Cover

1. Charlotte

Die Sonne fiel schräg durch die Fenster unseres Salons und ließ meine Schwester wie einen zauberhaften Schmetterling erscheinen.

Anne drehte sich einmal im Kreis. „Was sagst du, Charlie? Wird man auf mich aufmerksam in diesem Kleid?“

Der zartgelbe Musselin war mit rosafarbenen Blüten bestickt und schmiegte sich vorzüglich an den zartgebauten Körper meiner älteren Schwester.

Ich seufzte. „Du wirst jedem Junggesellen den Kopf verdrehen und alle anderen Mädchen werden vor Neid ganz grün.“

Sie kicherte vergnügt und ihre Wangen färbten sich rosig. „Ach, Charlie. Ich freue mich so sehr auf den Ball!“

„Ich habe deine Schwester nicht nach der Königin benannt, damit du sie nun wie einen kleinen Jungen anredest.“ Mutter war in Begleitung unserer jüngsten Schwester Sylvie in den Salon getreten. Trotz ihrer strengen Worte lächelte sie gutmütig und zwinkerte mir zu. Ihre dunklen Augen und ihr schwarzes Haar hatten sie in ihrer Jugend als exotische Schönheit gelten lassen, wie Vater uns öfter schwärmerisch erzählte. Mama war noch immer eine schöne Frau, wie ich fand, trotz ihrer sechsundvierzig Jahre und der vier Kinder, die sie großgezogen hatte.

Wenn ich in den Spiegel sah, erkannte ich ihre Augen in meinem Gesicht, das sanfte schwarze Wellen umrahmten. Ebenso hatte ich ihre Kurven geerbt, während meine ältere und meine jüngere Schwester so schmal waren wie Papa und ihr Haar von der Farbe samtigen Karamells.

Mama seufzte und stemmte die Hände in die Hüfte, während sie Anne betrachtete. „Aber deine Schwester hat recht, du siehst entzückend aus.“

Sylvie ließ sich neben mir auf das Brokatsofa plumpsen und bewunderte die Stickerei in meinen Händen. „Die Gänseblümchen sehen toll aus. Kannst du mir beibringen, wie man sie stickt?“

„Natürlich, kleine Schwester. Sieh doch ...“ Ich überreichte ihr den Stickrahmen, nachdem ich ihr ein paar Stiche gezeigt hatte.

Sylvie übte sich an den filigranen Blüten und legte den Kopf schief. „Hmm, das sieht anders aus, als bei dir. Was mache ich falsch?“

Mutter hatte Anne auf ihr Zimmer geschickt, damit die Zofe ihr die Haare frisierte. Es war nicht mehr viel Zeit, bis wir zum ersten Ball der Londoner Saison aufbrechen sollten. Nun setzte sie sich zu uns. „Das wird schon, Sylvie, mit genügend Übung.“ Dann nahm sie von ihr den Stickrahmen entgegen und tätschelte meine Hand. „Du solltest ebenfalls nach oben gehen.“ Sie musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. „Du trägst heute das weiße Kleid. Wir sollten dir ein paar Federn dazu in die Frisur stecken.“

Ich prustete entrüstet aus. „Möchtest du, dass ich aussehe wie eine Ente im Schwanenkostüm?“ Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Die Perlenkette von Großmutter wird sicher reichen.“

„Und morgen erzählst du mir alles über den Ball, nicht wahr?“, drängte Sylvie. „Wer welches Kleid trug. Wer mit wem getanzt hat. Was es zu essen gab ...“

Ich lachte leise. Es war offensichtlich, dass Sylvie am liebsten mitgekommen wäre, aber mit ihren zarten fünfzehn Jahren war sie noch nicht in die Gesellschaft eingeführt.

„Natürlich werde ich dir jedes Detail berichten“, versprach ich und zwinkerte verschwörerisch, sodass sie erfreut juchzte.

Mein Magen fühlte sich indes etwas flau an. Mama hatte uns auf das vorbereitet, was uns heute Abend erwarten würde. Der aufregendste Tag lag bereits hinter uns, an dem unsere Eltern uns der Königin vorgestellt hatten. Doch der erste Ball war noch einmal eine andere Herausforderung.

So viel wurde von uns erwartet und es ging um nichts weniger als um Annes und meine ganz persönliche Zukunft. Nun, mehr um Annes als um meine, da sie die Ältere war. Und obwohl ich es ihr nicht offen gesagt hatte, stand mein Entschluss fest: Ich würde nicht vor ihr heiraten.

Sie hätte schon vor drei Jahren in die Londoner Society eingeführt werden können. Doch während sie im ersten Jahr an Windpocken erkrankt war, genau wie wir anderen beiden Mädchen, hatte uns im zweiten Jahr ein heftiger Schicksalsschlag getroffen ...

Ich schluckte den Klos hinunter, der fest in meinem Hals saß und eilte hinauf in mein Gemach.

Das weiße Kleid war eigentlich für Anne in ihrer ersten Saison bestimmt gewesen. Über dem Musselin lag eine fast durchscheinbare Seide. Doch da Anne sich in den letzten drei Jahren zu einer schlanken, filigranen Schönheit entwickelt hatte, war das Kleid nun mir zugefallen. Ich hatte das Gefühl, dass es mich blass wirken ließ, im strengen Kontrast zu meinem schwarzen Haar.

Ich schlüpfte aus meinem Alltagskleid und streifte die Wollstrümpfe ab, sodass ich die aus Seide überziehen konnte. Später kam unsere Zofe Mary zu mir und frisierte mein schwarzes Haar.

„Sie möchten wirklich nicht die Federbrosche ins Haar stecken, von der Ihre Mutter gesprochen hat?“, fragte sie, als sie mit ihrem Werk fertig war.

Über den Spiegel hinweg sah ich sie kopfschüttelnd an. „Ganz gewiss nicht.“ Ich kramte in der alten Schmuckschatulle, ein weiteres Erbstück meiner Großmutter. Die Perlenkette lag bereits um meinen Hals.

„Ein Diadem würde ebenfalls ganz hervorragend zu Ihrem Kleid passen“, meinte Mary nun und legte den Kopf schief.

„Hmm.“ Ein Diadem wäre mir zu prunkvoll erschienen. Ich wollte nicht so sehr im Mittelpunkt stehen.

Am Boden der Schatulle fand ich einen Steckkamm aus Elfenbein, der mit Blüten aus Perlen verziert war. Lächelnd reichte ich ihn an Mary weiter. „Ich denke, dieser hier wird reichen.“

„Tatsächlich, er passt ganz wunderbar zu Ihrer Perlenkette, Miss Charlotte.“

 

Während der Kutschfahrt fasste ich nach der Hand meiner Schwester, die sich noch kälter anfühlte, als meine eigene. Sie zitterte sogar ein wenig.

„Keine Sorge“, tröstete ich sie leise, sodass Mama und Papa uns nicht hören konnten, die gerade in ein Gespräch vertieft waren. „Ich bin bei dir und passe auf dich auf.“

Sie nickte und seufzte. „Ich wünschte nur, Roger wäre hier.“ Ihr Blick trübte sich und sie schloss kurz die Lider.

Das feste Band der Trauer schnürte sich eng um mein Herz. Unser Bruder ... er hätte bei uns sein sollen. „Ich weiß“, flüsterte ich und streichelte über ihre Wange. „Er fehlt mir auch.“

Unsere Mutter hatte unsere Worte nicht mitbekommen. „Mädchen, macht euch bereit. Wir sind gleich da.“ Sie zupfte ihre Handschuhe zurecht und prüfte uns mit nervösem Blick. Sie war sicher kaum weniger aufgeregt, als wir selbst.

„Ah, da sind wir.“ Vater zwinkerte uns zu. „Bereit für den großen Auftritt, meine Damen?“

„Ist man jemals wirklich bereit?“, murmelte Anne.

Ich konnte es ihr gut nachempfinden. Schon allein die Auffahrt zu Torrance House war beeindruckend. Kerzen erhellten den Weg und Musik drang aus dem Inneren des Palastes nach draußen. Unsere Kutsche reihte sich hinter vielen weiteren ein. Alles, was Rang und Namen hatte, war heute hier geladen und ließ es sich nicht nehmen, den ersten Ball der Saison zu besuchen.

Wir würden sie alle kennenlernen: die Junggesellen, womöglich auch ihre Mütter und Väter und natürlich auch die anderen unverheirateten Mädchen, die hier darauf hofften, ihrem zukünftigen Ehemann zu begegnen.

Ein Seufzen entrang sich meiner Kehle. Es war nicht so, dass wir wirklich eine Wahl hatten. Die Gesellschaft verlangte es von uns. Es schien der einzige Weg zu sein, uns in eine gute Zukunft zu bringen.

Nun, aber wenn wir schon an dieser Vorherbestimmung selbst nichts ändern konnten, so wollte ich wenigstens dafür sorgen, dass Anne in ihrer Ehe Glück fand. Unsere Eltern würden sicher darauf achten, dass der Kandidat finanziell und gesellschaftlich einen guten Status bot. Ich jedoch würde darauf achten, ob er meine Schwester mit Achtung behandelte, ob er sie zum Lächeln brachte ... viel mehr noch, ob er sie innerlich strahlen ließ. Denn nichts weniger hatte meine Schwester verdient.

 

Endlich hatte unsere Kutsche den Eingang zu Torrance House erreicht und ich bestaunte die Architektur des Gebäudes, die an einen griechischen Tempel erinnerte. Der Earl of Primrose war ein äußerst wohlhabender Herr, dessen Ehefrau mit ihren pompösen Festen in der Londoner Gesellschaft weit bekannt war.

Während wir durch die Eingangshalle liefen, bewunderte ich die hohen Marmorsäulen und die goldenen Kandelaber, in denen hunderte von Kerzen brannten.

Anne hakte sich bei mir unter. Ihre Aufmerksamkeit galt eher den Reihen von Menschen vor uns. „Wir sind nur zwei von vielen“, raunte sie. „Wie sollen wir hier hervorstechen?“

„Es ist von Vorteil, sich zunächst zurückzuhalten“, flüsterte ich zurück. „So können wir in Ruhe die Anwesenden beobachten und vorab eine Auswahl an möglichen Tanzpartnern treffen.“

Doch viel Zeit zum Beobachten blieb uns nicht. Kaum hatte man unsere Eltern und uns angekündigt, kam ein älteres Paar mit einem jungen Mann auf uns zu.

„Ranulf“, rief unser Vater seinem alten Freund aus Studientagen zu. „Ich wusste gar nicht, dass ihr ebenfalls hier seid.“

Der ältere Mann mit dem graumelierten Haar schüttelte Vater kräftig die Hand. „Gut, dich zu sehen, mein Freund.“ Er schenkte unserer Mutter einen leichten Handkuss. „Elizabeth, meine Liebe, du siehst wie immer wunderschön aus.“

Ein leichtes Hüsteln entrang sich meiner Kehle ob der übertriebenen Art von Lord Everton. Seine Gemahlin musterte mich pikiert und ich senkte den Blick.

Vater räusperte sich. „Du erinnerst dich an meine Töchter Anne und Charlotte?“

„Gewiss“, meinte der Lord pikiert und nickte seiner Gemahlin sowie seinem Sohn zu. „Emily und mein Sohn Patrick.“

Ich erinnerte mich nur dunkel an Patrick Everton, von irgendeiner Tee Party meiner Eltern auf unserem Landsitz. Ich hatte ihn als großmäuligen Kerl in Erinnerung, der unangenehm roch. Daran hatte sich nicht viel geändert.

„Miss Winston, Miss Charlotte“, begrüßte er uns und zeigte eine formvollendete Verbeugung. „Darf ich mir auf Ihren Karten den ersten Tanz sichern?“

Es wäre überaus unhöflich gewesen, den Sohn eines der ältesten Freunde unseres Vaters abzuweisen.

„Sicher ... mit Vergnügen“, sagte Anne und lächelte, doch sie blickte hilfesuchend zu mir.

„Oh, was habe ich für einen Durst“, meinte ich und fächelte mir Luft zu.

Lady Everton stieß ihren Sohn in die Seite und er reagierte mit leichter Verzögerung.

„Ich werde Ihnen etwas zu Trinken holen, Miss Charlotte.“ Er verschwand umgehend in der Menge und vergaß Annes Tanzkarte.

Everton und Vater unterhielten sich über einen Vorfall, der sich letzte Woche im Club zugetragen haben sollte. Währenddessen plauderten Mutter und Lady Everton über das Wetter, sodass Anne und ich uns verstohlen umsehen konnten.

„Sieh doch, ist das nicht Susanne Philipps?“, raunte Anne.

„Susi?“ Ich schaute mich nach unserer Freundin um. Wir hatten als Kinder oft zusammen gespielt, da ihre Familie ein Sommeranwesen ganz in unserer Nähe bewohnt hatte. Doch dann war Lord Philipps verstorben und die Witwe hatte das Anwesen verkauft.

„Tatsächlich. Mama, dürfen wir Susanne Philipps begrüßen?“

Sie ließ sich kurz ablenken.

Doch es war Lady Everton, die uns aufklärte. „Ihr wisst, dass sie letztes Jahr geheiratet hat? Sie ist nun Lady Mortimer.“

Ein Herr mit Backenbart brachte Susanne gerade ein Glas Wein und als sie aufblickte, schaute sie in unsere Richtung. Sie lächelte erfreut und geleitete ihren Gatten zu uns.

„Charlotte! Anne! Darf ich euch meinen Ehemann vorstellen? Jonathan Mortimer.“

Wir knicksten höflich, dann umarmte ich unsere Freundin. „Es ist so schön, dich hier zusehen!“

„Ebenfalls! Ihr seht bezaubernd aus.“

Susanne trug ein hellblaues Kleid, das zu ihren engelsgleichen Goldlocken passte.

„Du genauso. Oh, und herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit!“

Ihr Blick trübte sich ein wenig. „Es tut mir leid, dass ich euch nicht eingeladen habe ... Aber ich wusste ...“ Sie schluckte.

Ich winkte ab. „Ist in Ordnung. Aber ... erzähle uns doch alles von deinem neuen Zuhause.“

„Ihr müsst unbedingt zum Tee kommen, gleich morgen Nachmittag. Nicht wahr, Jonathan?“

Ihr Mann lächelte warmherzig. „Natürlich, meine Liebe.“

Mein Blick fiel auf Everton Junior, der mit zwei Gläsern Punsch zu uns kam.

Susanne bemerkte meinen nicht sehr begeisterten Blick. „Oh.“ Ihr Blick huschte über die Menge. „Ihr müsst auch unbedingt meine Freundin Victoria kennenlernen. Sie ist eine Debütantin, genau wie ihr.“

Da unsere Mutter weiterhin mit Lady Everton beschäftigt war, nutzten wir die Gelegenheit zur Flucht und folgten Susi und ihrem Gemahl zu besagter Freundin.

Sie schien ein wenig jünger zu sein als wir. Mit ihren erdbeerfarbenen Locken und leuchtend blauen Augen stach sie eindeutig hervor. Außerdem trug sie ein bezauberndes Kleid mit graublauer Spitze, das ein Vermögen gekostet haben musste. Sie lächelte herzlich, als sie uns auf sie zukommen sah.

Ich erinnerte mich sogar noch daran, dass sie am Tag unserer Vorstellung bei der Königin direkt nach uns in der Reihe gestanden hatte. Sie war von ihrer Mutter, Lady Milton vorgestellt worden, die nun auch bei ihr stand und sich mit einem Fächer Luft zu wedelte.

Susi machte uns noch einmal miteinander bekannt und lud auch Victoria zum Tee ein, was sie sichtlich freute.

„Habt ihr beiden schon getanzt?“, fragte Victoria neugierig.

Wir schüttelten die Köpfe und Anne erklärte, dass wir gerade erst angekommen waren.

„Dann nehmt euch vor Conrad Pickton in Acht. Er ist mir ständig auf die Füße getreten. Bei einem Walzer, das muss man sich mal vorstellen.“

Baron Pickton“, berichtigte sie ihre Mutter, verbarg aber ein Lächeln hinter ihrem Fächer.

Victoria verzog das hübsche Gesicht. „Er ist so alt, er könnte unser Großvater sein.“

„Er ist auf der Suche nach der zukünftigen Baroness Pickton. Du solltest also Nachsicht haben. Soweit ich hörte, ist er ein anständiger und höflicher Mann und nicht so alt, wie ihr jungen Damen denken mögt.“

Victorias Gesicht verfinsterte sich, als sie zu jemanden hinter uns sah. Womöglich näherte sich besagter Baron Pickton.

Neugierig drehte ich mich um und erblickte einen schlanken jungen Mann mit dunklem Haar und blauen Augen. Sein Gesicht war sehr ansehnlich und er wirkte groß und angenehm breitschultrig. Mir entging außerdem nicht, wie andere Damen ihm interessiert nachschauten und hinter ihren Fächern tuschelten.

„Das ist aber nicht der Baron?“, vergewisserte ich mich.

Victoria schnaufte undamenhaft. „Nein, das ist nur mein Bruder, Benedict.“

Er gesellte sich zu unserer Runde und wurde uns offiziell von Susi vorgestellt. Es hatte wirklich Vorteile, eine verheiratete Freundin zu haben, die solche gesellschaftlichen Aufgaben übernommen konnte.

Benedict Milton verbeugte sich vor uns und hauchte Anne einen Kuss auf die behandschuhte Hand. Ich bemerkte, dass eine leichte Röte in ihren Wangen stieg und hob die Brauen. Der junge Mann gefiel ihr augenscheinlich.

In diesem Moment tauchte Everton Junior an meiner Seite auf und hielt mir ein Glas entgegen. „Miss Charlotte, ich glaube, Sie haben Ihren Punsch vergessen.“

„Verzeihen Sie, Mr. Everton. Sehr freundlich, ihn mir noch hinterherzutragen.“ Ich nippte an dem Glas und stellte fest, dass der Alkohol darin ziemlich stark war. Seine Wärme breitete sich rasant in mir aus.

Evertons Aufmerksamkeit galt nun meiner Schwester. „Miss Winston, ich hatte nach Ihrer Tanzkarte gefragt.“

„Tut mir leid.“ Benedict trat schützend vor sie. „Miss Winston hat ihren nächsten Tanz bereits mir versprochen.“ Er verbeugte sich charmant und Anne lächelte erleichtert. „Darf ich Sie in den Ballsaal geleiten?“

„Aber natürlich, Mr. Milton.“

Everton sah den beiden schmollend nach, um sodann seine Aufmerksamkeit mir zu widmen. „Miss Charlotte?“

Ich nippte an meinem Punsch, dann reichte ich ihm die Karte. „Sicher. Doch ich werde erst noch dieses köstliche Getränk zu mir nehmen.“ Ich trank den Rest in großen Schlucken aus und stellte das Glas auf ein Tablett, mit dem ein Bediensteter durch die Menge schritt.

Frischen Mutes hakte ich mich bei Everton unter. Es war wohl besser, das Ganze hinter sich zu bringen.

 

Der Ballsaal leuchtete von Kerzenschein und glitzerte durch kristallene Kandelaber. Ein königlicher Ball hätte nicht prächtiger sein können. Die Musiker, ein Streichquartett, spielten eine schwungvolle Melodie.

Everton reichte mir die Hand und ich ließ mich auf die Tanzfläche führen. Zu meiner Erleichterung war er kein schlechter Tänzer und ich hatte sogar Freude daran. Bis er anmerkte: „Ihre Schwester scheint sehr angetan von Benedict Milton.“

Anne trug ein zartes Lächeln auf den Lippen und ihre Augen leuchteten. Der junge Milton hatte ebenfalls nur Augen für meine Schwester.

„In der Tat, ein schönes Paar“, meinte ich.

Everton grummelte leicht. „Sie sollte aufpassen, mit wem sie sich einlässt.“

Ich wäre beinahe über meine eigenen Füße gestolpert. Mein Tanzpartner bemerkte glücklicherweise nichts davon. „Wie meinen Sie das?“, hakte ich pikiert nach. Was ging es ihn überhaupt an, mit wem meine Schwester tanzte?

„Nun, der gute Milton ist bekannt für seine ... Eroberungen.“

Wollte er damit andeuten, dass Benedict Milton ein Verführer war? Dann hätte unseres Freundin Susi ihn uns ganz gewiss nicht vorgestellt. Zumindest nicht mit solcher Freundlichkeit.

Everton musste sich irren. Noch wahrscheinlicher war, dass er eifersüchtig war, weil er darauf gehofft hatte, die Aufmerksamkeit meiner Schwester zu ergattern.

Ich war froh, dass die Musik verstummte und ich mich bei ihm für den Tanz bedanken konnte. Der Höflichkeit war nun Genüge getan und ich drängte zurück in den Salon mit den Erfrischungen, um einer weiteren Tanzaufforderung zu entgehen.

Am Büffet traf ich auf Susi, die sich ebenfalls ein Glas Punsch gönnte.

„Wie war der Tanz mit Everton?“

„Wundervoll“, sagte ich und verdrehte die Augen. Das süße Getränk besänftigte jedoch mein Gemüt. „Sag, was weißt du über diesen Benedict? Meine Schwester tanzt gerade den zweiten Tanz mit ihm. Ist er anständig?“

Susi lachte auf. „Natürlich ist er das!“ Sie lehnte sich in meine Richtung, sodass nur ich sie hören konnte. „Benedict Milton ist der begehrteste Junggeselle der Saison. Letztes Jahr war er mit seinem ansehnlichen Äußeren schon ziemlich aufmerksamkeitserregend, doch diese Saison ...“ Sie hob vielsagend die Brauen.

Interessiert schaute ich zurück zum Ballsaal. „Wie kommt es dazu? Ist die Familie sehr reich?“

„Sie ist wohlhabend, in der Tat. Aber es gibt noch etwas, was diese Familie noch anziehender macht. Zumindest in den Augen der Mütter, die ihre Töchter bestmöglich verheiraten wollen.“

Susi machte es wirklich spannend. Welcher Umstand würde den finanziellen Aspekt noch attraktiver machen? Ich schnappte nach Luft. „Ein Titel?“

Sie nickte.

„Ein hoher Titel?“

„Du hast nichts von deiner Scharfsinnigkeit eingebüßt, liebste Charlotte.“ Sie spitzte die Lippen und nippte noch einmal an dem Punsch, bevor sie mit der Sprache herausrückte. „Benedict Milton wird demnächst zum Erben des Duke of Rochester ernannt.“

„Ein Duke“, staunte ich. Das war in der Tat eine Verlockung, der wohl kaum eine Debütantin widerstehen konnte. Noch dazu, wenn dieser Titel in einer so attraktiven Verpackung daher kam. Ich lächelte in mich hinein. Anne wäre eine wundervolle Duchesse ... Wenn nur nicht diese kleine Stimme von Everton in mir nachhallte, dass Milton möglicherweise ein Verführer war.

Ich wollte gerade Susi danach fragen, ob sie irgendetwas in dieser Hinsicht vernommen hatte, da tauchte meine Mutter in Begleitung Lady Evertons bei uns auf.

„Da bist du ja. Hast du dich gut amüsiert?“

„Vorzüglich.“

Sie deutete auf ihre Begleitung. „Wir beide haben uns gefragt, ob wir morgen Nachmittag nicht gemeinsam flanieren wollen?“

Spazierengehen mit den Evertons? Nein danke. „Susi hat Anne und mich zum Tee eingeladen.“

„Oh, dann wird sich gewiss noch eine andere Gelegenheit ergeben“, winkte Lady Everton ab. Sie sah eine Bekannte in einer anderen Ecke des Salons und verabschiedete sich von uns.

Ein junger Herr trat in Gefolgschaft von Papa an uns heran. Ich konnte es nicht vermeiden, dass wir einander vorgestellt wurden und ich erneut zum Tanzen aufgefordert wurde.

Wenigstens konnte ich so im Ballsaal inspizieren, wie es meiner Schwester mit Benedict Milton erging.

Tatsächlich befand sie sich am Rande der Tanzfläche im Gespräch mit Victoria und deren Mutter. Das war immerhin verheißungsvoll. Außerdem nahm ich im Augenwinkel wahr, dass auch unsere Eltern den Ballsaal betraten und sich zu ihnen gesellten.

 

Ich musste noch zwei Tänze mit anderen Bekannten meines Vaters über mich ergehen lassen, bevor ich mich entschuldigte und Zuflucht am Büffet suchte. Meine Füße schmerzten und ich verfluchte meine Tanzschuhe, die noch nicht eingelaufen waren. Ich würde den nächsten Tag ganz sicher nur mit hochgelegten Beinen verbringen.

Ich nahm zur Stärkung ein Stück Zitronenkuchen, das vorzüglich schmeckte und einen weiteren Punsch. Ich mochte das Gefühl der Wärme und Leichtigkeit, die er in mir auslöste. Doch schon erblickte ich den jungen Everton und wandte mich rasch in die entgegengesetzte Richtung.

Er sollte auf gar keinen Fall der Eindruck entstehen, dass ich aus mehr als Höflichkeit mit ihm getanzt hatte. Ganz besonders, da unsere Mütter bereits erste Hoffnungen in unsere Richtung hegten.

Ich spazierte an diversen Kandelabern und Vorhängen vorbei auf der Suche nach einem geeigneten Versteck. Endlich verriet mir ein Luftzug, dass hinter einem der Vorhänge die Terrassentür offenstand. Erleichtert schlüpfte ich hinaus und begrüßte die frische Luft.

Ich atmete so tief durch, wie es mir das Kleid erlaubte und schloss für einen Moment die Augen. Die Gespräche und die Musik drangen gedämpft nach draußen und ich spürte, wie die Ruhe in mir zurückkehrte.

Doch meine Zehen pochten und ich würde keinen weiteren Moment in diesen Schuhen ertragen. Verstohlen sah ich mich um. Niemand sonst war hier draußen. Ich ging also ein paar Schritte weiter in den Garten und nahm auf einer hüfthohen Mauer Platz. Ich streifte die Schuhe ab und seufzte erleichtert.

Die Musik und die Gespräche der Besucher hallten noch leise draußen in den Garten. Ich bemerkte erst jetzt, wie laut und stickig es im Saal war, da ich nun tief durchatmen konnte. Die Gespräche mit Fremden und das allzeit freundliche Verhalten waren nicht so anstrengend, wie ich vermutet hatte. Bisher hatte auch niemand eine unangemessene Bemerkung wegen unseres Bruders gemacht. Hatte die Londoner Society tatsächlich vergessen, was geschehen war?

 

„Sie sollten sich nicht allein hier draußen aufhalten.“

Ein kleiner Schrei entrang sich meiner Kehle und ich sprang auf.

Ein Fremder saß auf der anderen Seite der Mauer. Er erhob sich langsam und ich wich zurück. Der Mann war groß und breitschultrig.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, sprach er sanft. „Aber ich hielt es für angebracht, mich bemerkbar zu machen.“

Es lag nicht nur an der kühlen Nachtluft, dass eine Gänsehaut über meinen Körper zog. Der Fremde hatte eine angenehm warme Stimme.

„Danke“, quietschte ich und räusperte mich. „Ich benötigte nur etwas frische Luft.“

Lediglich der leichte Schimmer aus dem Palast spendete Licht. Ich erkannte, dass der Mann ein kantiges Kinn und eine gerade Nase aufwies. Er schien glatt rasiert zu sein und trug das Haar kurz.

„Geht es Ihnen gut? Soll ich Hilfe holen?“ Sein Blick fiel auf meine Schuhe im Gras.

Rasch sammelte ich sie ein. Als ich mich wieder aufrichtete, spürte ich seinen Blick auf mir.

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte mich ein Mann so intensiv angesehen. Hitze stieg mir in die Wangen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: VJ Dunraven @Adobe Stock; Divider: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0995-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /