkeit in Richtung Schule unterwegs. Kurz hält sie noch beim Bäcker und holt sich ein Schokohörnchen, wie fast jeden Morgen, wenn ihre Eltern da sind. Sie ist schon Stammkundin hier. Nur wenn sie alleine daheim ist, dann sitzt sie auch in der Küche und frühstückt.
Sie ist die erste in der Schule. Der Unterricht fängt erst in etwa einer Stunde an. Durch die verlassenen Gänge läuft sie zu ihrem Schließfach und verstaut die Bücher aus ihrer Tasche. Dafür nimmt sie ihr Musikbuch mit. Die ersten zwei Stunden hat sie Musik. Eigentlich liebt sie dieses Fach, aber da sie nie mitmacht, glaubt ihre Lehrerin, dass sie vollkommen unmusikalisch ist und das genaue Gegenteil ihrer Schwester. Sie hat Miri schon aufgegeben. Wie so viele andere auch. Trotz ihrer angeblichen Freunde, die um sie herumschwirren, wenn ihre Schwester da ist, ist sie eine Einzelgängerin.
Statt von ihrem Schließfach zum Klassenzimmer zu gehen, nimmt sie die Treppen zur Dachterrasse. Eigentlich ist es Schülern verboten dort hin zu gehen, aber das ist Miri egal. Dort ist sie allein und niemand stört sie. Hier singt sie die Lieder aus Musik für sich alleine. Als Zuhörer hat sie nur die Vögel und nicht selten stimmen diese in ihr Lied mit ein.
Wenn es auf dem Schulhof unter ihr langsam lauter wird, dann macht sie sich auf den Weg zurück. Unbeachtet von den anderen schlüpft sie ins Musikzimmer. Ihr Platz ist hinter in den letzten Reihe am Fenster. Neben ihr ist einer der wenigen freien Plätze. Auch wenn ihre Klassenkameraden ihr Freundschaft vorspielen, so will sich doch keiner von ihnen neben sie setzen. Aber das stört Miri nicht. So hat sie wenigstens ab und zu Ruhe von dieser falschen Freundlichkeit.
Allmählich füllt sich das Klassenzimmer mit plappernden und lärmenden Schülern. Kurz vorm Klingeln huscht dann auch der letzte durch die Tür. Jeder sitzt auf seinem Platz und wartet, das die junge Musiklehrerin kommt. Dabei werden die Gespräche einfach fortgesetzt, aber etwas leiser als vorher. Dadurch entsteht ein stetiges Gemurmel, das mal an - und mal abschwillt. Aus ein paar Wortfetzen kann Miri erkennen, dass immer noch über den neuen Schüler gemunkelt wird. Seit einer Woche etwa geht das Gerücht herum, dass sie jemand neues in die Klasse bekommen werden. Dabei sind schon die tollsten Spekulationen entstanden. Miri interessiert es nicht, solange sie ihre Ruhe hat.
Mit 5 min Verspätung betritt Frau Bloom den Raum. Sofort herrscht Stille und jeder sieht zu ihr. Auch wenn sie auf den ersten Blick sehr sympathisch wirkt, so ist sie doch sehr streng und keiner wagt es bei ihr aufzumucken. Nur Miri ist das egal, weshalb sie auch jetzt weiter aus dem Fenster schaut.
"Guten Morgen. Ihr werdet heute einen neuen Mitschüler bekommen." Bei diesem Satz setzt das Getuschel wieder ein und alle schauen zur Tür. Auch wenn Miri nicht wirklich interessiert ist, etwas neugierig ist sie doch. Deshalb wendet auch sie sich vom Fenster ab und sieht nach vorne.
"Ruhe bitte." Alle verstummen wieder. Der strenge Ton von Frau Bloom hat alle daran erinnert, das sie besser nicht auffallen.
"Du kannst rein kommen Michael."

Michael folgt der jungen Musiklehrerin zu seinem Klassenzimmer. Sie hat nun Unterricht in seiner neuen Klasse und hat deshalb die Ehre ihn vorzustellen. Er mag neue Schulen und erste Schultage nicht. Aber immer wieder muss er durch diese Prozedur durch. Er kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft.
"Warte hier einen Moment. Ich werde dich drinnen ankündigen." Damit verschwindet die freundliche junge Frau durch die Tür und lässt ihn alleine auf dem Flur stehen. Einen Moment später setzt von drinnen ein Gemurmel ein, was aber sofort durch die strenge Stimme der Lehrerin unterbrochen wird.
Aha, mit ihr ist anscheinend doch nicht so gut Spaßen, wie sie aussieht, denkt er sich im Stillen.
Da ruft sie ihn nach drinnen.
"Klasse, das ist Michael Nike. Er geht ab heute hier in die Schule, seit also nett zu ihm. Fragen könnt ihr ihm in der Pause stellen." Dann wendet sie sich wieder an ihn.
"Michael, such dir doch bitte einen Platz."
Er lässt seinen Blick über den Raum streifen. Viele Plätze sind nicht mehr frei. Da bleibt sein Blick an einem Gesicht hängen. Das Mädchen da in der letzten Reihe, das sich gerade wieder zum Fenster umwendet, das kennt er doch. Er ist sich ganz sicher, dass sie das Mädchen von gestern aus dem Wald ist. Neben ihr ist auch noch ein Platz frei. Aus einem Impuls heraus geht er auf sie zu. Das Mädchen vor ihr hält die Luft an und schaut ihm erwartungsvoll entgegen. Neben dieser ist auch noch ein Platz frei. Doch er ignoriert sie und setzt sich neben seinen Lichtengel. Er kann förmlich die verwunderten Blicke der ganzen Klasse inklusive Lehrerin auf sich spüren. Ein bisschen wundert er sich über diese Reaktion. Was ist denn daran so ungewöhnlich, dass er sich neben sie gesetzt hat? Doch erhält seine Antwort sofort von der Lehrerin.
„Möchtest du dich nicht lieber etwas weiter nach vorne setzten? Miriam ist nicht die beste Schülerin hier um es freundlich auszudrücken. Sie hat zum Beispiel ihre total musikalisch begabte Schwester, aber sie selbst bringt keinen vernünftigen Ton heraus. Wenn du Fragen hast, dann kann sie dir mit Sicherheit nicht helfen.“
Michael wirft einen Blick auf das Mädchen neben sich. Auch wenn sie versucht sich nichts anmerken zu lassen, so kann er doch an ihren Augen sehen, dass es sie verletzt, was die Lehrerin sagt. Ohne groß zu überlegen nimmt er sie in Schutz.
„Schämen Sie sich eigentlich nicht, sich als Lehrerin zu bezeichnen? Sehen Sie Miriam etwa nur als Abklatsch ihrer großen Schwester, die genau so sein muss wie diese? Und weil sie enttäuscht sind, nicht noch so ein begabtes Mädchen im Unterricht zu haben, sind sie unfreundlich zu ihr? Dann kann ich verstehen, warum sie sich erst recht nicht anstrengt. Wenn ich dauernd mit jemand andrem verglichen werden würde, an die ich nicht herankomme, und nicht als eigenständige Person wahrgenommen werde, dann würde ich auch allein schon aus Trotz versuchen das genaue Gegenteil zu sein.“
Wieder liegen alle Blicke auf ihm. Diesmal aus Verblüffung, Erstaunen und Wut. Die meisten in der Klasse sind einfach nur verblüfft, dass er so mit Frau Bloom redet. Die Lehrerin selber ist wütend, weil so noch nie ein Schüler ihr Konter gegeben hat. Miriam neben ihm sieht ihn mit purem Erstaunen im Gesicht an. Anscheinend hat er mit seiner Vermutung, dass sie aus Trotz so schlecht in der Schule ist und es ihr auf die Nerven geht mit ihrer Schwester verglichen zu werden, genau den richtigen Nerv getroffen. Aufmunternd lächelt er sie an. Daraufhin wendet sie ihr Gesicht wieder dem Fenster zu und beachtet ihn nicht mehr, doch bevor er ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte, hat er noch die leichte Röte auf ihren Wangen erkannt.
Inzwischen hat sich die Lehrerin wieder beruhigt und beginnt nun mit ihrem normalen Unterricht.
Nach den zwei Musikstunden, in denen Miriam wirklich keinen Ton von sich gegeben hat, packt sie schnell zusammen und verschwindet in die Pause. So schnell kann Michael gar nicht reagieren, wie sie aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Eigentlich wollte er sich ja ein bisschen mit ihr unterhalten, aber im Unterricht hat sie ihn vollkommen ignoriert. Und jetzt, wo er ihr folgen will, da wird er von den anderen aus der Klasse aufgehalten, die nun ihrerseits auf ihn zukommen und ihn mit Fragen und guten Ratschlägen bombardieren. Einer lautet zum Beispiel sich von Miriam fern zu halten., sie sei etwas seltsam und nur dafür gut, dass man etwas näher an Maria, ihre Schwester heran kommt. Wenn Maria auf Konzerten ist, wäre es reine Zeitverschwendung sich überhaupt mit Miriam abzugeben. Das macht Michael schon wieder wütend. Wie konnte man einem Menschen gegenüber nur so abweisend sein. Wenn Miriam das täglich erleben musste, dann konnte er sich gut in sie hineinversetzen. Er wäre auch zum Einzelgänger geworden und würde allen Menschen, die ihr Gutes tun wollen, misstrauisch begegnen. Immer noch grübelnd und nur mit halben Ohr den plappernden Schülern um sich zuhörend, folgt er den anderen in die Pausenhalle. Sein Blick schweift über die Menge und sucht nach Miriam, doch er kann sie nicht entdecken.

Eilig läuft Miri durch die Gänge wieder nach oben aufs Schuldach. So schnell es geht, hat sie das Klassenzimmer mit den Pausenklingeln verlassen um aus der Nähe des Neuen zu kommen. Er kommt ihr komisch vor. Klar, er sieht klasse aus. Seine schwarzen Haare sind etwas länger und fallen ihm vorwitzig in die Stirn. Darunter strahlen blaue Augen hervor. Sie erinnern Miri an den Himmel so hell scheinen sie zu leuchten. Sein Gesicht ist nicht mehr das eines Jungen, sondern eines jungen Mannes. Er ist recht groß und hat einen durchtrainierten Körper, was man durch sein eng anliegendes weißes Shirt gut sehen konnte. Seine lässige blaue Jeans hing ihm tief auf den Hüften. In dem Moment, in dem dieser Michael durch die Tür gekommen ist, da wusste Miri, dass er der neue Mädchenschwarm der Schule werden würde. Aber das ist ihr egal. Er wird sowieso, wie alle anderen Jungs auch, nur auf ihre Schwester achten. Doch dann ist er plötzlich auf sie zugelaufen, als er sich einen Platz suchen sollte. Erst hat sie angenommen, er würde sich auf den Platz vor ihr setzen, doch nein, er musste sich ja neben sie setzen. Und als dann Frau Bloom meinte, er solle sich lieber einen anderen Platz suchen, weil sie ja so schlecht wäre, da hat er sie doch tatsächlich in Schutz genommen. Er hat versucht mit ihr zu reden, als die Lehrerin dann endlich mit den Unterricht angefangen hat. Aber sie hat ihn einfach ignoriert. Sie kann sich sein Verhalten einfach nicht erklären. Aber als sie so darüber nachgedacht hat, dann kam sie nur auf zwei Möglichkeiten. Entweder er will über die kleine Schwester an die große dran kommen, wie die ganzen anderen, oder er wurde von Maria damit beauftragt für sie auf Miri aufzupassen. Beides will sie nicht, also wird sie Michael aus dem Weg gehen. Am besten geht das, wenn sie aufs Dach geht. Da kann sie entspannen und niemand findet sie.
Kaum hat sie die Tür zur Dachterrasse hinter sich geschlossen, da umfängt sie fast Ruhe. Von unten kommen gedämpft die Stimmen der Schüler nach oben. Doch etwas lauter sind die Gesänge der Vögel. Sie setzt sich in die Sonne und hebt ihr Gesicht zum Himmel. Die Strahlen sind angenehm warm, obwohl es noch nicht einmal 10 Uhr ist. Sie erinnert sich wieder an eines der Lieder aus dem Unterricht gerade. Es ist Country Roads. Eben konnte sie es nicht mitsingen, aber jetzt. Also beginnt sie leise.

Country Roads, take me home to the place
I belong. West Virginia, mountain momma,
take me home, country roads.

Almost heaven, West Virginia.
Blue Ridge Mountain, Shenandoah River.
Live is old there, older than the trees,
younger than the mountains, blowing like a breeze

Country Roads, take me home to the place
I belong. West Virginia, mountain momma,
take me home, country roads.

All my memorys, gather round her,
Minor's Lady, stranger to blue water.
Dark and dusty, painting on the sky,
misty taste of moonshine, teardrops in my eye.

Country Roads, take me home to the place
I belong. West Virginia, mountain momma,
take me home, country roads.

I hear the voice in the morning hour.
She calls me.
The radio reminds me of my home far away.
And driving down the road I get a feeling
that I should have been home yesterday, yesterday.

Country Roads, take me home to the place
I belong. West Virginia, mountain momma,
take me home, country roads.

Country Roads, take me home to the place
I belong. West Virginia, mountain momma,
take me home, country roads.

Take me home, country roads.
Take me home, country roads.

Dieses Lied passt einfach perfekt zu ihrer derzeitigen Stimmung. Sie fühlt sich, als ob sie auf einer Reise ist und einen Weg nach Hause sucht. Nur leider weis sie nicht, wo dieses Zuhause sein soll. Nur das es nicht das Haus ihrer Familie ist, dass weis sie sicher.
Aus ihrer Tasche holt sie den Rest ihres Schokohörnchens. Während sie isst, schweifen ihre Gedanken wieder zu dem Neuen. Er isst jetzt bestimmt zusammen mit dem Rest ihrer Klasse irgendwo in der Pausenhalle. Die werden ihn dabei über sie aufklären und ab der nächsten Stunde wird sie wieder ihre Ruhe haben, weil er sich genauso wie der Rest verhalten wird. Darauf freut sie sich schon.

Impressum

Texte: Text und Charaktere sind von mir! Das Cover ist von Google.
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke dir Miri, das ich deinen Namen für meine Hauptperson benutzen darf.

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