Wie alles begann ...
Es ist dunkel in Venedig und alle schlafen. Nur ein paar streunende Katzen sind zu sehen. Auch eine einsame junge Frau irrt durch die verwinkelten Gassen. Auf dem Heimweg von ihrer Schwägerin hat sie sich verlaufen. Sie ist erschöpft und kann kaum noch laufen. Doch trotzdem irrt sie immer weiter. Immer wieder streicht sie über ihren Babybauch und lächelt dabei. Bald wird es soweit sein, dass sie ihre Tochter in die Arme schließen kann. Doch plötzlich fangen die Wehen an. Sie sinkt in die Knie, stöhnt vor Schmerz und ruft um Hilfe. Immer wieder, doch keiner hört sie. Die Frau stemmt sich noch einmal hoch und taumelt einige Meter weiter. Dann geht sie endgültig zu Boden und kommt nicht mehr hoch. Sie hat ihre Kraft aufgebraucht. Noch einmal hebt sie schwach den Kopf, als sie ein Geräusch hört. Eine kleine Gestallt ist an der Ecke der Straße aufgetaucht. Diese schaut sich schnell um und huscht dann zu ihr. Als sie neben ihr kniet, erkennt die Frau, dass es ein Straßenmädchen von etwa 12 Jahren ist. Dieses hilft ihr nach einem kurzen Überblick der Situation wortlos das Baby auf die Welt zu bringen. Dann wickelt sie das schreiende Mädchen in eine Jacke, schließt die Augen der toten Mutter und zeichnet mit Kreide einen Kreis mit nach unten hängendem Kreuz an die Wand über der Frau.
Durch das Geschrei des Kindes wurde eine alte Frau im Nachbarhaus aufgeweckt, doch als diese aus dem Fenster schaut, sieht sie nur noch einen gebückten Schatten davonhuschen. Das Geschrei des Kindes ist verstummt.
Am nächsten Tag schaut die gleiche Frau wieder aus dem Fenster und zu ihrem Schrecken muss sie eine Frauenleiche in der Gasse sehen. Um sie herum ist eine Blutlache und an der Mauer darüber ist etwas mit Kreide gemalt worden. Die Greisin informiert sofort die Polizei. Einer der eintreffenden Polizisten kennt die Frau. Ihr Name ist Maria Belle. Aber er meint sie wäre schwanger gewesen, wovon man jetzt nichts mehr sah. Die Obduktion von Maria ergab auch, dass sie vor ihrem Tod ein Kind zur Welt gebracht hat und das sie an den Folgen der Geburt gestorben ist. Man vermutet, dass das Zeichen an der Mauer etwas mit dem verschwundenen Kind zutun haben könnte. Doch so sehr man auch sucht. Das Baby wird nie gefunden. Weder tot noch lebendig. Die Polizei hatte nicht nur in Venedig die Kinderheime befragt, sondern auch alle in der näheren Umgebung. Selbst die Kanäle und die Lagune waren nach einem Babyleichnam durchtaucht worden. Es war alles sinnlos.
Fünf Jahre später:
In einem leerstehenden Herrschaftshaus mitten in Venedig steht ein großes Fest für ein junges Mädchen bevor. Es ist ihr fünfter Geburtstag und sie darf in dieser Nacht zum ersten Mal mit um neues Geld für die Gemeinschaft zu besorgen. Ihre Ziehmutter Julia hatte ihr beim Weihnachtsfest fest versprochen, dass sie mitdürfte, sobald sie fünf wäre. Das war ein Jahr, bevor sie es sonst gelernt hätte. Aber dann wäre Julia nicht mehr da gewesen und Arianna wollte doch alles von ihr lernen. Julia war nämlich die beste Diebin von allen. Arianna wollte genauso werden. Sie war ihr großes Vorbild, denn sie schaffte es wirklich in jedes Haus, außer dem Doggenpalast, einzusteigen.
Heute sollte Arianna das auch lernen. In der letzten Nacht hatten sie, Julia und deren Freund Marco ihr Zielhaus ausgekundschaftet, genauso wie die Nächte davor. Ein Diebstahl wollte gut vorbereitet sein. Das war Ariannas erste Lektion gewesen. Ab neun Uhr stand das Haus mit Ausnahme des Hausbesitzers Herrn Belle völlig leer. Es gab keine Hunde und auch keine Alarmanlage. Eine enge Gasse führte zum Hinterhof des Hauses. Dieser war mit einer Mauer umgeben. Vom Hof führt eine Hintertür ins Haus. Sie ist nur mit einem alten rostigen Türschloss verschlossen. Für Marco war das kein Problem. Arianna war sich sicher, dass sie es schaffen würden.
Das alles ging ihr durch den Kopf, nachdem sie aufgewacht war an diesem besonderen Morgen. Sie richtete sich auf und schaute sich nach ihren Freunden um. Das Zimmer war leer. Wo die wohl hingegangen waren? Ob sie nicht etwa doch ihren Geburtstag vergessen hatten? Nein, das kann nicht sein. Sie war doch das einzige Kind, von der man das genaue Geburtsdatum kannte. Schließlich war Julia bei ihrer Geburt dabei gewesen. Da hörte sie auf einmal ein Kichern vor der Zimmertür und jemand flüsterte: „Ob sie inzwischen aufgewacht ist? Wenn nicht wecken wir sie. Jetzt komm sei kein Spielverderber. Wir hatten doch abgemacht, dass wir sie an ihrem Geburtstag überraschen. Los auf drei. Eins..., zwei..., und...“, Arianna legte sich schnell wieder hin und tat so, als ob sie schliefe. Die Überraschung würde gründlich danebengehen. „drei!“ Die Tür flog auf, Julia und Marco setzten zu einem: „ Alles Gute zum Geburtstag!“ ,an und gleichzeitig sprang Arianna auf und rief: „Überraschung!“ Die beiden wirkten auch wirklich so und Arianna kugelte sich vor lachen. „Dieses Jahr wurde es wohl wieder nichts mit der Überraschung? Wie oft wollt ihr es denn noch versuchen? Gebt doch endlich mal auf.“ Als sie sich dann wieder beruhigt hatte nahm sie aber doch die Glückwünsche von ihnen entgegen, ebenso wie die Geschenke. Von Julia bekam sie einen Gutschein für ein Beutestück, dass sie sich von ihrem ersten Mal aussuchen durfte und von Marco eine neue schwarze Hose. Die würde sie an diesem Abend gleich anziehen.
Bevor es aber losgehen konnte, mussten sie erst mal wieder alles ins Hauptquartier bringen und ihre Spuren in dem Haus verwischen. Das war Ariannas nächste Lektion, denn die Polizei untersuchte nach einem Einbruch immer zuerst die umliegenden leeren Häuser. Es kam schließlich oft vor, dass die Straßenkinder für einen Diebstahl verantwortlich waren.
Die Polizei wusste auch, das diese in einer einzigen großen Gruppe organisiert waren. Sie mussten also nur ein Kind erwischen um die Täter ausfindig zu machen. Es gab nur ein Problem: Es kam nur sehr selten vor, dass diese Kinder auch ihre Kameraden verrieten. So blieben die meisten Einbrüche ungeklärt. Nur für die geschnappten Kinder hieß es ab ins Kinderheim. Und von dort kam nur selten wieder jemand weg. Aber Eltern fanden die meisten auch nicht.
In ihrer Gasse angekommen wurde Arianna mit noch mehr Geschenken überhäuft. Die anderen gleichaltrigen Kinder waren alle ziemlich neidisch auf Arianna, da sie alle erst zu Taschendieben ausgebildet worden waren. Aber nächstes Jahr würden sie genauso wie Arianna in Häuser einsteigen und so für den Unterhalt der kleinsten ihrer Gemeinschaft mitsorgen.
Als es endlich dunkel wurde und eine Uhr neun schlug, machten die drei sich auf den Weg. Sie waren vollkommen schwarz gekleidet und Julia und Marco hatten noch Ruß für ihre Gesichter mitgenommen. Arianna brauchte keinen, denn sie hatte in den Sommermonaten von Natur aus immer eine dunklere Hautfarbe als die anderen. Auch brauchte sie keine Mütze aufsetzen, denn sie hat fast schwarze Haare, genauso wie Marco.
Auf dem Weg zu dem Haus begegnen sie so gut wie niemandem, nur einer alten Dame. In der Nähe des Hauses wird es noch mal kritisch, denn ein Polizist kommt pfeifend um die Straßenbiegung. Zum Glück können sie sich in eine dunkle Sackgasse retten und der Beamte geht, ohne sie zu bemerken, an ihnen vorbei. In der Zeit hatten sie den Atem angehalten, doch jetzt ließen sie die Luft wieder hörbar entweichen. Dann huschten sie hintereinander im Schatten der Hauswände auf die Gasse zu, die zum Hinterhof führte. Erst dort fiel die Anspannung zum größten Teil von ihnen ab.
Es war Vollmond, was für ihr Unternehmen gut war, sie aber auch verraten konnte. Denn im Vollmond sieht jeder gut, auch ohne Lampe.
An der Mauer angekommen, half Marco Arianna auf diese zu klettern. Dort befestigte sie das Seil, das Julia ihr zuwarf, damit die beiden nachkommen konnten. Zusammen sprangen sie in den Garten. Jetzt war es zehn Uhr dreißig und im Haus alles dunkel. Hier konnte sie auch keiner mehr entdecken. Marco übernahm die Führung und schlich zielstrebig auf die Hintertür zu. Dort blieben sie alle stehen und er öffnete die Tür mit einem Draht. Bevor er die Tür öffnete nahm Julia Arianna noch einmal auf die Seite und raunte ihr zu: „Da drinnen bleibst du immer schon in meiner Nähe außer ich sage dir etwas anderes. Keine Einzeltouren ohne meine Erlaubnis. Und mach so wenig wie möglich Lärm. Hast du verstanden?“ Marco stand abwartend neben ihnen und öffnete die Tür erst als Arianna zugestimmt hatte.
Ganz vorsichtig und langsam schwang sie nach innen. Trotzdem quietschte sie. Es kam Arianna vor wie ein Donnerschlag in der Stille, von dem selbst Tote wieder wach werden müssten und sie hielt erschrocken die Luft an. Doch nichts rührte sich. Weder im Haus noch draußen. Sie wagte es sich wieder zu rühren und schlich hinter Julia und Marco ins Haus. Im ersten Moment sah sie gar nichts und wäre fast in die beiden anderen hinein gelaufen. Doch nach einem Moment gewöhnten ihre Augen sich an das Licht. Es war dunkler als draußen, denn es gab nur ein winziges Fenster hinter der Tür. Sie schlossen diese auch wieder und sahen sich in dem Raum erst mal gründlich um. Es war die Küche und es gab noch zwei weitere Türen. Eine führte in den Vorratsraum, die andere auf den Flur. Von dort ging eine Treppe in die oberen Stockwerke und mehrere Türen in verschiedene andere Räume. Es wurde bestimmt, dass Marco sich diesen Teil vornehmen sollte und Julia wollte mit Arianna nach oben gehen.
So schlichen sie also vorsichtig die Stufen hoch und bei jeder, die leise quietschte hielten sie den Atem an und lauschten auf Geräusche von oben. Dort angekommen sahen sie, dass noch eine Treppe ins dritte Stockwerk führte und von dem Flur gingen wieder jede Menge Türen ab. Julia bestimmte, dass Arianna sich hier umsehen sollte und sie selber wollte nach oben gehen. Doch bevor sie ging sagte sie: „Jedes Teil, dass dir wertvoll erscheint steckst du in deinen Rucksack. Es ist nicht schlimm, wenn eines mal nichts wert ist. Mit der Zeit und etwas Übung wirst du das dann irgendwann sofort unterscheiden können. Und sei vorsichtig, falls du ins Schlafzimmer kommst. Wenn du Angst haben solltest kannst du mich ja auch nachher reingehen lassen.“ Arianna nickte nur und Julia verschwand nach oben.
Arianna drehte sich um und ging ans Ende des Flures. Dort öffnete sie leise die erste Tür. Sie hatte Glück. Die Tür war nicht verschlossen und sie drückte diese leise nach innen. In dem Raum war es sehr hell, denn die Vorhänge des Fensters waren nicht zugezogen. Das Zimmer war für ein Kind eingerichtet, doch Herr Belle war doch gar nicht verheiratet. An der Wand gegenüber des Fensters war das Bild einer wunderschönen jungen Frau. Arianna stand lange vor dem Gemälde und betrachtete die Frau, die ihr so erstaunlich ähnlich sah und sie die ganze Zeit mütterlich anlächelte. Sie hatte die gleichen Augen und die gleichen Haare wie Arianna und auch das Lächeln ähnelte ihrem erschreckend. Doch schließlich riss sie sich von dem Anblick des Porträts wieder los und verließ den Raum. Die nächste Tür gegenüber war verschlossen, ebenso wie viele andere auf dem Flur. Nur ein wertvoll eingerichtetes Bad, ein Wohnzimmer, eine kleine Bibliothek und das Schlafzimmer waren unabgeschlossen. In dem Schlafzimmer hing noch einmal das Bild der Frau aber nicht so groß. Dort fand Arianna auch das meiste ihrer Beute. Für einen unverheirateten Mann besaß er ganz schön viel Schmuck. Sie steckte alles in ihren Rucksack. Dann schlich sie wieder zur Treppe zurück und auch Julia kam gerade von oben herab. Gemeinsam traten sie den Rückweg zu Marco an. Auch er war fertig. Sie verließen das Haus auf die gleiche Weise wie sie hereingekommen waren. Marco verschloss die Tür sogar wieder mit dem Draht. Arianna musste wieder als erste auf die Mauer klettern und das Seil zu den beiden herablassen. Sie musste auch als letzte runter, damit sie das Seil wieder lösen konnte. Als sie sprang fing Marco sie in seinen Armen auf. Jetzt trennten sie sich, damit sie kein Aufsehen erregen würden. Jeder von ihnen kannte tausende Wege zu ihrer Gasse.
Am nächsten Tag sortierten sie die Beute. Ein Stück viel Arianna ins Auge. Es war eine Kette mit einem silbernen Herzmedaillon in dem das Foto der Frau von den Bildern war. Vorne auf dem Medaillon war noch ein roter Stein in Form eines Herzens eingelassen. Irgendwie fühlte sie sich zu der Frau im Herz hingezogen. Arianna konnte es sich nicht erklären. Doch sie bat Julia, dass sie die Kette behalten dürfe. Julia wunderte sich zwar, dass sie sich kein wertvolleres Stück aussuchte als Geburtstagsgeschenk doch sie willigte gerne ein. Von dem Tag an legte sie die Kette nicht mehr ab. Es wurde ihr Glücksbringer und jeder wunderte sich über sie.
Der Verkauf der erbeuteten Gegenstände brachte ihnen eine hübsche Summe Geld ein, von dem ihre Gemeinschaft mindestens einen Monat gut leben konnte. Das Königspaar der Straßenkinder war sehr stolz auf sie. Von heute an würde Arianna zum Team von Julia und Marco gehören bis diese 18 wären. Dann würde sie sich ein eigenes Team zusammenstellen. Doch bis dahin würde noch eine Weile vergehen und solange warteten viele gemeinsame Einbrüche auf die drei Freunde.
Doch vorerst mussten sich mal wieder alle Kinder noch mehr vor der Polizei in acht nehmen. Schließlich wurden wieder mal welche ihrer Gemeinschaft gesucht und keiner wollte seine Freunde in Gefahr bringen. Das hatte ja auch für sich selbst schlimme Folgen, denn man würde nie mehr in die Gruppe zurückkehren können. Entweder kam man ins Kinderheim oder aber, wenn man der Polizei wieder entwischen konnte, wurde man der Gemeinschaft verstoßen und musste allein in Venedig durchkommen. Doch das würde keinem Kind passieren und so konnten sie alle beruhigt sein.
Nach einem Monat bereiteten Arianna und ihre Freunde auch schon wieder einen neuen Einbruch vor, obwohl das Geld des letzten noch gar nicht ganz aufgebraucht war. Aber man musste ja auch was sparen, denn jedes volljährige Kind hatte das Recht auf einige hundert Euro, damit es über die Runden kommen konnte bis es eine Arbeit hatte. Dafür musste immer etwas Geld in der Gemeinschaftskasse sein.
Fortsetzung folgt, wenn gewünscht ....
Texte: Alle Rechte bei mir!
Bildmaterialien: Cover von tessamelody.
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2011
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