Martin Auer
Der Tätowierer
F: Dirk Schreiber, Sie sind praktisch sofort nach Ihrer Entlassung aus der Haftanstalt zur Eröffnung Ihrer ersten Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum geflogen.
A: Ja, so war's. Am Gefängnistor hat eine Limousine gewartet und mich zum Flughafen gebracht.
F: Was war das für ein Gefühl? Einen so krassen Gegensatz erlebt kaum jemand, der gerade aus dem Knast entlassen wird, und das nach Verbüßung einer zehnjährigen Haftstrafe.
A: Ich weiß das nicht. Ich bin nur ein einziges Mal aus dem Knast entlassen worden. Es war auch nicht so ein starker Gegensatz. Ich hatte ja schon die ganzen Monate vorher die Ausstellung vorbereitet, viel gemalt und gezeichnet, und dann das Hängen der Bilder – das musste ich ja virtuell machen, am Computer, da ich noch nicht vor Ort sein konnte. So war dann die Reise zur Ausstellung nur der letzte logische Schritt, also nicht die große Befreiung, sondern einfach die nächste Aufgabe, die sich mir gestellt hat.
F: In der Ausstellung waren nur gemalte Bilder zu sehen? Keine Tätowierungen?
A: Es waren auch einige Tonskulpturen dabei. Sonst nur Acrylmalerei und Kohlezeichnungen. Ganz klassisch.
F: Und keine Tätowierungen?
A: Keine Tätowierungen.
F: Haben Sie in der Haft auch anderes getan als gemalt und gezeichnet? Ich meine, haben Sie über die Taten nachgedacht, die Sie in den Knast gebracht haben?
A: Sicherlich. Vor allem am Anfang, in den ersten Jahren.
F: Fanden Sie das Urteil gerecht?
A: Ob es gerecht war, kann ich bis heute nicht sagen. Aus einem gewissen Blickwinkel heraus war es sicherlich verständlich. Ich habe verstanden, dass die Richter nicht anders urteilen konnten, ja. Ich bin wegen Freiheitsberaubung und schwerer Körperverletzung in 28 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, wovon man mir fünf Jahre erlassen hat wegen guter Führung. Objektiv gesehen war es das wohl, Freiheitsberaubung und so weiter. Objektiv gesehen waren das diese Delikte. Aber subjektiv, muss ich sagen, subjektiv habe ich das getan, was jeder Künstler tut: Ich bin meiner inneren Stimme gefolgt. Ich habe getan, was ich tun musste.
F: Sie haben Menschen gegen ihren Willen tätowiert.
A: Ja.
F: Sie haben sie überfallen, betäubt, in ein Versteck verschleppt und sie dort gefangen gehalten, bis die Tätowierung fertig war.
A: Ja.
F: Das Gericht hat diese Taten als Verbrechen angesehen, nicht als Kunst.
A: Ja. Das war in der Kunstgeschichte schon oft so. Künstler sind wegen Verstoß gegen die guten Sitten verurteilt worden, wegen Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung, Wehrkraftzersetzung, wegen konterrevolutionärer Umtriebe... Man hat Künstler auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ins KZ gesteckt, in die Irrenanstalt...
F: Wollen Sie damit sagen, dass man Sie wegen Ihrer Gesinnung verurteilt hat?
A: Ich will damit sagen, wenn man als Künstler neue Wege geht, muss man damit rechnen, verfolgt zu werden.
F: Leugnen Sie, dass Sie Menschen großen Schmerz zugefügt haben?
A: Natürlich nicht. Schmerz zufügen liegt in der Natur des Tätowierens. Die Tätowierung war immer ein Zeichen: Seht her, ich habe Schmerz ertragen, ich kann das aushalten. Früher, als man noch nicht so hygienisch gearbeitet hat wie heute, hat sie natürlich auch bedeutet: Seht her, ich habe eine gute Konstitution, ein gutes Immunsystem, ich habe kein Wundfieber bekommen, keine Tetanusinfektion, was weiß ich. Unbewusst natürlich. Und das ist noch heute so. Man könnte ja eine Tätowierung auch unter lokaler Betäubung machen. Aber das wäre eine Farce. Und kein Mensch verlangt sowas. Die Menschen sind immer zu mir gekommen, um sich Schmerz zufügen zu lassen.
F: Aber doch freiwillig.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5398-3
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