Eine Taube flattert vor ihre Füße. Sie ist fast vollkommen weiß. Kurz darauf folgen noch andere Tauben. Diese sind mehr oder weniger grau. Eine ist sogar ganz schwarz. Die Vögel zu ihren Füßen picken in aller Ruhe die Körner vom Boden, die sie ein paar Minuten vorher dort verteilt hat.
Ein paar Menschen bleiben kurz stehen und beobachten die Tauben, die zu Füßen der alten Frau sitzen. Doch keiner von ihnen kennt die Tauben so gut, wie die alte Dame. Auch ahnt keiner etwas vom dem Geheimnis, das diese Vögel mit den Menschen verbindet. Nur die Alte ist eine der wenigen, die es je erfahren hat. Selbst die Forscher sind nicht darauf gestoßen, obwohl sie alles und jeden erforschen.
Die alte Frau hat es von einer Taube selbst erfahren. Das war an einem Tag gewesen, als sie noch ein junges Mädchen war.
Damals waren ihre beiden Eltern kurz hintereinander gestorben und sie selbst fand sich plötzlich in einem Waisenhaus wieder. Dieses wurde von Nonnen geleitet und ihr wurde ständig eingebläut, das ihre Eltern schlecht gewesen sein mussten, ansonsten hätte Gott sie nicht zur Strafe so früh sterben lassen. Sie selbst sei bestimmt auch nicht besser und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis auch sie sterben würde.
Dank der Nonnen hielten sich die anderen Kinder auch von ihr fern und sie war ganz allein. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran und stumpfte ab. Im Heim war sie wie eine lebende, aber ausdruckslose Puppe. Nur wenn sie allein war, schien sie wieder lebendig zu werden. Deshalb zog sie sich so oft es ging zurück. Ihr Lieblingsplatz war der Dachboden. Dort saß sie in alte Decken gewickelt unter einem kleinen Fenster im Dach. Dabei träumte sie von besseren Zeiten, oder tauchte ab in die Welt der Bücher. Oft zeichnete sie auch Szenen aus ihren Träumen oder den gerade gelesenen Büchern. Diese Zeichnungen versteckte sie dann auf dem Dachboden im Doppelten Boden einer alten Kiste, den sie zufällig mal entdeckt hatte.
Dort liegen sie vermutlich noch heute, denn die alte Dame hatte sie bei ihrem Auszug aus dem Heim nicht mitgenommen.
Als das Mädchen an einem warmen Sommertag wieder einmal dort oben unter dem offenen Fenster saß und ihr Lieblingsbuchserie "Dolly" von Enid Blyton las, flatterte auf einmal eine weiße Taube durch das Fenster. Sie landete torkelnd auf dem Boden und blieb erschöpft dort liegen. Das Mädchen hielt die Luft an und versuchte sich nicht zu bewegen, um das schöne Tier nicht zu erschrecken. Dabei ließ es den Vogel nicht aus den Augen.
Auf dem Dachboden schien die Zeit still zu stehen, während sich das Mädchen und die Taube beobachteten. Nur der wandernde Lichtfleck des Fensters und die Geräusche spielender Kinder im Garten und vorbeifahrender Autos zeigten das Voranschreiten der Zeit an. Doch das nahm das Mädchen nur am Rande war. Schließlich wurde es immer dunkler, doch beide hatten sich immer noch nicht bewegt. Wenn man es nicht besser wusste, konnte man meinen, das man ein Gemälde betrachtete.
Nach einer Ewigkeit, so schien es dem Mädchen, bewegte sich die Taube. Sie tappte langsam auf sie zu und blieb erst wieder direkt vor ihr stehen. Dabei hatte sie ihr die ganze Zeit weiter in die Augen geschaut.
Eigentlich hätte das Mädchen schon längst wieder unten beim Abendessen sein müssen. Das merkte sie daran, dass es draußen so leise geworden war, aber sie traute sich nicht, aufzustehen. Die Augen der Taube hielten sie an ihrem Platz.
Plötzlich strauchelte der Vogel nach vorn und reflexartig streckte das Kind die Hand aus, um ihn aufzufangen. Das Tier wehrte sich nicht gegen sie, deshalb wurde es mutiger und nahm das kleine Wesen in ihre Hände und setzte es auf ihrem Schoß wieder ab.
In einer Tasche ihres Kleides fand sie noch 2 krümelige Kekse. Diese zerbrach sie in winzige Teile und hielt sie der Taube auf der flachen Hand hin. Kurz meinte sie so etwas wie Dankbarkeit in den Augen des Tieres zu sehen, bevor dieses anfängt die Krümmel aus ihrem Handteller zu picken. Das verursachte ein leichtes Kribbeln und nur mit Mühe gelang es dem Mädchen ein Lachen zu unterdrücken.
Schließlich stand sie doch noch auf, als die Taube eingeschlafen war und ging nach unten. Wie nicht anders zu erwarten schimpften die Nonnen sehr mit ihr und sie bekam nur etwas Brot und Wasser zum Abendbrot. Doch bevor sie ins Bett musste, lief sie noch einmal kurz auf den Dachboden und brachte der Taube eine kleine Schale Wasser.
Obwohl sie die nächsten Tage eigentlich auf ihrem Zimmer verbringen sollte, sah sie doch jeden Tag nach dem erschöpften Vogel und brachte ihm zu essen und zu trinken.
Als sie letztendlich ihr Zimmer wieder verlassen durfte, verbrachte sie wieder den ganzen Tag auf dem Dachboden und beobachtet die Taube. Auch fertigte sie mehrere Skizzen des Vogels an.
Ein paar Tage später wurde es schon wieder recht schummrig auf dem Dachboden und der Lärm aus dem Garten nahm auch so langsam ab, ein sicheres Zeichen dafür, das es bald Abendessen geben würde, da passierte etwas merkwürdiges.
Die Taube begann mit dem Mädchen zu sprechen.
"Es ist wirklich nett von dir, dich so um mich zu kümmern, aber ich werde nicht wieder stärker werden, wenn nicht jemand anderem geholfen wird."
Im ersten Moment dachte das Mädchen, das es träumen würde und wohl eingeschlafen sei, doch als sie sich in den Arm kniff und nicht aufwachte, realisierte sie, das wirklich grade eine Taube zu ihr gesprochen hatte.
Sie musste wohl wirklich dumm aus der Wäsche geschaut haben, denn die Taube klang recht belustigt, als sie weiter redete.
"Schau nicht so. Es ist ganz normal, das wir Tauben reden können. Wir zeigen es nur nicht jedem Menschen. Nur besondere Menschen erfahren das jemals. Und du bist etwas besonderes. Außerdem brauche ich deine Hilfe."
"Wobei brauchst du denn meine Hilfe?" Das Mädchen wunderte sich etwas, das es sich wirklich mit einer Taube unterhielt.
"Ich kann nur gesund werden, wenn jemand dem Menschen hilft, dessen Seele ich bin. Du musst nämlich wissen, das wir Tauben die Seelen der Menschen sind und unser Federkleid zeigt an, wie gut derjenige ist. Bei kleinen Kindern sind wir meist noch fast ganz weiß, aber mit der Zeit wird bei den meisten ein grau daraus. Einige werden auch ganz schwarz. Das sind dann Mörder und andere besonders schlechte Menschen. Wenn wir sterben, sterben kurze Zeit später auch unsere Menschen und wenn es unseren Menschen schlecht geht, dann geht es uns auch schlecht und dauert dieser Zustand zu lange an, dann sterben wir auch wieder. Um das bei mir zu Findern musst du den Jungen finden, dessen Seele ich bin und ihm helfen. Dann werde ich auch wieder gesund."
Hoffnungsvoll schaute der Vogel zu ihr auf.
Das junge Mädchen saß erst mal erschüttert von dem Gehörten da und tausend Gedanken wirbelten gleichzeitig durch ihren Kopf. Doch eins war ihr sehr schnell klar. Sie wollte nicht, das die Taube starb. Mit dem Rest konnte sie sich auch noch später beschäftigen.
"Ich werde dir helfen. Nur wie finde ich deinen Jungen und helfe ihm?"
Bei diesen Worten schien die Taube geradezu aufzuleuchten.
"Ich kann dich zu ihm hinführen. Aber er darf mich nicht sehen. Aber wie du ihm helfen kannst, das musst du selbst herausfinden. Da kann ich dir leider nicht helfen. Jeder braucht etwas anderes zum heilen."
"In Ordnung. Am besten wir brechen gleich morgen früh auf. Dann haben wir den ganzen Tag Zeit."
Damit war es beschlossene Sache.
Am nächsten Morgen schmuggelte das Mädchen die Taube direkt nach dem Frühstück nach draußen und schaffte es sogar unbemerkt vom Heimgelände herunter. Danach lief sie bestimmt eine Stunde nach den Anweisungen der Taube durch die Stadt.
Schließlich kamen sie an einem Park mit großem Spielgelände an. In einer Ecke wurde gerade ein Junge von fünf anderen herum geschubst Auf diesen machte die Taube das Mädchen aufmerksam.
Daraufhin setzte dieses den Vogel in einem Busch ab und lief auf die Gruppe zu. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, das auch noch mit jedem Schritt anwuchs, den sie näher an die Jungen kam. Aber sie hatte der Taube versprochen ihr zu helfen und sie konnte einfach nicht zusehen, wie jemand so geärgert wurde.
Mit mehr Selbstsicherheit, als sie eigentlich verspürte, bahnte sie sich ihren Weg direkt in die Mitte der Gruppe und ohne die anderen zu beachten zog sie deren Opfer mit sich weg von den anderen. Alle waren viel zu perplex um sie irgendwie aufzuhalten. Und darüber war sie froh. Sie wüsste nicht, was sie dann gemacht hätte.
Erst als sie ein ganzes Stück vom Spielgelände entfernt waren, ließ das Mädchen die Hand des Jungen los und sie setzten sich auf eine Bank neben einem kleinen Brunnen. In diesen tauchte das Mädchen ihr Taschentuch und kühlte damit die blauen Flecken des Jungen, die er wohl von den anderen gekriegt hatte. Dabei begannen sie langsam sich zu unterhalten und stellten fest, das sie sich sehr gut verstanden. Bevor sie es bemerkten, war es schon wieder so spät, dass das Mädchen zurück zum Heim musste, wenn es nicht auffallen wollte. Doch bevor sie auseinandergingen, verabredeten sie sich noch für den nächsten Tag.
Dem nächsten Treffen folgten weitere und die beiden entwickelten eine innige Freundschaft.
Die Taube kam noch einmal zu dem Mädchen um sich zu bedanken. Sie war wieder ganz gesund.
Als das Mädchen und der Junge älter wurden, wurde aus ihrer Freundschaft sogar Liebe. Schließlich heirateten sie.
Nun ist aus dem Mädchen eine alte Dame geworden. Sie sitzt im Park und füttert die Tauben. Ihr Mann ist vor einem Jahr schließlich doch gestorben, aber beide hatten ein erfülltes Leben zusammen. Das alles verdankt die Dame ihrem Erlebnis mit dieser einen Taube.
*ENDE*
Texte: Alle Rechte des Textes bei mir!Das Bild vom Cover ist von http://www.chrisi.net/ernsti/die/kuscheltier/angela_taube.jpg
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Tag der Veröffentlichung: 02.03.2011
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