Cover

Paul vom Alltag gezeichnet

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leseprobe - 31 von 202 Seiten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Allein

 

Samstag, 11:30 Uhr.

Ausgeruht und ausgeschlafen war er aus seinem Bett gestiegen und verspürte nicht den Drang, sich schneller als nötig zu bewegen. Er entledigte sich seines Schlaf-Shirts und seiner Unterhose in dem er beides in den Wäschekorb warf und spazierte direkt danach in sein kleines Badezimmer. Die morgendliche Dusche tat gut, er ließ sich einige Minuten länger als notwendig den heißen Regen gefallen und stieg erst aus der Kabine, als der komplette Raum in dichtem Nebel lag. Er trocknete sich ab, wischte mit dem Handtuch den Spiegel frei, putzte sich die Zähne und besprühte sich wenig sparsam mit seinem Lieblingsdeo. Bevor er das Bad verließ, öffnete er, um den Dampf abziehen zu lassen, das Fenster. Wieder im Schlafzimmer, nahm er einen Schlüpfer aus der Schublade, zog ihn über und begann sofort die Spuren der letzten Nacht an seinem Schreibtisch zu entfernen.

Ein Glas und einige Bierflaschen räumte er in die Küche, kam mit Glasreiniger und Küchenrolle zurück und säuberte die Tischplatte. In der Küche zog er das Fenster auf, startete seinen Kaffeautomaten und ließ sich die erste Tasse seines geliebten Cappuccinos heraus. Seine Frühstücks Menthol, ließ er sich am offenen Fenster schmecken, löschte sie am Wasserhahn, entsorgte die Kippe im Mülleimer und schloss das Fenster. Der süßliche Geruch lockte ihn zurück an seinen Automaten, wo er sich die Tasse griff und die Küche hinter sich ließ. Paul lief in seinem kleinen Wohnzimmer auf und ab, die Cappuccinotasse hielt er dabei locker in der Hand. Er genoss den heißen Muntermacher, das lockere Schwingen in seiner weißen Feinripp-Unterhose und die Wärme der Gasheizung auf seinem nackten Oberkörper. Bis vier Uhr nachts hatte er am Computer gespielt, wie eigentlich jeden Freitag, herrlich geballert, Freunde per Kopfhörer und Mikrofon direkt ins Schlafzimmer geliefert bekommen. Drei bis vier Bier gönnte er sich dabei immer, manchmal auch mehr. Paul lebte seitdem er vor ein paar Jahren, bei seinen Eltern ausgezogen war alleine. Nicht, dass er nicht gerne eine Frau an seiner Seite gehabt hätte, aber woher nehmen und nicht stehlen!?

Es fehlte ihm die Zeit, um eine kennenzulernen, schließlich musste er unter der Woche um sechs Uhr aus dem Haus und kam kaputt und müde erst nach siebzehn Uhr wieder daheim an. Gegessen wurde meistens Fertigfutter aus der Dose oder eben Pizza. Abends setzte er sich im Normalfall, das Headset auf den Kopf und es wurden zwei bis drei Stunden gezockt. Dann war auch schon Zeit fürs Bett. Manchmal hatte er noch die Energie, um einige Seiten seiner Lieblings-Horrorromanserie zu lesen, aber spätestens dreiundzwanzig Uhr war Schluss. Er rollte sich zur Seite und schlief eigentlich immer sofort ein.

Das war sein Alltag, den er nicht anders kannte und wenn er ehrlich war, auch nicht anders wollte. Besuch bekam er eher selten, wer hätte ihn auch besuchen sollen? Freunde hatte Paul nur außerhalb der realen Welt auf den Schlachtfeldern der bekannten Ego-Shooter, im reellen Leben gab es für ihn keine oder keine Richtigen. Sicher hatte auch er Arbeitskollegen, Nachbarn und natürlich Familie, aber seine kostbare Freizeit verbrachte er lieber ohne sie und mit seinen »Freunden« aus dem Internet. Während man sich auf den Servern der Ego-Shooter durch die virtuellen Welten kämpfte, konnte man sich nicht nur über das Spiel an sich unterhalten, nein es gab durchaus auch Zeiten, in denen man echte Unterhaltungen führen konnte. Je später der Abend, je mehr Bier, desto privater und freundschaftlicher wurden die Gespräche. So war es auch in der letzten Nacht gewesen. Zuerst ging es um Waffen, dann um Autos, kurz danach um Frauen und schließlich um Sex. Sex hatte er, ja auch am Computer, aber warum nicht?

Es gab kostenlose Videos und die waren doch besser als gar nichts. Echten Sex? Davon hatte er schon gehört!

Immer noch lief er in der Wohnung hin und her und überlegte wo er heute am besten mit dem allsamstäglichen Wohnungsputz anfangen sollte und was so alles zu tun wäre. Kurz ging er ins Bad, um auch dort genau nachzusehen. Hier mussten heute die Fliesen geschrubbt, Waschbecken, Dusche und Toilette mit Kalkentferner und die Rohre mit Rohrreiniger bearbeitet werden. Alleine wohnen klar, aber sauber durfte es ja trotzdem sein. Für einen Junggesellen war er da vielleicht etwas perfektionistisch veranlagt. Aber es war ihm wichtig, dass er sich zu Hause wohlfühlte und wie hätte er sich im Dreck wohlfühlen sollen!?

Die Tür zum Bad lag genau gegenüber der Wohnungstür und gerade als er aus dem Bad ging und die Tür hinter sich schloss, schrillte über ihm die Klingel und er erschrak derart darüber, dass ihm der gute Cappuccino nach vorne und nach hinten aus der Tasse schwappte. Verdammt, schon wieder klingelte es, da schien es jemand sehr eilig zu haben!

Er riss die Wohnungstür vor sich auf und hatte sich schon darauf eingestellt, dem ungeduldigen Störer gewaltig den Marsch zu blasen. Als er aber in die leuchtend blauen Augen seiner Nachbarin Sabine sah, verwarf er diesen Plan und brachte stattdessen zunächst kein Wort heraus. Die kleine Blondine mit den großen Augen, der schmalen Taille, dem einladendem Becken und den großen abstehenden Brüsten, die dafür sorgten, dass ihr Shirt oben zu eng und unten zu weit wirkte, war schon der absolute Hammer.

Er stand ihr mit leicht offenem Mund gegenüber, hielt seine Tasse in der Hand und genoss den Anblick. Die kleine Nachbarin sah ihm frech ins Gesicht und fragte:

»Sorry, hast Du eine Tasse Zucker für mich?«

Paul war noch nicht ganz da und sah sie immer noch nur an. Dafür begann sie ihn nun zu mustern. Ihr Blick wanderte dabei von seinem Gesicht über seine nackte Brust zum Bauch. Das war ihm jetzt doch peinlich und er fing an zu stottern:

»Zezezu Zucker ich muss gu eh gucken.«

Ihr Blick wanderte weiter zu seiner Hose, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich zusehends, von interessiert, über schockiert, bis direkt zu angewidert. Sie schüttelte kurz den Kopf und sagte:

»Lass mal, ich wollte sowieso noch schnell einkaufen und wollte dich nicht stören!«, dabei drehte sie sich von ihrem Nachbarn weg und ging die ersten Schritte zurück in ihre Wohnung. Paul schaute an sich hinunter und erschrak. Er hatte nicht nur eine stahlharte Morgenlatte, die sich nicht deutlicher hätte abzeichnen können. Nein, direkt an der Spitze lief ein weiß-gelber Cappuccinofleck nach unten. Er spürte förmlich, wie sich seine Gesichtsfarbe änderte. Was sollte sie von ihm denken oder besser, was hatte sie wohl gerade von ihm gedacht?

Jetzt musste er handeln und retten, was zu retten war!

Er stürzte einen schnellen Schritt nach vorne, griff an ihre Schulter und stammelte:

»Dada das ist nicht!«

Entsetzt fuhr Sabine herum, stieß dabei an seinen Arm und wieder schwappte die Brühe aus seiner Tasse. Diesmal ergoss sich ein Teil des Cappuccino auf den Boden und ein anderer genau auf ihr weißes T-Shirt. Das warme Getränk lief ihr über die Brust und das Nass gab freie Sicht auf ihre rechte Brustwarze. Dieser Anblick überforderte und verunsicherte ihn komplett, er wollte den Fleck wegwischen, bremste gerade noch rechtzeitig, sie wich trotzdem aus und trat in die kleine Pfütze auf dem Boden. Mit einem spitzen Schrei rutschte sie weg und kniete nun mit einem Bein so vor ihm, dass ihre Nase beinahe sein bestes Stück berührte. Eigentlich ein traumhafter Anblick ...

»Was ist da draußen los, verdammt?«

Der Freund der Blonden, ein dunkelhäutiger Hüne stand urplötzlich im Hausgang und schien über die Szene, die ihm dort geboten wurde, wenig begeistert zu sein. Mit offenen Mündern sahen die Nachbarin und Paul den Riesen an und Paul stammelte:

»Nur äh, nur Cappuccino.«

Im nächsten Moment wurde es dunkel ...

Als er die Augen langsam wieder öffnete, erschien vor ihm ein herrliches Dekolleté, ein wunderschöner Ausschnitt. Darin wippte und schaukelte es, dass er dachte, er müsse im Paradies erwacht sein. Im Hintergrund hörte er leise Stimmen:

»Ja ok, sorry es tut mir leid, aber wie sah das denn aus!?«

»Musste das denn sein, Mensch beherrsche dich mal!«

Das Gespräch kam aber so leise bei ihm an, dass er sich in seinem Traum nicht stören ließ und als er sich wieder bewegen konnte, herzhaft in die Auslage griff.

Beinahe schlagartig war der Traum beendet und es wurde abermals dunkel. Das Aufwachen war diesmal ungleich intensiver, schmerzintensiver, denn bevor er überhaupt etwas sah oder hörte, spürte er den Schmerz. Er hatte das Gefühl verwundet auf einem Schlachtfeld aus seiner Spielewelt zu liegen, eine Granate musste neben ihm explodiert sein und ihn schwer verwundet haben. Er dachte aber auch daran, dass er vielleicht doch weniger spielen sollte, wenn die Träume danach so extrem real würden.

Paul öffnete die Augen, sah kein Ausschnitt, kein Wippen, aber auch kein Schlachtfeld. Er lag in keinem Schützengraben, er sah einfach die graue kalte Wand des Treppenhauses. Langsam rappelte er sich hoch, stützte sich dabei an der Wand ab und schleppte sich in seine Wohnung und dort direkt in sein Badezimmer.

»Meine Freffe, wie feh ich auf?«

Er hatte in den Spiegel gesehen und glaubte nicht, was er da sah. Das linke Auge war leicht geschwollen und rot, auf der rechten Seite hatte er einen Schuhabdruck vom Auge bis zum Kinn. Das komplette Profil war zu sehen und er glaubte sogar, das Markenzeichen erkennen zu können.

»Feife man, waf if mit dir paffiert?«, fragte er sein Spiegelbild, bekam wie erwartet keine Antwort und schleppte sich unter Schmerzen in die Küche, nahm dort einen Kühlakku aus dem Eisfach und schwankte damit in sein Wohnzimmer, wo er sich auf den Sessel fallen ließ. Er kühlte sein Gesicht, sah dabei an sich herunter und wunderte sich über den Fleck auf seiner Unterhose.

»Meim Gogg waf hab iff nur gemacht?«, fragte er sich selbst, kühlte weiter sein Gesicht und schlief nach einer Weile einfach ein.

 

Sonntag, 9:15 Uhr

Sein Blick fiel auf den Wecker. Wie er in sein Bett gekommen war, daran konnte er sich nicht erinnern. Er musste über zwanzig Stunden durchgeschlafen haben und fühlte sich jetzt ausgeruht und fit. Sollte das Aufwachen im Treppenhaus und die Blessuren in seinem Gesicht nur ein böser Traum gewesen sein?

Egal, er musste erst mal richtig wach werden. Deshalb lenkte er seine Schritte in die Küche, an den Automaten und ließ sich einen ersten Cappuccino heraus. Ja, so konnte der Tag beginnen!

Beim Ansetzen der Tasse verspürte er schon den ersten Schmerz und als seine Finger die Lippen abtasteten wurde ihm klar, das konnte kein Traum gewesen sein. Mit der Tasse in der Hand betrat er das Bad und warf beinahe vorsichtig einen ersten Blick in den Spiegel.

»Aff du Scheiffe!«

Ungläubig betastete und besah er weiter sein Gesicht. Ein blauer Fleck unterm linken Auge und einen Schuhabdruck über die ganze rechte Gesichtshälfte. Das war echt, keine Einbildung und trotzdem völlig surreal. So konnte er Morgen unmöglich aus dem Haus, so konnte er sich unmöglich auf der Baustelle bei den Kollegen oder bei Kunden blicken lassen. Eine Ausrede musste her oder noch besser, Urlaub! Er nahm sich schon mal vor, gegen Mittag bei seinem Chef zuhause anzurufen. Paul arbeitete in einem kleinen Familienbetrieb als Gas-Wasserinstallateur. Allzu viele Aufträge gab es zurzeit nicht und vielleicht, konnte er seinem Chef, mit dem Urlaub sogar einen Gefallen tun. Paul setzte sich in seinem Wohnzimmer, auf den Sessel und versuchte sich zu erinnern, was da mit ihm passiert sein konnte. Aber nichts, nicht die leiseste Ahnung, beinahe alles weg!

Er wusste nur noch, dass er im Flur gelegen hatte. Warum und was er dort vorher zu tun hatte?

Keinen blassen Schimmer!

So sehr er auch überlegte, er konnte sich weder den Zustand seines Gesichtes noch den seiner Unterhose erklären. Das einzig Positive an der ganzen Situation war, dass die Blondine von gegenüber ihn so nicht gesehen hatte. Was hätte die süße Maus von ihm denken sollen!?

Vorbei ist vorbei und nicht mehr zu ändern. Er nahm sich also vor, nicht mehr darüber nachzudenken, schaltete stattdessen seinen Fernseher ein, zappte hoch und wieder runter, blieb kurz bei den Nachrichten hängen und drückte sich erneut einmal hoch und einmal runter durch die Sender. Sonntags um diese Zeit lief nichts oder besser, es lief nichts, was auch nur einigermaßen sinnvoll gewesen wäre. Ein penetrantes Klingeln unterbrach sein Zappen und so stand er auf, schaltete den Fernseher aus, schlüpfte in seine Jeans und ging zur Tür. Eigentlich erwartete er niemanden, wen auch am Sonntag um diese Zeit. Paul öffnete die Tür und ärgerte sich im selben Moment, dass er so leichtsinnig gewesen war. Selbst am Sonntag schickte man also heutzutage die Vertreter oder Bibelverkäufer zu den leichtgläubigen und naiven in die Häuser, um sie übers Ohr zu hauen, sie zu bekehren, aber auf alle Fälle um ihnen in irgendeiner Form das Geld aus den Taschen zu ziehen. Gut, da war sein Gegenüber bei ihm genau richtig. Paul musterte den Klinkenputzer abfällig und hatte sofort den Verdacht, dass er wohl das große Los gezogen hatte, zum ersten Kunden in der zweifelhaften Karriere dieses Störenfriedes erwählt worden zu sein. Aber alle Achtung, das Kerlchen hatte sich wirklich fein herausgeputzt. Er musste Anfang bis Mitte dreißig sein, trug einen grauen, knitterfreien Anzug und nicht nur die Krawatte hatte man ihm akkurat angelegt, auch seine langen schwarzen Haare, die zu seinem dunklen Teint passten, waren so zu einem Pferdeschwanz gebunden, dass kein einziges Haar abstand. Paul nahm sich vor, direkt nach dem er den Kerl abgewimmelt haben würde, im Lexikon nachzusehen ob unter dem Wort »Schmierlappen«, ein Foto dieses Typen abgedruckt war.

Er beschloss, die Karriere des Hausierers zu beenden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte und sich somit zum Retter einer wahrscheinlich nicht geringen Zahl hilfloser Rentner aufzuschwingen. Paul baute sich im Türrahmen auf, lächelte, schaute sein Gegenüber fragend an und als dieser gerade die Unterhaltung mit:

»Ich bin …«, beginnen wollte, wurde er von Pauls leisem »pscht« unterbrochen. Obwohl man ihm schon jetzt seine Verunsicherung deutlich ansehen konnte, startete er von vorne:

»Ich …«, wieder unterbrach ihn Pauls »pscht!«.

Paul lächelte weiter, als er dem jetzt komplett aus dem Konzept gebrachten Anzugträger seinen Zeigefinger vor die Lippen hielt und noch mal ein leises »Pscht« zuflüsterte.

»Ich unterbreche sie nur sehr ungern, aber wir kürzen das mal ab. Nein, ich will keine Bibel, kein Fernsehheft und kein Lotterielos kaufen. Ich glaube an die heilige Mumu vom Titisee, ich habe gar keinen Fernseher und ich will auch keine Reise in die Türkei gewinnen. Sollte mir je der Sinn nach Türkeifeeling stehen, dann lege ich mich mit der Luftmatratze an den Hauptbahnhof!«, damit trat er einen Schritt zurück und schloss die Tür. Herrlich, er sonnte sich geradezu in diesen Momenten, die ihm hin und wieder Abwechslung und Freude brachten. Schon wieder klingelte es, da war wohl einer besonders hartnäckig. Paul öffnete nur einen Spalt und fragte freundlich:

»Etwas Vergessen?«

Der Dunkelhaarige antwortete und wurde dabei ausnahmsweise nicht gestört:

»Eigentlich wollte ich mich nur vorstellen, mein Name ist Demirel und ich bin neu hier im Haus.«

Das änderte natürlich einiges, vor allem aber Pauls Gesichtsausdruck, von süffisant zu aufgesetzt interessiert.

»Mensch Junge, sag das halt gleich, wie kann ich dir helfen?«

Demirel sammelte sich, pustete einmal durch und wurde sofort deutlich lockerer.

»Wie gesagt, wollte mich nur kurz vorstellen, ich bin neu im Haus und neu in der Stadt, kenne hier also noch keinen und wollte nur mal so ins Reden kommen.«

Mit der Nachbarschaft wollte es sich Paul nicht verscherzen, musste schnell reagieren und nahm Anlauf, um über seinen eigenen Schatten zu springen.

»Ja dann komm halt mal rein und trink einen Cappuccino mit.«

Demirel freute sich sichtlich über die unerwartete Einladung seines bisher doch eher sehr unfreundlichen neuen Nachbarn.

»Ich will dir keine Mühe machen, aber wenn du einen übrig hast, dann gerne und weil, wir schon, beim »Du« sind, ich bin Farhad.«

Paul warf Demirel einen prüfenden Blick zu.

»Wieso jetzt Fahrrad, hast du nicht gerade gesagt, du heißt Demirel?«

Farhad antwortete lachend:

»Ja aber auch wir Türken haben einen Vor- und einen Nachnamen, also Farhad ist mein Vorname.«

Jetzt lachte auch Paul.

»Na ja gut, mit dem Namen würde ich mich zwar nicht aus der Garage trauen, aber weil man in dieser Gegend besser kein Fahrrad draußen stehen lässt, komm besser rein. Paul übrigens!«

Etwas verwirrt betrat Farhad die Wohnung und wurde von seinem Nachbarn aufgefordert, auf der Couch im Wohnzimmer Platz zu nehmen.

»Moment bin gleich wieder da.«

Nach ein paar Minuten kam Paul mit zwei Tassen Cappuccino zurück. Eine Tasse stellte er vor sich auf den Tisch und die andere hielt er seinem Gast entgegen, der sie ihm abnahm und sofort kurz daran nippte.

»Danke Paul, schmeckt sehr gut und ist sehr freundlich von dir«, dabei nickte er seinem Gastgeber zu.

»Nichts zu danken Farhad, aber nach der Tasse fliegst du erst mal wieder raus. Ich muss noch in der Firma anrufen und putzen muss ich auch noch.«

Wieder nickte der neue Nachbar.

»Ja, kein Thema, hab auch noch einiges zu tun.«

Man unterhielt sich noch etwa fünf Minuten über Belangloses und leerte dabei die Tassen. Danach wurde Farhad von Paul zur Tür gebracht und verabschiedet. Farhad umarmte Paul, was der sich nur sehr widerwillig gefallen ließ und während Paul die Wohnungstüre schloss, nahm Farhad die ersten Stufen der Treppe nach oben. Das Telefonat mit dem Chef verlief wie gedacht, der freute sich noch darüber, dass Paul eine Woche Urlaub nahm und in der schlechten Auftragslage, einige seiner vielen Urlaubstage aufbrauchte. Jetzt durfte er endlich mit seinem jedes Wochenende wiederkehrenden Putzmarathon beginnen. Die Wohnung putzte sich leider nicht von alleine und so rückte er dem Kalk in Waschbecken, Dusche und Toilette, mit der chemischen Keule zu Leibe, wischte die Küche durch und war sehr froh darüber, dass ihn niemand beobachten konnte, als er mit dem Staubsauger zu »I Want to Break Free«, zuerst durch sein Wohn- und dann durch das Schlafzimmer tanzte. Irgendwann war alles getan, er hatte alles erledigt und nun also sieben Tage frei. Jeder Andere hätte sich wahrscheinlich darüber gefreut, aber ungeplante sieben Tage Freizeit, das war für einen Single und bekennenden Stubenhocker wie ihn, eine sehr lange Zeit. Auf ihn warteten also knappe einhundertachtzig Stunden langweiligen Urlaub.

 

Sonntag, 17:40 Uhr

Schon während er seine Putzutensilien im Schlafzimmer, in die Nische zwischen Schrank und Wand räumte, kam ihm der Einfall die ersten dieser Stunden mit dem Computer totzuschlagen. Direkt nach dem Putzen hatte er nicht wirklich große Lust auf einen Ego-Shooter, wollte Zunächsteinmal etwas entspannen und startete lieber ein ruhiges Strategiespiel, offline. So vergingen beim Burgenbau, Felder anlegen, Burgen abreißen und Felder verbrennen die nächsten hundertachtzig Minuten und auch die Lust am Spielen. Er beendete das Spiel, fuhr den Computer herunter, zog sich einen Pulli über, schlüpfte in seine Schuhe, nahm seine Jacke und den Schlüssel vom Haken und verließ seine Wohnung. Kaum im Treppenhaus dachte er schlagartig wieder an das, was ihm am Tag zuvor passiert sein musste, verdrängte diesen Gedanken schnellstmöglich und lief die paar Stufen hinunter zur Haustür, die kurz danach laut ins Schloss fiel.

Er wohnte schon in einer beschissenen Gegend. Hier stand Haus an Haus, es gab kein Grün, keinen Baum, einfach alles war hier grau in grau. Vom Haus weg, ging er links herum, dann etwa dreihundert Meter geradeaus und erreichte Wilmas Eckkneipe. Dort nahm er die zwei Stufen, drückte die Tür auf und betrat wortlos die Kneipe. Etwas anderes war es nicht und sollte es auch nicht sein. Kneipe passte, denn zu essen gab es hier nichts, zumindest hatte er hier noch nie jemanden essen sehen und auch eine Speisekarte schien es hier nicht zu geben.

Hin und wieder, wenn ihm nichts anderes einfallen wollte, kam er hier her, setzte sich an die Bar, trank eins bis zehn Bier und ließ so den Abend ausklingen. Freunde hatte er hier nicht, denn keiner hatte hier Freunde. Nie waren hier mehr als fünf Gäste gleichzeitig anwesend und nie kamen hier mehrere Gäste zusammen an. Keiner wollte hier reden, keiner wollte Freundschaften schließen und keiner wollte dumm angesprochen werden. Wilma stand hinter der Theke und zapfte. Wilma trug ein blaukariertes Hemd wie beinahe immer, sein Haarkranz um die Glatze stand genauso wirr in alle Richtungen ab wie sein Vollbart. Paul sah sich um, drei Personen verteilten sich an den Tischen, an der Theke saß heute noch keiner. Er rückte einen Barhocker leicht von den anderen weg und setzte sich. Wilma warf ihm einen kurzen Blick zu und fragte, obwohl er sich die Antwort auch selbst hätte geben können:

„Bier?“

Paul nickte, nahm sein Handy aus der Jackentasche und startete seinen Browser. Er klickte sich sinnfrei durch das Internet, besuchte die Homepages der bekannten Boulevardblätter, erweiterte dabei sein Repertoire an unnützem Halbwissen und sah nur kurz auf, als Wilma ohne ein Wort zu sagen, neben ihm auftauchte, das Bierglas abstellte und mit einer Selbstgedrehten zwischen den Lippen sein Lokal verließ. Nur wenige Sekunden später wurde links neben Paul der Barhocker bewegt und jemand setzte sich ungeniert neben ihn. Solch eine Dreistigkeit war ihm hier bisher nie untergekommen. Er sah provokativ nicht hoch, wollte nicht reagieren und tippte einfach weiter auf seinem Handy herum.

»Guten Abend Paul!«

Paul fiel vor Schreck beinahe vom Hocker, schaute nach links und sah in Farhads Gesicht.

»Na auch Langeweile?«

Farhad sprach in einer normalen Lautstärke und keiner der anderen Gäste reagierte. Paul war es dennoch unangenehm und er flüsterte zurück:

»Na ja, will nur noch was trinken.«

Farhad redete auch jetzt normal weiter:

»Kommst du öfter hier her?«

Paul wurde noch leiser,

»pscht, sei doch mal ruhig, was sollen die Leute denken!?«

Farhad sah Paul überrascht an und flüsterte nun auch:

»Ok ich dachte, das hier wäre eine Gaststätte, werden hier Bücher verliehen oder ist jemand gestorben?«

Paul fühlte sich ertappt, grinste und sagte:

»Nein ist ok, aber hier wird normal nicht geredet.«

Wilma trat derweil wieder hinter die Theke und zapfte weiter. Farhad brachte es fertig, seinen Sitznachbarn in eine kleine Unterhaltung zu verstricken. Der ungewohnte Wortwechsel tat Paul wirklich gut und er genoss diese Abwechslung. Drei Bier hatte er schon und sein Gesprächspartner rührte immer noch an seinem ersten Glas Tee. Hier gab es echt Tee, der Wahnsinn, das hätte Paul nicht vermutet. Wilma sah entweder wegen dem Tee oder der ungewohnten Lautstärke, hin und wieder beinahe vorwurfsvoll in ihre Richtung, sagte aber nichts. Als Paul den letzten Zug aus dem Glas genommen hatte und es leer vor sich auf der Theke abstellte, kam wieder die obligatorische Frage:

»Noch eins?«, und Paul nickte. Farhad hielt sein Teeglas in der rechten Hand und legte die linke beim Aufstehen auf die Schulter seines Nachbarn.

»Setzen wir uns an einen Tisch?«

Paul folgte Farhad, nach dem er vom Wirt das nächste Bier überreicht bekommen hatte, an den Tisch in der hintersten Ecke des Lokals. Dort konnte man sich unterhalten, ohne andere Gäste zu stören. Man unterhielt sich tatsächlich, man unterhielt sich über privates, wie sonst nur über Headset im Internet. Sie sprachen über die Gegend, über die Sturheit der Leute hier, über Autos, über Nachbarn und plötzlich über Frauen.

»Die kleine Blonde unten neben dir ist schon der Hammer oder?«

Paul stimmte nickend zu. Im Normalfall hätte er abgestritten die Blonde überhaupt je registriert zu haben, aber der Alkohol zeigte Wirkung.

»Ja ist sie, sie hat aber einen Macker und das ist ein echt grober Klotz.«

Farhad grinste, »ja, ist mir aufgefallen aber ernsthaft, wäre die nichts für dich?«

»Hallo, ich sagte doch, sie hat einen Macker, das wird also nichts!«, sein Gegenüber gab sich mit dieser Aussage scheinbar nicht zufrieden.

»Hör auf, wenn man will, dann geht immer was, glaub mir!«

»Ja, klar, mach es mir vor!«

Farhad schüttelte den Kopf.

»Ich will doch nichts von ihr, du willst doch. Aber ok, wenn du mir nicht glaubst, ich zeig dir, dass auch da etwas geht.«

Amüsiert sah ihn Paul an.

»Wie willst du mir denn zeigen, dass da etwas möglich wäre?«

Sein neuer Nachbar sah ihn nun ernst an.

»Also Paul du weißt, dass man vom Hof aus in eines ihrer Fenster sehen kann?«

»Ja, von der Treppe aus, man sieht aber nur einen kleinen Ausschnitt«, Paul hoffte, dass er sich damit nicht verraten hatte. Denn hin und wieder hatte er schon rauchend an der Treppe gestanden und gehofft seine Nachbarin in einer privaten Situation beobachten zu können. Farhad reagierte nicht, hatte den Satz nicht wirklich verstanden oder ihn einfach übergangen. Vielleicht war er auch froh, selbst nicht gefragt zu werden, wie ihm die Möglichkeit in die Wohnung der Blonden zu sehen, aufgefallen war.

»Gut, morgen Nachmittag um drei Uhr stehst du an der Treppe!«

Paul lachte innerlich, fragte sich, welche geheimen Zusätze Wilma in Farhads Tee gerührt hatte und stimmte seinem offensichtlich größenwahnsinnigen oder Teein unverträglichen Nachbarn amüsiert zu.

»Ok, ich bin gespannt!«

Die beiden unterhielten sich noch einige Zeit weiter und verließen das Lokal kurz vor Mitternacht. Auch auf dem Heimweg ließ man die Unterhaltung nicht abreißen und Paul redete oder besser lallte, als hätte er heute ein ewig dauerndes, sich selbst auferlegtes, Schweigegelübde gebrochen und viel nachzuholen. Farhad kam kaum zu Wort, lächelte und nickte nur hin und wieder verständnisvoll. Beim versuch die Haustür aufzuschließen scheiterte Paul kläglich und nachdem ihm einige male seine Schlüssel aus der Hand gefallen waren, musste er sich von seinem neuen Freund helfen lassen. In leichter Rückenlage und von Farhad geschoben überwand er die Stufen, warf der Tür seiner Nachbarin einen sehnsüchtigen Blick zu, winkte ab und übergab seinem Nachbarn vorsorglich seine Schlüssel. Farhad öffnete nun auch Pauls Wohnungstür und man verabschiedete sich. Paul wankte ins Schlafzimmer, trat auf dem Bett sitzend seine Schuhe herunter, zog sich Jeans und Pulli aus, ließ sich zur Seite fallen, zog die Decke hoch und schlief sofort ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Contusio testis

 

Montag, 9:55 Uhr

Der nächste Morgen begann, wie jeder Morgen begann, wenn Paul nicht zur Arbeit musste. Er stand auf, duschte, putzte sich die Zähne, nebelte sich mit reichlich Deo ein, bändigte seine Haare und zog sich langsam an. Danach schlürfte er genüsslich seinen ersten Cappuccino und war gerade dabei seine Tasse an dem Automaten abzustellen, als plötzlich lautes Geschrei vom Hausgang in seine Küche drang. Das kam hier schon mal vor und störte ihn deshalb wenig.

»Hau einfach ab und komm diesmal bloß nicht wieder!«

Doch, das interessierte ihn jetzt sehr. Nachdem er genauer hingehört hatte und die Stimme seiner blonden Nachbarin zuordnen konnte, wurde seine Neugierde geweckt und so ging er näher an die Tür heran, um der Unterhaltung besser folgen zu können.

»Immer das Gleiche. Wochenende, Party und dann ne neue Tussi. Du schaffst nicht mal eine, willst aber gleich mehrere, verpiss dich einfach!«

»Ja mach ich auch, ich hab die ganze Zeit schon keinen Bock mehr auf dein Hausmütterchen Gemache!«

Sehr schön, die Unterhaltung gefiel Paul und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Leise und sehr langsam öffnete er die Wohnungstür einen Spalt, lugte hindurch und sah schräg gegenüber in den kleinen Flur der Nachbarswohnung. Zuerst war noch niemand zu sehen, dann betrat die Kleine den Flur und hielt eine Sporttasche in der Hand, die sie mit:

»Vergiss deinen Mist nicht!«, vor die Tür in das Treppenhaus warf und die Tür zuknallte. Ihr Freund oder jetzt besser Ex-Freund lief die Stufen vor der Haustür nach oben, griff sich die Tasche und mit einem leisen:

»Was für eine blöde Kuh«, drehte er sich herum und sah direkt durch den Spalt der leicht geöffneten Tür in Pauls Gesicht. Der stand da, mit einem leichten Grinsen auf den Lippen und war weder im Stande etwas zu sagen, noch die Tür einfach zu schließen. Zwei Schritte ging der »Ex« der Blonden auf Paul zu, streckte seinen Zeigefinger in dessen Richtung und drohte:

»Du hältst besser dein dummes Maul!«

Paul wurde wach, schlug die Tür zu und lehnte sich von innen mit dem Rücken dagegen. Auch jetzt grinste er noch vor sich hin. Ja, die Unterhaltung hatte ihm sehr, sehr gut gefallen. Die Haustüre wurde zugeschlagen und kurze Zeit darauf quietschten vor dem Haus Autoreifen.

»Super, den Lutscher hätten wir fürs Erste los«, dachte er, grinste bei diesem Gedanken und behielt diesen Gesichtsausdruck für die nächsten Minuten wie eingebrannt bei. Musik, ja das war die richtige Zeit und die richtige Stimmung für eine Runde Kuschelrock und die CD durfte heute auch mal etwas lauter konsumiert werden. Er drückte die Starttaste, drehte den Bass etwas herunter und die Lautstärke hoch, so passte es. Paul ließ sich auf seine Couch fallen, legte sich zur Seite und genoss so die komplette Scheibe. Beinahe wäre er eingeschlafen, doch immer stärker werdendes Hungergefühl, verhinderte das Wegdämmern. Aus dem Eisfach seines Kühlschrankes wühlte er zwei Fertigpizzen, entfernte die Folie, stellte den Backofen auf die richtige Temperatur ein und wartete einige Minuten. Sein Herd gab grünes Licht, die eingestellte Temperatur war erreicht und so schob er die Pizzen hinein. Er mochte keine knusprige Pizza, labbrig sollte sie sein und mehr als acht Minuten brauchte es dazu nicht. Diese Zeit nutzte er, um kurz über die Hängeschränke und über die Oberflächen der Spüle und des Herdes zu wischen. Das Backblech wurde herausgezogen, oben auf die Herdplatten gestellt, die erste Pizza auf den Teller gezogen und zusammengefaltet. Paul holte sich Messer und Gabel aus der Besteckschublade und ließ danach die Küche hinter sich.

Der Couchtisch war beim Essen eher unpraktisch, aber fernsehen zur Pizza war schon wichtig, nicht weil es vielleicht etwas wichtiges zu sehen gegeben hätte, Paul hatte einfach das Gefühl nicht ganz alleine zu essen, wenn die Glotze lief. Er war kein schneller Esser und der Dokumentarfilm über die Wasserknappheit in Vegas verlangsamte seine Nahrungsaufnahme noch weiter. Zeitnot hatte er heute nicht zu befürchten, es lag ja außer der mit Farhad besprochenen Aktion nichts weiter an. Also ließ er sich auch beim Spülen so viel Zeit, dass er kurz vor fünfzehn Uhr, das Backblech und den Teller gesäubert und weggeräumt hatte.

Die Spannung stieg, ob es Farhad tatsächlich in die Wohnung von Sabine schaffen würde. Spannung ja, einerseits. Auf der anderen Seite kam, bei genauerem Nachdenken schon irgendwie Eifersucht auf. Paul verließ die Wohnung und betrat über die Tür, zwischen der Wohnungstür von Sabine und seiner, den Hof. Von dort konnte er schräg auf das Fenster der Blondine sehen. Er öffnete sein Zigarettenpäckchen, zog eine seiner Mentholzigaretten heraus und zündete sie an. Passieren würde sowieso nichts, dachte er, oder hoffte er beinahe. Aber würde er nicht hier stehen und warten, könnte er Farhad auch nicht mit seinem Versagen aufziehen. Also musste er abwarten.

Verdammt!

Paul hatte sich am Rauch verschluckt. Das gab es nicht, hatte er echt Farhads Gesicht im Fenster der blonden Nachbarin gesehen?

Er ging einen Schritt nach rechts, um besser sehen zu können. Ja, tatsächlich Farhad stand oberkörperfrei hinter dem Fenster und winkte Paul lachend zu. Er gestikulierte und gab Paul so zu verstehen, dass er sich auf die Mülltonne direkt unter dem Fenster stellen sollte. Paul schnickte die Zigarette auf den Boden und lief auf die Tonnen zu. Die Biotonne stand offen. Er wollte das Ding nie wirklich berühren also auch heute nicht. Die graue Restmülltonne daneben bot sich an und so stieg er langsam, in dem er sich mit der rechten Hand am Fensterbrett festkrallte und mit der linken auf der Tonne abstützte hinauf. Jetzt stand er so, dass er von unten über das Fensterbrett in das Zimmer sehen konnte. Aber die Köperhaltung, die er dabei einnehmen musste, war mehr als ungemütlich. Wenn er sich aufstellte, konnte er mit eingezogenem Bauch auch seitlich in das Zimmer sehen ohne selbst gesehen zu werden. Das war deutlich gemütlicher. Die Biotonne war bis zur Hälfte gefüllt. Bioabfall, dazwischen grüne Tüten, Hühnerteile, Eier und auch Dosen. Das war in diesem Haus nicht weiter außergewöhnlich. Sie stank zum Himmel.

Er bewegte seinen Kopf zur Seite und sah mit dem rechten Auge zuerst in das Zimmer. Unfassbar, Farhad stand halbnackt, nur mit Boxershorts bekleidet, vor einer ungewöhnlichen Liege. Die Nachbarin war nicht dabei und deshalb wurde Paul mutiger.

Ohne Deckung stellte er sich jetzt auf die Tonne. Farhad griff seine Klamotten, zog sich an und verließ das Zimmer, aber nicht ohne sich noch mal umzudrehen und Paul zuzuzwinkern. Mit offenem Mund stand der auf seiner Tonne. Der Kerl hatte es wirklich hinbekommen. Paul war in Gedanken und ärgerte sich, dass er wohl ein paar Minuten zu spät oder Farhad ein paar Minuten zu früh gekommen war.

Auf der anderen Seite war er sich beinahe sicher, dass er nicht alles hätte sehen wollen. In diesem Moment betrat Sabine den Raum. Sie griff nach einem Handtuch und schüttelte es aus und wirklich alles, nicht nur das Handtuch, wackelte. Ein Traum, Wahnsinn, diese Frau!

Sie wollte das Handtuch in den Wäschekorb werfen, traf aber nicht, stieg darüber weg und beugte sich beim Aufheben in Pauls Richtung. Ihre Brüste fielen dabei beinahe aus dem engen Shirt. Ohne Vorwarnung hob sie ihren Kopf und war im Begriff zum Fenster zu sehen. Geistesgegenwärtig ging er in Deckung, dabei drehte er seinen Körper um hundertachtzig Grad und presste seinen Rücken an die Hauswand. Das war gerade noch mal gut gegangen, eine Sekunde Später und …

Paul merkte, dass die Tonne unter ihm langsam nach vorne kippen wollte, deshalb presste er sich noch stärker an die Wand und versuchte, die Tonne mit den Füßen zu halten. Diese gab nun komplett nach und stürzte nach vorne. Er riss sein rechtes Bein zur Seite um die andere Tonne zu erreichen und merkte beinahe im selben Moment, dass diese Idee nicht die Beste war.

Im freien Fall ging es abwärts. Paul ärgerte sich beim Fallen darüber, dass er gleich mit den Schuhen im Bioabfall stehen würde, stand aber nicht, denn die stinkende Pampe gab einfach nach und im nächsten Moment schlug er auf. Mit voller Wucht schlug er mit seinem linken Hoden auf die Kante der Tonne. Weil sein linker Fuß noch nicht am Boden war, kippte er mit der Tonne nach links weg. Reflexartig schützte er mit seinen Armen den Kopf und schlug mit den Rippen auf die graue Tonne. Ein einziger, lauter Schrei und im nächsten Moment Stille, ihm blieb die Luft weg. Ihm traten Tränen in die Augen und er jammerte lautlos, unterbrochen nur von lautem gepresstem Ausatmen. So lag er eine gefühlte Ewigkeit zwischen den Tonnen, zwischen Dosen und aufgeplatzten Mülltüten.

»Was ist passiert, soll ich einen Arzt holen?«, Sabine hatte ihn angesprochen.

Er sah nach oben und durch den Tränenvorhang konnte er seine Nachbarin erkennen, die sich über ihn beugte und ihn ansprach:

»Um Gottes willen, was ist passiert? Geht es?«

Sie hatte ihr Handy schon in der Hand und wählte wohl gerade die Nummer der Notrufzentrale. Ein paar andere Nachbarn liefen zusammen, einer befreite Pauls Bein aus der Biotonne, ein anderer kam mit einem Sofakissen, hob den Kopf des Verunfallten vorsichtig an und packte ihm das Kissen darunter. Jede Bewegung schmerzte unerträglich, er konnte noch nicht sprechen und noch nicht frei atmen. Ihm war heiß, unerträglich heiß und der Schmerz war überall im Körper. Die ganze Zeit streichelte Sabine seinen Arm und redete auf ihn ein:

»Es ist alles gut, der Arzt kommt sofort ...!«

Zwei Sanitäter und eine Notärztin rannten die Stufen zum Hof hinunter und versorgten ihn so weit, dass sie ihn auf die Bahre legen und abtransportieren konnten. Im Rettungswagen hob ihn einer der beiden unter dem Rücken an, der andere zog ihm vorsichtig die Hose herunter.

Die Frage der Notärztin, »soll ihre Frau mitfahren?«, bekam er nur am Rande mit und sein, »Ahhhhh!«, beim Ausziehen der Hose musste sie wohl als ein, »Jahhh!«, verstanden haben. Die Ärztin verließ den Wagen kurz und kam wirklich mit der blonden Nachbarin zurück. Die Sanis bestiegen die Fahrerkabine und die Fahrt ins Krankenhaus begann. Jede Bodenwelle, jede Spurrille bereiteten unsägliche Schmerzen. So hatte er sich das immer gewünscht, mit runtergelassener Hose und zusammen mit zwei Frauen, eine davon die Nachbarin, in einem Krankenwagen. Peinlicher hätte es nicht sein können.

»Ich hebe ihn etwas an, würden sie ihrem Mann das Shirt hochziehen?«

Während die Medizinerin, seine Pobacken fasste und ihn leicht anhob, schob ihm seine Nachbarin das Shirt bis über die Brust. Danach begann das Abtasten der Rippen. Die Schmerzen waren bisher schon heftig gewesen, aber die Untersuchung verstärkten sie noch deutlich und Paul jammerte, bei jeder Berührung wie ein Säugling. Nach dem die Notärztin, den Oberkörper gecheckt hatte, tastete sie nun seine Hoden. Das kam einer Folter gleich, unerträgliche Schmerzen zuckten durch seinen ganzen Körper. Sabine hatte Mühe ihn auf der Bahre zu halten. Er jammerte nicht mal mehr, zog Grimassen, zuckte und zitterte am ganzen Körper. Nach dem die im wahrsten Sinne des Wortes »grobe« Untersuchung beendet war, packte die Ärztin jeweils einen Kühlbeutel unter und einen über den Hodensack. Paul verspürte zunächst nur Druck, keine Linderung, fand aber langsam seine Stimme wieder. Immer wieder schrie und weinte er bei jeder Bewegung, die vom Fahrzeug auf ihn übertragen wurde vor Schmerzen.

»Contusio testis ,würde ich diagnostizieren. Ein Bruch der Hoden oder der Rippen ist derzeit nicht feststellbar. Alles Weitere wird die Ultraschalluntersuchung in der Klinik zeigen.«

Die Spritze, die er in den Arm bekam, nötigte ihm keine Reaktion ab, denn sie fiel nicht weiter ins Gewicht. Angekommen in der Notfallstraße des Klinikums wurde er von der Trage auf ein Bett gehoben und im Flur liegen gelassen, dass Sabine die ganze Zeit seine Hand hielt, hätte er zu jedem anderen Anlass genossen. Die Schmerzen hatten durch das Eis, so weit nachgelassen, dass sie erträglich wurden. Die Notärztin sprach mit einem anderen Weißkittel und kam noch mal zu Paul zurück. Mit einem Lächeln und einem letzten Blick, auf seine immer noch freigelegten Hoden, verabschiedete sie sich und verließ die Notfallstraße.

»Sag mal, was war das, was hast du da gemacht?«, seine hübsche Nachbarin sah ihn, als sie diese Frage stellte, beinahe amüsiert an. Paul war trotz der Schmerzen, auf diese Frage vorbereitet und antwortete prompt:

»Ich habe mich in die Tonne gestellt, um Platz zu schaffen. Sie war ja wieder voll bis oben hin, dabei hab ich das Gleichgewicht verloren und es ging abwärts, na ja …«

»Ok ...!«, ein Lächeln konnte sich die Blondine nicht verkneifen.

»Aber es geht dir ja schon besser, da wird nichts kaputt sein, denke ich mal.«

»Wenn meine Stimme noch keine Oktave höher klingt, gehe ich davon aus, dass alles noch da ist, wo es hingehört.«

Sabine lachte ihn an, »ja, ich habe alles gesehen und es ist noch alles da. Vielleicht etwas farbenfroher als normal aber alles ist, wo es hingehört.«

Zu diesem Satz wollte ihm nun nichts mehr einfallen.

»Du hast ja echt Glück in letzter Zeit wie? Zuerst bekommst du von Peter im Hausgang ein paar verpasst und jetzt das.«

»Wie Peter hat mir ein paar verpasst? Wer ist Peter und vor allem, warum hat er mir ein paar äh verpasst?«

»Egal, wenn du dich nicht daran erinnerst, dann ist das vielleicht auch besser so!«

Ein Arzt trat an das Bett heran, stellte sich kurz vor und schob ihn in das nächste freie Untersuchungszimmer. Sabine blieb währenddessen im Flur sitzen. Die Schmerzen, die er gerade etwas vergessen hatte, waren beim Abtasten und bei der Ultraschalluntersuchung wieder voll da.

»Also junger Mann, da hatten wir noch mal Glück, es ist tatsächlich nichts gebrochen und ich bestätige die Vermutung der Kollegin. Sie haben sich eine Hodenprellung zugezogen. Die leichte Rippenprellung ist dagegen zu vernachlässigen. Wir werden sie bis morgen hierbehalten und dann dürfen sie auch wieder nachhause. Die betroffenen Stellen werden gekühlt und das Ganze mit einer Hodenbank entlastet.«

Der Arzt verabschiedete sich und Paul wurde von einem Pfleger auf Station gebracht. Dort angekommen, verabschiedete sich Sabine:

»Ich nehme mir ein Taxi, wir sehen uns dann morgen.«

»Danke Sabine, komm gut heim, ich melde mich, wenn ich hier raus bin!«, rief Paul ihr hinterher. Er hatte Glück, das ihm zugedachte Zweibettzimmer war noch nicht belegt, das Telefon hatte er nicht freischalten lassen und zu lesen hatte er logischerweise nichts dabei. Also knipste er am Nachttisch das Licht aus, drehte sich um und schlief, trotz der Schmerzen schnell ein.

»Hey, hey Paul!«

Paul schreckte hoch, und sah direkt in Farhads Gesicht. »Paul, was machst du für Sachen? Habe vorhin Sabine getroffen und sie hat mir gesagt, dass du hier oben bist und was passiert ist.«

»Ja das war nicht die beste Idee von mir euch beobachten zu wollen. Aber wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, hat schon was gebracht. Sabine hat mich ins Krankenhaus begleitet und war die ganze Zeit bei mir.«

»Ja dann bleib dran, da geht was! Wir müssen nur gucken, dass wir ihren Lover auch wirklich dauerhaft loswerden.«

Paul sah Farhad prüfend an, »und, was ist mit dir und Sabine?«, der lachte.

»Ach man vergiss es, das war nicht annähernd so, wie du denkst. Da war nichts, sprich sie am besten gar nicht darauf an und alles ist gut! «

»Ok, dann werde ich nicht mehr nachfragen Farhad, wenn du mir sagst, da wäre nichts gewesen, dann vertraue ich dir mal, wenn es auch ganz anders ausgesehen hat«, dabei zwinkerte er Farhad zu.

Farhad legte den Zeigefinger auf seine Lippen:

»Pscht … unwichtig. Mach, dass du hier wieder rauskommst und gib Gas! Ich mach mich wieder los.«

»Gute Nacht mein Freund, das vergesse ich dir nicht!«

»Gute Nacht!«

Farhad winkte ihm noch kurz zu und schloss die Tür hinter sich. Paul schlief sehr schnell wieder ein und hatte die schlimmsten Träume. Er träumte davon, im Hausgang zusammengeschlagen worden zu sein, er träumte von den heißesten Sexszenen in denen aber nicht er, sondern Farhad und Sabine die Hauptrollen spielten. Er lag in diesem Traum breitbeinig in einem Krankenhemd neben den beiden auf dem Bett und sein überdimensionales Gemächt lag auf einer riesigen Hodenbank. Sabine deutete auf ihn und lachte während sie sich dem Liebesspiel mit Farhad hingab. Hin und wieder tauchte auch dieser Peter auf. Anstatt aber auf die beiden Liebenden zu reagieren, bedrohte und beschimpfte er Paul, verschwand kurz aus dem Zimmer, kam zurück und begann von vorne. Real war gar kein Ausdruck, dieser Traum war grausam real und wiederholte sich immer und immer wieder. Er selbst konnte nicht reagieren, lag nur stumm und kopfschüttelnd, wie gelähmt da. Peter tauchte wieder auf und schrie ihn an:

»Halt bloß dein blödes Maul!«, und plötzlich konnte Paul reagieren. Er drückte seinen Oberkörper hoch und schrie Peter ins Gesicht:

»Deine Freundin treibt es mit Farhad, was willst du von mir!«

Schweißgebadet saß er auf seinem Krankenbett, einige junge Ärztinnen standen um ihn herum und direkt vor ihm tauchte das Gesicht des Arztes auf, der ihn gestern am frühen Abend untersucht hatte. Der zeigte seinen lächelnden Schülerinnen Pauls Verletzungen und reagierte sonst nicht. Danach erklärte er seinem Patienten freundlich, dass dieser nach dem Frühstück und der Visite des Stationsarztes entlassen werden würde. Beim Verlassen des Zimmers drehte er sich noch mal herum und sagte:

»Sagen sie Farhad er soll sich beeilen, ich habe jetzt Feierabend!«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.04.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /