Martin Auer
Flusskrebse
Band 1
Umschlagbild: Sascha Krohne
Die Fertigstellung der weiteren Bände soll durch Crowdfunding ermöglicht werden. Mehr dazu auf:
www.martinauer.net/flusskrebse
Er war der letzte Bewohner des Hauses.
Über die Jahre war das Haus leer geworden und es war ihm nicht aufgefallen. Hin und wieder, wenn er an einer verwaisten Wohnungstür vorüberging, fielen ihm die Leute ein, die dahinter einmal gelebt hatten, und es ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass da ja wohl bald wieder jemand einziehen würde. Und er war sich nicht bewusst, dass ihm dieser Gedanke schon seit langem zur Gewohnheit geworden war.
Genau so hatte er sich an abgestoßene Ecken im Stiegenhaus gewöhnt, an locker gewordene Geländer, an Flächen, wo die Farbe abgeblättert war, an eine zerbrochene Scheibe, ein morsches Fensterbrett. All diese Dinge merkte er nicht mehr.
Eines Tages fischte er einen Brief aus dem zerbeulten Hausbriefkasten neben der Kellertüre. Die Hausverwaltung teilte mit, dass das Haus generalsaniert werden sollte. Er las den Brief, während er die Treppe hinaufstieg.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass schon lange niemand mehr in das Haus eingezogen war. Auf allen Stockwerken standen Wohnungen leer, verkündeten Türschilder Namen, die längst nicht mehr galten, oder waren abmontiert worden.
Hier im Parterre hatten die alten Schwestern Dapeci gewohnt. Erst war die jüngere, dann die ältere gestorben. Er sah die Ältere noch vor sich, eine kleine magere Frau mit weißen Locken, wie sie in ihrern blaugemusterten Kittelschürze vorsichtig von ihrer Wohnung zum Gangklo trippelte.
Die ständig freundlich lächelnde Frau Schuberth, die ihre Heizölkanister in einem alten Kinderwagen transportierte, hatte sich von ihm verabschiedet, als sie auszog. Jetzt, wo ihr Mann nicht mehr lebte, würde sie in eine kleinere Wohnung ziehen. Er hatte gar nicht gewusst, dass der große, schweigsame, fast gänzlich blinde Mann, den er manchmal auf der Stiege traf, zu ihr gehörte. Er hatte die beiden nie zusammen gesehen, sie waren aus verschiedenen Türen gekommen und er hatte sie für bloße Nachbarn gehalten. Frau Schuberth hatte ihm: „recht, recht viel Glück“ und: „alles, alles Gute“ gewünscht und ihm lange die Hände geschüttelt.
Im ersten Stock, hinter der Tür mit dem Schild einer Baumeisterfirma, hatte die sehr attraktive Tochter des Baumeisters mit ihrem verzogenen kleinen Sohn gewohnt.
Im zweiten Stock hatte er eine türkische Familie gekannt. Eigentlich nur die Kinder, die in dem engen asphaltierten Hof bei den Mistkübeln spielten. Als sie klein waren, hatte er sie immer in die Höhe geworfen und durch die Luft gewirbelt, wenn er sein Fahrrad in dem kleinen Schuppen im Hof abgestellt hatte. Der Schuppen war noch früher einmal die Waschküche gewesen.
Eine andere türkische Familie hatte im dritten Stock gewohnt, auf demselben Gang wie er. Dem Mann hatte er einmal geholfen ein paar Formulare auszufüllen und die Frau hatte gelegentlich ihre jüngste Tochter zu ihm geschickt, um ein bisschen Geld auszuborgen. Meistens hatten sie das Geld zurückgezahlt. Mit Erstaunen hatte er gesehen, wie das unscheinbare, etwas dickliche Mädchen in wenigen Monaten sich in eine hübsche junge Frau verwandelte. Dann hatte sie geheiratet. Herr Osman, der Vater, hatte Autos repariert. Erst auf der Straße, vor dem Haus, dann hatte er sich irgendwo eine kleine Werkstatt eingerichtet. Gelegentlich traf er ihn noch auf der Straße.
Erleichtert war er gewesen, als die burgenländische Familie auszog, die am anderen Ende des Ganges auf seinem Stockwerk gewohnt hatte. Mindestens einmal in der Woche hatte ihr hysterisches Streiten und Kreischen das halbe Haus aufgeweckt. Der Mann hatte jahrelang gesoffen. „Da, schau dir dein’ Papa an, schau dir dein’ Papa an!“ hatte die Frau gekeift und den dreijährigen Sohn am Arm hinter sich hergeschleift, um ihm den kraftlos auf den Stiegen liegen gebliebenen Mann zu zeigen, der nur hilflos mit den Augen rollte. Dann wieder einmal hatte sie mitten in der Nacht an seine Tür gehämmert: „Hilfe, er bringt mi um!“ und er hatte dem Betrunkenen seine Nachtwächterpistole, mit der er herumfuchtelte, aus der Hand reißen müssen. Später war der Mann trocken geworden, aber an dem nächtlichen Gekeife hatte das nichts geändert. Der kleine Bub war neurotisch geworden, schwer verhaltensgestört. Einmal hatte er die Mutter aus der Wohnung gesperrt. Eine Stunde oder länger lachte er hinter dem Türgitter, während die Mutter an den Gitterstäben rüttelte und immer nur „Lass mi eine, lass mi eine, lass mi jetzt eine!“ kreischte.
Zum ersten Mal rechnete er nach, wie lange er hier eigentlich schon lebte. Waren es zwanzig Jahre oder mehr? Er suchte den Mietvertrag heraus, um das Datum festzustellen, denn er merkte sich keine Jahreszahlen. Es waren fast dreißig Jahre.
In der ersten Hälfte seines bisherigen Lebens hatte er die Wohnungen sehr oft gewechselt. Mit den Eltern hatte er im 4., im 1., im 16. und im 10. Bezirk gelebt. Seine erste eigene Wohnung hatte er im 2. Bezirk bezogen, bald nach der Matura. Mit seiner Frau und dem Kind hatte er im 13. und später im 4. Bezirk gelebt. Nach der Trennung dann im 9. Bezirk in der Wohnung einer Bekannten und danch im 7. in einer Wohngemeinschaft. Als die sich aufgelöst hatte, war er in den 5. Bezirk zu seiner Freundin gezogen, und als die ihn verlassen hatte, in den 10. in die Wohnung eines Freundes, die der gerade nicht brauchte. Dann hatte er die Wohnung im 12. gefunden. Zimmer, Küche und Kabinett im obersten Stockwerk, das Klosett am Gang, mit den Nachbarn zu teilen. Freunde halfen ihm, die Wohnung auszumalen. „Das Kabinett muss einmal eine eigene Wohnung gewesen sein“, sagte er zu ihnen. „Die Tür zur Küche ist eigentlich eine Wohnungstüre und der Vorraum hat denselben Kunststeinboden wie der Gang, seht ihr? Unglaublich, wie die Menschen einmal gehaust haben.“
Wie lange hatte er mit der Dusche in der Küche, dem Klosett am Gang gehaust? Erst spät hatte er die Nachbarwohnung dazugemietet, noch einmal Zimmer und Küche. Er hatte die Wohnungstür versetzen lassen, so dass das Klo jetzt innerhalb der Wohnung war, und ein Badezimmer einrichten lassen. Den Schiffboden aus Lärchenholz hatte er selber verlegt, deswegen knarrte der so. Aber zuerst hatte er die Nachbarwohnung ein Jahr lang leer stehen lassen, bis der Heizölgeruch verflogen war und die Erinnerung an all die Nachbarn, die da gehaust hatten. Erst hatte da ein ernsthafter junger Mann gewohnt, der jeden Tag ins Büro ging, dann kurzfristig dessen pdeantische Schwester. Dann war ein Student eingezogen, der an Samstagen ziemlich lange Partys feierte. Später trat er einer Urchristengemeinde bei. Ein Jahr lang hatte ein rumänisches Ehepaar mit zwei Kindern in dem einen Raum gewohnt. Durch die Wand hatte er sie am Abend immer lachen gehört, hatte an ihrem fröhlichen, liebevollen Familienleben teilgenommen. Die letzte Nachbarin war eine nicht mehr ganz junge, oft betrunkene Frau gewesen. Manchmal klopften Männer an ihre Türe, die sie einließ oder auch nicht. Wenn sie sie nicht einließ, klopfte sie bisweilen auch an seine Türe. Einmal hatte sie ihn zu einem Kaffee eingeladen und ihm Verworrenes aus ihrem Leben erzählt. Als er verständnisvoll nickte und etwas Mitfühlendes murmelte, saß sie schon auf seinem Schoß und umarmte ihn tränenreich. Danach war er ihr, so gut es ging, aus dem Weg gegangen.
Gelegentlich hatten Frauen seine Wohnung geteilt. Doch das waren immer nur zeitweilige Übergangslösungen gewesen. Er hatte sich daran gewöhnt, alleine zu leben. Seine Freundin sah er zweimal, dreimal die Woche. Wenn sie zu ihm kam, kochte er für sie, wenn er zu ihr kam, kochte sie für ihn. Oder sie gingen eben irgendwohin essen.
Der Hausverwalter, seit einiger Zeit auch Besitzer des Hauses, kam selber vorbei, um mit ihm zu sprechen. Es war der Sohn des alten Hausverwalters, mit dem er damals den Mietvertrag geschlossen hatte. Der hatte ihm für die zweite Wohnung noch eine illegale Ablöse abgenommen, offiziell für ein paar Möbel, die da noch herumstanden. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Geld einzuklagen, bevor die Verjährungsfrist ablief, aber dann hatte er den Zeitpunkt verpasst. Die Fotos der wertlosen Möbel lagen noch immer in einer Mappe auf dem selbstgetischlerten Schreibtisch, so wie vieles, was er demnächst einmal zu erledigen sich vorgenommen hatte. Der junge Immobilienmakler, elegant im kurzen Mäntelchen, die Haare gegelt, erklärte ihm sein Vorhaben: statt des Schuppens würde eine Garage in den Hof kommen, das jetzige Haustor würde zur Garageneinfahrt, eine neue Haustür würde daneben durchgebrochen werden, Wohnungen würden zusammengelegt, das Dach abgetragen, ein Stockwerk aufgesetzt werden, ein Lift würde eingebaut und Balkone vor die Fenster gesetzt werden. Der Umbau würde schon so eineinhalb bis zwei Jahre dauern, und deshalb mache er ihm das Angebot, ihm bei der Suche nach einer neuen Wohnung behilflich zu sein und auch einen Zuschuss zu den Kosten des Umzugs zu geben. „Was meinen Sie, Herr Mautner?“
Er meinte, dass er sich alles gerade so eingerichtet hatte, wie wie er es mochte, und dass er die Zeit des Umbaus schon irgendwie überstehen würde. Einen Lift würde er sich schon lange wünschen und er würde sich gern schon einmal einen Platz in der Garage reservieren, denn mit den Parkplätzen würde es in der Gegend immer schlimmer.
Die übrigen noch verbliebenen Mieter nahmen das Angebot der Hausverwaltung an. Als letzte zog die Hausbesorgerfamilie aus. Der Umbau begann etwas zaghaft. In einzelnen Wohnungen wurden Zwischenwände herausgerissen oder Türen durchgebrochen. Dann kamen die Arbeiten wieder zum Erliegen. Er schenkte dem keine große Beachtung. Seine Freundin bestand darauf, dass sie sich bei ihr treffen sollten. Sie wollte nicht in einem Geisterhaus übernachten. Ob er das nicht unheimlich finde, die offen stehenden Wohnungstüren, die den Blick auf herausgerissene Böden und herumliegenden Bauschutt freigaben? Ach was, meinte er, über kurz oder lang würde der Baulärm beginnen, jetzt sei er froh dass er noch seine Ruhe habe. Er schrieb der Hausverwaltung, dass bei den Bauarbeiten das Türschloss am Haustor beschädigt worden sei und sich nicht mehr versperren lasse.
Ein Brief informierte ihn, dass das Haus den Besitzer gewechselt habe und die Sanierungsarbeiten demnächst fortgesetzt würden. Dann geschah wieder nichts. Vor den Türen, die noch verschlossen waren, stapelten sich die Werbeprospekte. Gelegentlich wechselte er selber im Stiegenhaus eine ausgebrannte Glühbirne aus. Es schien ihm weniger aufwendig, die Leiter zwei Stockwerke hinunter und wieder hinauf zu tragen, als die Telefonnummer der neuen Hausverwaltung herauszusuchen und sich zu beschweren.
Seine Freundin äußerte den Verdacht, die neuen Besitzer könnten das Haus absichtlich verfallen lassen, um die Genehmigung zum Abriss zu bekommen. Er nahm sich vor, Erkundigungen einzuziehen. Seine Gedanken streiften dieses Vorhaben immer nur dann, wenn er die Treppe hochstieg. Sobald er in seinem Bibliothekszimmer vor dem PC saß, beschäftigten ihn andere Dinge. Doch an einem schwülen Spätsommertag, als er von der Arbeit nach Hause kam, ergriff ihn eine müßige Neugier und anstatt an der klaffenden Türöffnung im Hochparterre vorbeizugehen, ging er über die Schwelle. Mit nostalgischer Rührung sah er an der Wand einer ehemaligen Küche die blauweißen Kacheln, die durchaus aus der Zeit vor dem letzten Weltkrieg, stammen konnten, allerhöchstens aus den Jahren kurz danach. Eine bräunliche Fettschicht auf den Kacheln verriet die Stelle, vor der der Herd gestanden war. Eine gusseiserne Badewanne mit Löwenfüßen stand noch da. In der Küche also hatte der blinde Herr Schuberth gebadet. Sonst war nicht viel zu entdecken. Auch in den anderen Wohnungen nicht, in die er, da er nun einmal dabei war, hineinschaute. Da und dort abenteuerliche Installationen, uralte Boiler, an der Wand verlegte Elektrokabel. Farbige Markierungen auf einem Holzboden, deren Bedeutung er sich nicht erklären konnte Hoch über einer Tür ein kitschiger Poster von zwei Frauen, die einander küssten.
Ein Geruch nach Essen in einer der Wohnungen im zweiten Stock irritierte ihn. Er zögerte, doch dann ging er dem Geruch nach. Im letzten Zimmer saß ein junger Mann auf ein paar Decken, eine Mahlzeit aus Hühnerflügeln und Pommes Frites vor sich auf einem aufgerissenen Papiersackerl. In der linken Hand hielt er eine Zeitung. Neben den Pommes Frites lag ein kleines gelbes Buch, unschwer als Langenscheidt-Wörterbuch zu erkennen. Trotz der Hitze trug der junge Mann eine Wollmütze und einen Pullover. Seine Beine waren in eine Decke gehüllt. Seine Hautfarbe war schwarz.
„Guten Tag?“
Der letzte Mieter sagte es zweifelnd, fragend.
„Guten Tag“, antwortete der Eindringling. „Bitte Entschuldigung, bitte!“
„Sprechen Sie Deutsch?“
„Wenig Deutsch, bitte. Ich lerne.“
Der letzte Mieter trat ein wenig auf den Eindringling zu und schaute mit gerunzelter Stirn auf das Wörterbuch.
„Alors vous parlez Francais?“
„Oui.“
„Mais qu’est que vous faites ici?“ Was machen Sie hier?
„Ich bin Flüchtling“, sagte der junge Mann auf Französisch. „Ich habe kein Geld. Ich will hier nur ausruhen, weil ich ein bisschen krank bin. Ich habe Fieber. Bitte, ich will nichts Böses tun. Das Tor war offen, darum bin ich hereingekommen.“
„Ja, aber... Warum sind Sie nicht in – im Flüchtlingslager? Oder in einem Heim? Es gibt doch Heime für Asylwerber, nicht? Haben Sie um Asyl angesucht? Haben Sie Papiere?“
Der junge Mann kramte eine weiße Karte aus seinem Rucksack und hielt sie ihm hin. „Ich habe Asyl beantragt. Ich war im Flüchtlingslager. Dann bin ich in eine Pension geschickt worden in einem Dorf. Aber ich konnte dort nicht bleiben. Ich konnte dort nichts machen. Ich wollte Deutsch lernen, mich weiterbilden in meinem Beruf, eine Arbeit finden. Aber dort war nichts, es gab keine Möglichkeit etwas zu lernen. Darum bin ich nach Wien gegangen. Dort unten habe ich ein bisschen Geld bekommen, aber hier nicht. Um Geld zu bekommen, hätte ich dort bleiben müssen, das sind die Vorschriften, aber ich habe es nicht ertragen. Mein Kopf ist ganz leer geworden ohne Beschäftigung, ohne etwas zu tun.“
„Aber wie kommen sie gerade hierher, in dieses Haus?“
„Ich habe einen Freund, der Werbung austrägt. Er hat mir gesagt, dass dieses Haus leersteht.“
„Ach ja?“ sagte der letzte Mieter. Er starrte den jungen Mann ratlos an.
Der junge Mann machte Anstalten aufzustehen. „Bitte, ich werde jetzt gehen. Ich werde woanders hingehen. Ich werde Sie hier nicht stören.“
„Ja, sehen Sie, das Haus steht nämlich nicht leer“, sagte der Mieter entschuldigend. „Ich wohne hier noch.“ Sobald er das gesagt hatte, ging ihm durch den Kopf, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war zu erzählen, dass er hier ganz alleine war. Gleich darauf empfand er ein leichtes Schamgefühl. Er wollte sich nicht als einer von denen sehen, die in jedem Fremden einen potentiellen Verbrecher vermuteten. Aber war es nicht einfach vernünftig, Vorsicht walten zu lassen?
Der junge Mann hatte sich aus seiner Decke herausgeschält. Er hockte da und versuchte, aus der aufgerissenen Papiertüte wieder ein brauchbares Päckchen für sein Essen zu machen.
Der Mieter hatte das Gefühl, etwas gut machen zu müssen: „Nein, nein, wenn Sie krank sind... Haben Sie überhaupt Medikamente?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf: „Nein, aber das macht nichts. Machen Sie sich keine Sorgen!“
„Ich kann Ihnen... Warten Sie, ich bringe Ihnen ein paar Aspirin. Warten Sie auf mich, ja? Ich bin gleich wieder da.“ Er hastete die Stufen hinauf, sperrte auf, stellte seine Aktentasche ab und ging ins Bad, nach Aspirin suchen. Als er sie gefunden hatte, füllte er in der Küche ein Glas mit Wasser. Er steckte die Tabletten in die Hosentasche, trug das Glas hinaus, stellte es vor der Tür auf den Boden und sperrte ab. Dann ging er mit dem Glas hinunter. „Es sind welche mit Vitamin C“, rief er schon in dem ehemaligen Vorraum, „man muss sie in Wasser auflösen.“
Der Fremde war fort.
„Hallo?“ rief der Mieter. Er ging ins Treppenhaus und rief wieder: „Hallo? Monsieur?“ Er bekam keine Antwort.
Zurück in seiner Wohnung machte er sich Tee und setzte sich vor den Computer. Er öffnete eine Datei, blätterte darin herum, suchte den Punkt, an dem er weiterarbeiten wollte. Mehr als einmal merkte er, dass seine Augen über die Zeilen glitten, ohne dass er den Inhalt erfasste. Stattdessen spielte er im Geist immer wieder das Erlebnis in der verlassenen Wohnung durch. Der Flüchtling war vor ihm geflohen. Er hatte dem jungen Mann Hilfe angeboten, doch der wollte sie nicht annehmen, Er hatte ihm nicht getraut. Hatte er etwas falsch gemacht? Aber was hätte er tun sollen? Er schüttelte ein leises und vollkommen unbegründetes Schuldgefühl mit einem Schulterzucken ab. Er hatte schließlich nicht ein kleines Kind in die kalte Winternacht hinausgestoßen. Er zwang sich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Später, nachdem er sich Abendessen gekocht hatte, rief er seine Freundin an. Er legte das Handy neben seinen Teller und schaltete den Lautsprecher ein. So konnte er sich mit ihr utnerhalten, während er aß. Er fragte sie immer zuerst nach ihrem Tag, bevor er von seinem erzählte. „Und, was gibt’s Neues bei dir?“ fragte sie schließlich und er berichtete ihr von seiner Begegnung. „Du solltest wirklich schauen, dass ein Schloss an die Tür kommt“, meinte sie. „Es können ja noch ganz andere Typen da reinkommen.“
„Weißt du, wie oft ich schon die Hausverwaltung angerufen habe!“ sagte er, und gestand sich ein, dass er es genau zweimal getan hatte. „Ich sollte vielleicht selber einen Schlosser kommen lassen. Aber der darf das wahrscheinlich gar nicht machen ohne Auftrag von der Hausverwaltung.“
Als er am Morgen zur Arbeit ging, schaute er noch einmal in die Wohnung im zweiten Stock hinein. Der junge Mann lag in seine Decken gewickelt auf dem Holzboden und schlief. Die Wollmütze war ihm vom Kopf gerutscht und hatte seine Dreadlocks freigegeben, die nach allen Richtungen abstanden. Vorsichtig trat der Mieter den Rückzug an, um ihn nicht zu wecken.
Er fuhr mit dem Fahrrad ins Büro. Mit dem Auto zu fahren war sinnlos und die U-Bahn würde heiß und stickig sein. Während er sich durch den Verkehr schlängelte, bedrängten ihn widersprüchliche Gefühle. Er war erleichtert, dass er nun doch nicht einen kranken Flüchtling aus dem Haus vertrieben hatte. Gleichzeitig fühlte er Unsicherheit. Der Fremde wusste nun, dass da im Haus noch eine bewohnte Wohnung war. Die Tür war nicht sehr sicher. Und wo hatte der Fremde sich versteckt gehabt, als er nach ihm sehen wollte?
Als er vor dem Büro sein Fahrrad absperren wollte, griff er in die Hosentasche nach dem Schlüssel. Er hatte noch immer die Tabletten bei sich. Die hätte er dem jungen Mann doch hinlegen können. Dann hätte der sie beim Aufwachen gefunden. Vielleicht eine zu theatralische Geste? Aber warum eigentlich? Der junge Mann hatte Fieber.
Als er am späten Nachmittag nach Hause kam und in die Wohnung im zweiten Stock schaute, war der Fremde nicht da. Der Mieter legte die Tabletten auf ein Fensterbrett.
Zwei Stunden später läutete es an seiner Tür. „Entschuldigen Sie bitte, falls ich Sie stören sollte. Ich wollte mich für Ihre Freundlichkeit sehr herzlich bedanken!“ Der Fremde legte die rechte Hand auf sein Herz und neigte den Kopf.
„Das ist doch kein Problem. Kommen Sie herein.“
Der Fremde wehrte ab: „Nein, nein. Ich muss mich entschuldigen. Ich war misstrauisch, ich habe gedacht, Sie wollen mir nicht wirklich Tabletten bringen, ich habe gedacht, Sie telefonieren nach der Polizei. Ich bin auf die Straße gegangen, um die Ecke, und habe gewartet. Als ich gesehen habe, dass keine Polizei kommt, bin ich zurückgekommen. Heute habe ich die Tabletten gefunden und ich möchte Ihnen nur danke sagen..“
Der Mieter bestand auf seiner Einladung. Der Fremde wehrte weiter ab. Der Mieter bestand energischer: „Ich bitte Sie, kommen Sie. Trinken Sie eine Tasse Tee!“
„Nein, vielen Dank, aber ich gehe jetzt.“
Der junge Mann zog sich zur Treppe zurück. „Nochmals vielen Dank, danke schön!“ Er verbeugte sich, dann drehte er hastig um und lief hinunter.
Der Mieter schloss die Tür. Er überlegte, ob er nicht mit zwei Tassen Tee hinuntergehen sollte, aber er beschloss, den jungen Mann, der recht angespannt zu sein schien, in Ruhe zu lassen. Er setzte sich an den PC und suchte im Internet nach einem Programm, mit dem er Landkarten nachzeichnen konnte. Solche Nebenarbeiten nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Einerseits war es schon unglaublich, was man heute alles selber machen konnte, wenn man bereit war, sich in unterschiedlichste Programme einzuarbeiten. Andererseits wurde es aber auch immer mehr gefordert. Manche Verlage erwarteten, dass man ihnen die Bücher mit fertigem Layout lieferte.
Draußen wurde es langsam finster und er wurde hungrig, fand aber nichts in seinem Tiefkühlschrank, was er sich kochen wollte. Er zog Sandalen an, um sich von der Pizzeria unten am Eck eine Cardinale und eine Flasche Wein zu holen. Als er mit seinen Einkäufen wieder die Treppe hinaufstieg, fand er den Fremden mit seinem Langenscheidt und einer Gratiszeitung unter dem Ganglicht im zweiten Stock stehen.
„Sie studieren?“ fragte er, um irgend etwas zu sagen.
Der junge Mann schrak zusammen. Er hatte ihn wohl nicht kommen gehört.
„Es gibt kein Licht, da drinnen“, sagte er, nachdem er sich gefasst hatte. In dem Moment ging das automatische Licht aus. Der junge Mann hob wie gewohnheitsmäßig die Hand zu dem Lichtschalter neben seiner Schulter, dann zögerte er und sah den Mieter an.
Der glaubte das Zögern zu verstehen: „Schalten Sie ruhig ein. Den Strom muss der Hausbesitzer zahlen, nicht ich. Aber können Sie so studieren, wenn Sie alle drei Minuten das Licht wieder einschalten müssen?“
„Meistens schalte ich nicht gleich wieder ein. Ich gehe erst in Gedanken durch, was ich gelesen habe. In der Dunkelheit kann ich mich besser konzentrieren.“
„Mhm.“ Der Mieter nickte, wie um diese Methode gutzuheißen. „So ähnlich habe ich Französisch gelernt. Vor vielen Jahren. Mit der Zeitung und dem Wörterbuch. Ich war in Frankreich und habe auch nicht viel Geld gehabt. Aber – na ja – ich war bloß in den Ferien.“
„Sie sprechen sehr gut Französisch!“
„Danke. Mögen Sie Pizza? Ich habe eine Pizza gekauft, aber sie ist mir zu viel. Man kann da keine kleine Pizza bekommen.“ Der Mieter machte die Schachtel auf. Der Pizzaiolo hatte die Pizza in sechs appetitliche Kreissegmente geschnitten.
„Nein danke, ich bin nicht hungrig!“
„Ach kommen Sie, mir ist das zu viel, ich kann das wirklich nicht aufessen!“
Der Fremde konnte dem Anblick des Essens nicht lange Widerstand leisten. Er löste vorsichtig eines der Stücke heraus, ohne die anderen zu berühren. Der Mieter legte die Schachtel auf das Fensterbrett und nahm sich auch ein Stück.
„Ihr Französisch ist auch sehr gut. Ist es Ihre Muttersprache oder haben Sie es in der Schule gelernt?“
„In der Schule. Meine Muttersprache ist Kinyarwanda. Ruandisch.“
„Sie sind Ruander? Habe ich auf Ihrer Karte nicht etwas von Kongo gelesen?“
„Ja, die Gegend, wo ich herkomme, gehört zur Demokratischen Republik Kongo. Unsere Vorfahren sind aus Ruanda gekommen, vor mehr als hundert Jahren. Aber wir nennen uns BanyaMulenge .“
„Demokratische Republik Kongo, ist das Zaire?“
„Früher war es Zaire. Unter Mobutu. Seit Kabila heißt es wieder Demokratische Republik Kongo.“
„Aber es gibt noch ein anderes Kongo?“
„Ja. Die Republik Kongo. Das war früher Französisch-Kongo.“
„Und Ihr Land war früher Belgisch-Kongo?“
„Genau.“
„Ich erinnere mich noch an Berichte über die Kongo-Wirren. Dunkel, ich war ein kleiner Bub damals. Lumumba und Kasavubu. Ich habe die Namen im Radio gehört. Lumumba wurde ermordet, nicht wahr?“
„Ja. Aber da war nich noch nicht geboren. Ich bin 1984 geboren.“
„Und seit wann sind Sie hier?“
„Seit zwei Jahren.“
„Mussten Sie fliehen?“
„Ja.“
„Und haben Sie Aussicht, dass Sie anerkannt werden, als Flüchtling?“
Der junge Mann machte große Augen und hob die Schultern: „Ich weiß nicht. Ich bin schon einmal abgelehnt worden. Jetzt warte ich auf die Berufung.“
„Warum mussten Sie denn fliehen? Welche Gründe haben Sie angegeben?“
Der Fremde schüttelte den Kopf: „Es gibt tausend Gründe. Da, wo ich herkomme, ist niemand sicher, niemand. Alle hätten Grund zu fliehen. Es wird zuviel gekämpft, es gibt zu viele Armeen, zu viele Milizen, zu viele Banden. Man weiß nie, wer gegen wen kämpft. Wenn man einer Miliztruppe begegnet, heißt es: ‚Bist du Hutu oder Tutsi oder Bembe oder was?’ und wenn du zum falschen Stamm gehörst, kann es sein, dass sie dich töten. Aber wenn du zum selben Stamm gehörst wie sie, heißt es: ‚Warum kämpfst du nicht mit uns? Bist du ein Verräter?’ und wenn du nicht mit ihnen gehen willst, kann es erst recht sein, dass sie dich töten.“
„Aber das sollte doch unseren Behörden bekannt sein?“
„Sie verlangen für alles Beweise. Ob ich wirklich aus Kivu bin und nicht vielleicht aus einer anderen Provinz, wo nicht gekämpft wird. Ob ich nicht Verwandte in Kinshasa habe, zu denen ich hätte gehen können. Ob ich nicht vielleicht von der kongolesischen Armee desertiert bin, denn Deserteure werden nicht anerkannt als Flüchtlinge. Und so weiter.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Auer
Bildmaterialien: Umschlagbild: Sascha Krohne, Foto des Autors: Martin Auer
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2013
ISBN: 978-3-7309-5651-9
Alle Rechte vorbehalten