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Kapitel 1 | Die Begegnung

Ich saß an einem stillen Ort und dachte darüber nach, was ich nun machen sollte. Viel blieb mir ja nicht gerade. Was sollte eine Tote auch schon für Hobbys haben? Fahrrad fahren? Freunde treffen? Sicher nicht. Wenn ich etwas tat war es meist nichts Spannendes. Mein Name war Mina Rose und ich war sechzehn ... seit dreizehn Jahren. Wie ich gestorben bin hatte ich vergessen oder verdrängt, aber ich trauerte meinen Erinnerungen an meinen eigenen Tod auch gar nicht nach. Ich meine, wer tut das schon gerne? Ich wusste auch gar nicht, wieso ich überhaupt noch hier war. Als ich noch gelebt hatte, erzählte man mir immer vom Himmel und der Hölle, aber dort gelandet war ich nie. Ich hatte zwei Theorien: Die erste war, dass es Himmel und Hölle gar nicht gab. Die zweite, dass ich nicht gut genug für den Himmel war, aber auch nicht schlecht genug für die Hölle. Welcher Grund auch immer dafür gesorgt hatte, dass mir beides verwehrt blieb, war mir egal. Ich war nun mal hier, also machte ich einfach das Beste daraus.

Die Zeit die ich hatte (also eine ganze Menge) nutzte ich. Oft besuchte ich meine Familie und beobachtete sie. Die ersten vier Jahre konnte ich es kaum ertragen sie zu sehen. Egal wen ich ansah, ich sah nur leere Augen und die Tränen meiner Mutter. Ich war ihre einzige Tochter. Außer mir hatte sie noch drei Söhne die alle älter gewesen waren und mittlerweile als Erwachsene ihre eigene Familie gründeten. Onkels und Tanten hatte ich keine und meine Großeltern verstarben ein paar Jahre nach meinem Tod. Die einzige Freude in meiner Familie brachte meine Nichte Melanie. Sie war echt süß und mittlerweile fünf Jahre alt. Sie füllte ein wenig das Loch, das ich hinterließ.
Der Gedanke an meine Familie, machte mich immer traurig und so überlegte ich mir, was ich zur Ablenkung tun könne.
Mittlerweile war mir auch echt langweilig (Ja, auch Tote langweilen sich!), also tat ich das was ich immer tat - Menschen beobachten. Ich kam aus meiner dunklen Gasse auf die Straße, die voller Menschen war und sah mich um. Die meisten waren uninteressant für mich, die anderen verschwanden dann irgendwohin, an Orte, die selbst ich als Tote nicht betreten wollte. Ich lief also einfach die Straße entlang und musterte jeden Menschen genauestens.

Ich wollte gerade zurück in meine Gasse, als ich ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, mitten auf der Straße stehen sah. Schnell wie ich war stand ich nur eine halbe Sekunde später neben ihr und wollte sie da wegziehen, aber es ging nicht. Meine Hände gingen einfach durch ihren Körper hindurch. Wie dämlich von mir. Ich konnte hier doch nichts anfassen, geschweige denn bewegen. Gemein wie das Schicksal war, kam ein Auto aus der Seitenstraße und fuhr direkt auf das kleine Mädchen zu. Ich bekam Panik. Ich wollte nicht, dass sie das gleiche erlebt wie ich und genau in dem Moment, als ich daran dachte, erinnerte ich mich wieder an den Unfall der mir das Leben kostete.

Genau an meinem sechzehnten Geburtstag starb ich. Es war ein Autounfall. Aber ich war nicht der Fahrer. Es war ein guter Freund gewesen. Er hatte zu viel getrunken und ich wusste nichts davon. Ich starb und er kam schwerverletzt ins Krankenhaus.
Bevor ich jedoch zu Ende denken konnte, wie ich gestorben war, riss mich ein Junge aus meinem Gedankenspiel. Er war groß und kräftig gebaut, hatte dunkle Haare und dunkle Augen. Seine Kleidung war genauso dunkel. Er rannte genau durch mich hindurch und es fühlte sich wie ein kalter Windhauch an. Er nahm die Hand des kleinen Mädchens und zog sie hinter sich her. Genau rechtzeitig, denn kaum waren sie von der Straße weggekommen, fuhr das Auto auch schon vorbei. Zum Glück ohne kleinem Mädchen auf der Windschutzscheibe. Ich wendete meinen Blick vom Auto zurück zu dem Jungen und dem kleinen Mädchen. Beide unverletzt. Der Junge sah dem Mädchen tief in die Augen und erklärte ihr, sie solle nicht auf der Straße spielen, weil es viel zu gefährlich sei. Das Mädchen hingegen himmelte den Jungen einfach nur an, ohne wirklich zuzuhören was er denn sagte. Er war ihr Held.
Die Mutter des jungen Mädchens kam angerannt und nahm ihre Tochter in den Arm. Sie dankte dem Jungen, der einfach nur nickte, seine Hände in seinen Hosentaschen vergrub und in die entgegengesetzte Richtung weiterlief, als sei nichts gewesen.

Ich beschloss ihm zu folgen, denn er interessierte mich. Lange Zeit lief er nur durch irgendwelche Gassen und an verlassenen Wegen vorbei, aber als es anfing zu regnen, blieb er einfach stehen und sah nach oben in den Himmel. Er bewegte seine Lippen. Was flüsterte er denn da vor sich hin? Erst wollte ich mich irgendwo verstecken und lauschen, aber wozu? Man sieht mich nicht, man hört mich nicht und man kann mich auch nicht berühren. Manchmal vergaß ich, wer ich war, was ich war. Ich lief also zu ihm und horchte. „Ich vermisse dich so sehr...“, flüsterte er. Immer wieder. Wen vermisste er? Wieso vermisste er Jemanden? War Jemand, den er kannte gestorben? Ich wollte es wissen, aber er wiederholte immer nur diese fünf Wörter. Weinte er? Der Regen machte es mir schwer, aber ich konnte erkennen, dass er weinte. Er schloss seine Augen und seine Lippen verstummten. So stand er eine ganze Weile da und nach einiger Zeit wollte ich mich dann von ihm abwenden und mir einen anderen Menschen suchen, doch kaum hatte ich mich umgedreht, sagte er: „Geh nicht!“

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Tag der Veröffentlichung: 11.05.2016

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