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Herr Martens lebt in einer großen Stadt mit vielen Menschen. Er wohnt in einem dieser unpersönlichen Häuserblocks, in denen die Leute ein und ausgehen, ohne sich gegenseitig zu kennen. Seit seine Frau gestorben ist und auch das letzte seiner Kinder ausgezogen, lebt Herr Martens ganz allein in seiner Wohnung. Oft fühlt er sich einsam. Dann geht er immer in sein Musikzimmer und spielt Blues mit seinem Saxophon. Im Saxophon spielen ist er richtig gut, weshalb er auch ab und zu bei einer Kneipenband mitspielt. Diese Abende sind einige der wenigen Male, dass er wirklich das Haus verlässt und unter Menschen geht.
Regelmäßig im Juli verfällt Herr Martens in eine tiefe Traurigkeit. In dieser Zeit haben sich seine Kinder und alten Freunde schon daran gewöhnt sich nicht bei ihm zu melden. Der Juli ist nämlich sein Trauermonat. In dieser Zeit spielt er seine getragensten Bluesstücke auf dem Saxophon und ist so gut wie nicht ansprechbar.
Der Sterbetag seiner Frau ist in diesem Jahr ein wirklich heißer Tag. Auf dem Thermometer steht die Anzeige selbst im Schatten noch auf über 30°C. Deswegen spielt Herr Martens ganz entgegen seiner sonstigen Angewohnheit bei offenem Fenster. Draußen kann er ein paar wenige Kinder auf der Wiese der nahen Parkanlage lachen hören. Irgendwo fährt ein einzelnes Auto und ganz entfernt kann man das leise Brummen eines Flugzeuges hören. Alles scheint heute träger zu sein als an anderen Tagen. Selbst der sonst fast ständig wehende Wind hat sich heute gelegt. Passend zu dieser Stimmung spielt Herr Martens seinen selbst komponierten Blues. Mit diesem Stück hat er vor 5 Jahren die Trauer um seine Frau verarbeitet. Seitdem spielt er ihn jedes Jahr an ihrem Todestag. Es ist ein sehr langsamer und trauriger Blues. In dem Moment, in dem Herr Martens gerade zum sechsten Mal diesen Blues anfängt zu spielen, setzt von irgendwo her ein Klavier ein. Im ersten Moment kümmert er sich nicht darum, doch dann bemerkt er, dass der Klavierspieler sich an sein Stück angepasst hat und einfach mit ihm zusammen spielt. Aber er merkt auch gleich, dass sein Mitspieler die Art des Stückes genau erkannt hat und die wichtigsten Stellen mit seinem Spiel noch einmal hervorhebt.
Draußen ist es inzwischen komplett still geworden. Keine Kinder lachen mehr und auch das fast unhörbare Gemurmel von den Balkonen ist verstummt. Neugierig geworden tritt Herr Martens während er weiter spielt an sein Fenster. Unten auf der Parkwiese sitzt eine Schar Kinder im Schatten eines Baumes und lauscht andächtig der Musik. Selbst ein Mann, der eigentlich seinen Hund im Park ausgeführt hatte, ist stehen geblieben und spitzt zusammen mit seinem Hund die Ohren. Und auf den Balkonen aller Häuser ringsum stehen die Menschen und hören zu. Dann ist das Stück vorbei und kaum sind die letzten Töne verklungen, scheinen die Leute wieder aus ihrer Starre zu erwachen. Von ringsum kann man ergriffene Seufzer hören und der ein oder andere wischt sich verlegen eine Träne aus den Augenwinkeln.
Von da an spielt Herr Martens öfter bei offenem Fenster. Nach drei Tagen weiß er, dass immer um 16 Uhr der unbekannte Klavierspieler zu seinem Blues mitspielt. Von da an spielen sie immer zusammen und suchen nach dem perfekten Zusammenspiel. Diese Geschichte verbreitet sich schnell unter den Leuten in der Gegend und täglich kommen kurz vor 16 Uhr die Leute aus ihren Wohnungen in den Park oder auf die Balkone um den Zweien zuzuhören. Sie applaudieren den beiden sogar. Keiner weiß, wer damit angefangen hat, aber an einem Tag hat einfach mal jemand geklatscht und alle anderen haben mit eingestimmt. Seit dem machen die Leute das jeden Tag. Ihr Haus ist schon richtig berühmt geworden in der Stadt und es kommen jeden Tag auch mehr Zuhörer. Sogar vom anderen Ende der Stadt waren schon welche da gewesen.
Als der Juli schließlich vorbei ist, geht Herr Martens auch wieder regelmäßig zu seiner Kneipenband. Die wollen von ihm natürlich wissen, wer den der Klavierspieler ist, der in seinem Haus lebt. Doch er kann es ihnen nicht sagen, da er ihn nie gesehen hat. Doch trotzdem spielt er weiterhin täglich mit ihm zusammen Blues. Sie sind sogar dazu übergegangen noch andere Stücke gemeinsam zu spielen. Und die Menschen hörten ihnen immer noch genauso gerne zu. Dann im September verliert die Kneipenband durch einen Autounfall ihren Klavierspieler und versuchen einen neuen zu finden. Alle Mitglieder helfen eifrig mit, nur Herr Martens hält sich aus dem Trubel raus. Einen Monat lang spielen die verschiedensten Leute vor, doch keiner will so recht mit der Band harmonisieren. Vor allem mit dem Zusammenspiel zum Saxophon gibt es die meisten Probleme.
Als die Band mal wieder einen Klavierlosen Auftritt haben, betritt ein Schwarzer die Kneipe. Er setzt sich in eine Ecke, bestellt ein Bier und hört der Band zu. Dabei versucht er zu ignorieren, dass er von allen Seiten angestarrt wird. Auch wenn es in dieser Gegend nichts ungewöhnliches ist, dass es viele Schwarze gibt, bleiben diese normalerweise doch unter sich und gehen in andere Lokale. In dieser Kneipe war noch nie ein Schwarzer aufgetaucht. Schließlich macht die Band eine kurze Pause. In diesem Moment steht der Schwarze auf und geht unter den Blicken aller nach vorne zur Bühne. Fragend schauen ihn die Bandmitglieder an und warten etwas nervös, was wohl passieren wird. Dann sagt er mit einer sehr tiefen und angenehmen, ruhigen Stimme: „Euch scheint ein Klavierspieler zu fehlen. Was dagegen, wenn ich mal mitspiele?“ Verblüfft schauen sich die Mitglieder der Band an. Damit hatten sie nun wirklich nicht gerechnet. Aber man ist sich sofort ohne eine Absprache einig. Er wird abgelehnt. Die Mitglieder wollen lieber nicht zu viel mit ihren ausländischen Mitbürgern zu tun haben. Enttäuscht will der Mann wieder gehen, als der Blick von Herr Martens auf dessen Hände fällt. Es sind lange und feine Hände und wie gemacht um Klavier zu spielen. Einer plötzlichen Eingebung folgend setzt er sein Saxophon an die Lippen und beginnt seinen persönlichen Blues zu spielen. Es ist das gleiche Lied, das er seit Juli jeden Tag mit dem unbekannten Klavierspieler zusammen spielt. Überrascht dreht sich der Mann wieder um und Erkennen spiegelt sich in seinen Augen wieder. Mit schnellen Schritten eilt er zum Klavier und setzt sich. Dann spielt er ohne Probleme mit Herr Martens mit. Es ist genau die gleiche Melodie, die der Unbekannte immer gespielt hatte. In dem Moment wird Herrn Martens klar, dass er jeden Tag mit diesem Mann gespielt hatte und er ist fest entschlossen ihn in ihre Band zu holen. Währenddessen ist in der Kneipe der selbe Effekt aufgetreten, wie auch schon bei ihrem ersten Zusammenspiel im Juli. Die Leute hören ihnen andächtig zu und wagen es nicht, die Musik durch ein unbedachtes Geräusch zu stören. Als die letzten Nachklänge verhallt sind, setzt ein donnernder Applaus ein. In dem Moment weiß Herr Martens, dass er keine Probleme haben wird, den Rest der Band zu überreden den Mann mitmachen zu lassen. Als er sich zu ihnen umdreht, stehen sie mit offenen Mündern da und scheinen es nicht fassen zu können. Langsam erwachen sie aus ihrer Starre und blicken sich gegenseitig in die Augen. Dann fällt ihr Blick auf den Mann am Klavier, der seinerseits die Männer mustert. Sie holen tief Luft und sagen dann einstimmig: „Du bist dabei!“ Triumphierend lächeln sich der Saxophonist und Pianist an. Während der Rest der Band zum Tresen geht, um mit ein oder zwei Bier den Neuen zu feiern, bleiben die beiden bei den Instrumenten zurück. Nervös fängt Herr Martens an zu reden: „Ich bin Hermann Martens. Es freut mich, meinen täglichen Klavierbegleiter endlich mal kennenzulernen.“ Der Mann vor ihm lächelt freundlich. Dabei werden seine weißen Zähne sichtbar und es scheint, als ob sein ganzes Gesicht anfangen würde zu strahlen. Herrn Martens ist diese Lächeln sofort sympathisch. „Es freut mich auch einen so klasse Saxophonspieler kennenlernen zu dürfen, Herr Martens. Mein Name ist Abraham Watson. Auf eine weitere gute Zusammenarbeit.“ Er reicht ihm die Hand. Herr Martens ergreift sie und nickt. „Auf weitere gute Zusammenarbeit.“ Dann gehen auch sie zu den anderen an den Tresen und trinken ein Bier zusammen.
Nach der Spielpause der Band steht Abraham Watson gleich schon mit auf der Bühne. Der Abend wird dadurch zum besten Auftritt, den die Männer je hatten.
Von da an werden Herr Martens und Herr Watson sehr gute Freunde und unternehmen viel gemeinsam. Herr Martens beginnt wieder sich dem Leben zu öffnen und wird wieder geselliger. Durch die Freundschaft der beiden kommen sich die alteingesessenen und die neu hinzugekommenen Schwarzen näher und sie beginnen mehr zusammenzuwachsen. Man bleibt nicht mehr unter sich und jeder zeigt Interesse an der Kultur des anderen. So wurde das gemeinsame Musizieren zur sprichwörtlichen Goldenen Brücke für die zwei Gemeinschaften.

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Tag der Veröffentlichung: 12.11.2010

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