Der Fluch
Es war wieder mal viel zu spät. Keiner hatte es bemerkt, aber ihm war es peinlich. Das hätte ihm einfach nicht passieren dürfen. Er schlich lautlos durch die Tür und stellte sich unbemerkt in die letzte Reihe. Eigentlich sollte er in den Bänken bei den anderen Kommunionkindern sitzen. Er hatte zum Glück den schäbigen alten dunklen Anzug an, der viel zu kurze Ärmel und schon drei Generationen überlebt hatte. So fiel er hoffentlich nicht besonders auf. Eben gerade erhoben sich alle und beteten das Vaterunser. Er war später dran, als er dachte. Das würde wieder Backpfeifen vom Pfarrer geben. Eine kleine Chance bestand, dass noch niemand seine Abwesenheit bemerkt hatte. Er gehörte nicht zu denen, die laut nach Aufmerksamkeit riefen, im Gegenteil. Er bemühte sich, möglichst unauffällig in der Masse zu verschwinden. Er konnte, wenn es nötig war, sich so in sich zurückziehen, dass er niemandem auffiel. Er war der mittlere von fünf Brüdern, das sechste Kind war seine jüngste Schwester. Mit einer Technik, die er sich angewöhnt hatte, war er für die anderen praktisch gar nicht da, selbst beim Essen nahm in niemand wahr. Diese Fähigkeit bewahrte ihn oft vor einer Bestrafung, die dafür seine Brüder abbekamen.
Jetzt wollte er diese Technik auch anwenden und sich unbemerkt durch die Kirchenbesucher hindurch zu schlängeln. Eigentlich hätte er auffallen müssen, schon wegen seiner Größe und der schäbigen Kleidung, die ihn von den anderen Kommunionkindern unterschied. Er war größer als die anderen, weil der Pfarrer ihn für ein Jahr zurückgestellt hatte. Der war der Meinung, Andi hätte sich nicht genügend am Kommunionsunterricht beteiligt und sein Verhalten wäre ungenügend.
Er hatte es geschafft, sich bis zur dritten Bankreihe durchzuschlängeln, als sich die Kinder erhoben und in einer Reihe zum Altar gingen. Shit, er konnte sich ihnen nicht mehr anschließen, denn nach den Kindern waren die Eltern an der Reihe und durch die konnte er nicht unbemerkt hindurch.
Nun war guter Rat teuer. War sein Fehlen schon bemerkt worden? Was sollte er jetzt tun?
Sein einziger Gedanke war Rückzug. Als die Orgel laut: „Gott wir loben dich - Gott wir preisen dich“ spielte, war er schon bei der schweren Kirchentür und Sekunden später draußen. Aufatmend nahm er ein paar kräftige Züge Frühlingsluft, dann stürmte er in Richtung Wiesenhang zu dem kleinen Wäldchen. Er hörte vom Dorf her die Glocken läuten. Wie mahnend schienen sie ihn zu rufen. Er lehnte sich schwer atmend an den Stamm eines riesigen Nussbaumes. Was hatte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2017
ISBN: 978-3-7438-2007-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet allen Kindern, denen es ähnlich geht und solchen, die sich über ein Kind in ähnlicher Situation Gedanken machen.