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Leseprobe

© 2015 Vivian Tan Ai Hua

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Prolog

Es war ein sonniger Tag und ein leichter Wind trug das Kirchengeläut in den Garten, der gleich an den Kirchhof mit den schiefen, verwitterten Grabsteinen angrenzte und in dem ein kleines, leicht pummeliges Mädchen summend in einer Sandkiste saß und Sandkuchen formte.

Die leichte Brise ließ kleine schwarze Fühler wippen, die an einem Plastikhaarreif befestigt waren. Ein schwarzgelb gestreiftes Kleid und schiefe Flügelchen, die mit Elastikband über den Schultern befestigt waren, komplettierten das Auftreten der Kleinen. Sie spielte allein und gedankenverloren. Hin und wieder sprach sie im Spiel mit sich, der Welt im Allgemeinen und imaginären Spielgefährten. Vielleicht bemerkte sie den Jungen deshalb erst, als er schon einen Schatten auf sie warf. Sie blickte auf und blinzelte gegen die Sonne, um ihn erkennen zu können. Er war ebenso pummelig wie sie und hatte mit einem weißen Tuch Hüfte und Schultern umschlungen. Auf seinen blonden Locken trug er einen zerdrückten und leicht schief sitzenden Lorbeerkranz.

„Bist du ein Römer?“, fragte das Mädchen sofort. Und nach einem verdutzten Gesichtsausdruck schüttelte der Junge entschieden den Kopf, wobei ein paar Blätter seines Kranzes herabrieselten, und drehte sich dann um, sodass sie die kleinen, mehr flauschig als eleganten, weißen Flügelchen auf seinem Rücken sehen konnte. Und nach einem kurzen Zögern, als wüsste er nicht so recht, ob er tatsächlich mit dem Mädchen reden sollte, erwiderte er: „Nee, ich bin ein Cupido oder auch Putto.“

„Was ist das?“, fragte sie darauf und legte den Kopf schief, offensichtlich kritisch.

„Ein kleiner Engel“, erläuterte der Junge und setzte gleich zur Gegenfrage an. „Und was bist du?“

„Na, eine Biene natürlich.“

Ein musternder Blick und überkreuzte Arme wirkten nicht sehr überzeugt. „Du hast keinen Stachel. Ich denke eher, dass du eine Hummel bist.“

„Weil ich dick bin?“, fragte das Mädchen gar nicht verletzt.

„Das auch“, stimmte der Junge zugleich zu und ließ sich dann einfach neben ihr in die Sandkiste plumpsen. „Was machst du denn?“, fragte er dann und guckte sich ihre langsam zerrieselnden Sandkuchen an.

„Kuchen, ich mache Kuchen für die Hochzeitsgesellschaft“, antwortete sie und deutete mit dem Kopf in Richtung Kirche, sodass die kleinen Fühler aus Pfeifenreiniger an ihrem Kopf wippten.

„Machen das Bienen?“, fragte er weiter und strich mit den Händen durch den sonnenwarmen Sand.

„Quatsch! Als Biene habe ich Honig gemacht. Aber jetzt bin ich Bäckerin.“

Der Junge nickte verstehend. „Ich werde dir helfen“, stellte er fest und griff nach einem der Förmchen. „Du musst das nämlich anders machen. Hochzeitskuchen sind viel größer.“

„Woher weißt du das denn?“, fragte das Mädchen mit großen Augen.

„Ach, ich habe schon viele Hochzeitstorten gesehen. Schmecken manchmal auch richtig gut“, antwortete der Junge mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er wechselte das Thema, „Sag mal, hast du vielleicht auch Kuchen, der nicht aus Sand ist? Ich habe so Hunger!“

„Kuchen nicht, aber vom Frühstück sind noch Pancakes da, glaube ich. Magst du die?“

„Keine Ahnung, lass uns das raus finden“, sagte er, stand wieder schwerfällig auf, nahm ihre sandige Hand und half ihr hoch.

„Ich darf aber keine Fremden nach Hause bringen.“ Ihre Stirn legte sich angestrengt in Falten. „Ich glaube, spielen darf ich auch nicht mir dir.“

„Ach was, das lässt sich leicht lösen. Ich heiße Raffael, bin ein Cupido und habe immer Hunger. Jetzt kennst du mich“, versicherte der Junge und drückte ihr mit einem Zwinkern der Augen die Hand.

„Super, zusammen bringt alles mehr Spaß!“, stellte das Mädchen fest. „Ich bin Emma und ich bin eine Bienenbäckerin.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich denke immer noch, dass Hummel eher zutrifft, die sind mir auch viel lieber.“

Zufrieden alles geklärt zu haben gingen sie zum Haus.

„Spielst du nach dem Essen noch mit mir?“

„Ich glaube, ich werde noch ganz oft mit dir spielen“, stellte Raffael fest und Emmas Augen strahlten förmlich vor Begeisterung.

Kapitel 1: Routine bei den Wedding Bells

Ich klickte auf Enter und hatte damit einen Beitrag über Frühlingshochzeiten gepostet. Anemonen und Ranunkeln eigneten sich für die Brautsträuße und natürlich war die Farbe Grün, vor allem Mint, absolut angesagt für diese Jahreszeit. In der Küche hörte ich Rafy die Schränke plündern, während ich den nun veröffentlichten Eintrag nochmals nach Fehlern absuchte, obwohl ich das natürlich schon getan hatte, aber irgendeinen Fehler, und sei es einen Formatierungsfehler, übersah man immer wieder. In der Küche klirrte es jetzt. Rafy musste wohl Eis in ein Glas füllen. Er trank also Whiskey oder Gin Tonic und das, obwohl es gerade mal Mittag war. Aber ich war das von ihm gewohnt. Ich lebte schon fast mein ganzes Leben mit ihm und ich hatte es aufgegeben ihn ändern zu wollen.

Die Boxen des Rechners pingten auf. Die ersten Kommentare auf mein Posting waren aufgetaucht. Und es gab schon ganze 8 Reposts. Nicht schlecht für fünf Minuten. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Frühling, wir hatten jetzt noch Spätsommer, viele Hochzeiten bringen würde. Oh ja, langsam gerieten die Frühlingsbräute in Panik. Natürlich nur die, die als Vorbilder Disneyprinzessinnen hatten, die anderen hatten noch zwei, drei Monate Zeit, bis sie kollabierten. Auch wenn ich wirklich Gefallen an dem Ganzen fand, wenn ich selber mal heiraten sollte, schwor ich mir immer wieder, dass ich da ganz sicher nicht mitmachen wollte. Ich wollte nicht eine größere, schönere, bessere Hochzeit als die anderen haben, denn das passierte genau diesen Bräuten, die gerade meinen Blogbeitrag liketen, spreadeten und die Bilder auf ihren Pinterest-Pinnwände als Möglichkeit für ihre eigene Hochzeit vormerkten.

Ich hörte das Knistern einer Chipstüte, die Rafy nachlässig über den Boden schleifen ließ, als er sich seinen Weg zu seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher bahnte. Ich blickte auf und freute mich an seinem Anblick. Es waren viele Jahre vergangen, seitdem er plötzlich vor meiner Sandkiste stand, aber wie er spöttisch zu sagen pflegte, war mein Leben für ihn nur ein Wimpernschlag. Ja, ich war daran gewöhnt, aber während ich kaum noch der kleinen, pummeligen Hummel glich, hatte sich Rafy kaum verändert. Er war noch immer der kleine, herzig aussehende Lockenkopf, der etwas gegen Kleider aussetzen zu haben schien und meinte, ein Tuch wäre vollkommen ausreichend. Ja, das war nicht normal, denn inzwischen waren 20 Jahre vergangen, aber ich hatte noch am ersten Tag feststellen dürfen, dass an Rafy sicher nichts gewöhnlich oder normal war. Angefangen damit, dass er nicht verkleidet war wie ich damals, sondern seine kleinen Flügelchen komplett zu seinem Körper gehörten. Und das Beste, obwohl physikalisch komplett irrig, konnte er damit sogar fliegen. Irre, ich weiß! Gut, wenn er drüber nachdachte, konnte er nicht mehr fliegen. Das lag aber wohl etwas an mir. Ich habe nämlich als Zwölfjährige mal anmerken müssen, dass er gar nicht fliegen könne mit diesen kleinen Flügeln. Er wäre viel zu schwer dafür und zu groß. Er war sofort auf den Boden geplumpst. Er nahm mir das immer noch übel. Ich hätte ihm seine unschuldige Macht gestohlen… Aber wenn er nicht drüber nachdachte klappte es trotzdem einwandfrei.

„Weißt du Emma, es wird Zeit, dass wir wieder in eine Kirche kommen. Mich jucken meine Flügel und die Finger kribbeln. Ich habe Arbeit zu erledigen.“

„Halleluja“, rief ich auf, guckte aber weiterhin auf meinen Bildschirm, um die Entwicklungen auf den diversen Social Media-Auftritten der „Wedding Bells“ im Auge zu behalten. Naja, in Wirklichkeit guckte ich, was sich gerade wieder der amerikanische Hochzeitsmarkt ausdachte, um es meinen Kunden zu verkaufen, besser gesagt davon zu berichten.

„Vielleicht haben wir ja was Passendes in den „Wedding Bells“-Mails. Ich will ja nicht, dass du womöglich noch eine Staffel „Desperate Housewives“ am Stück sehen musst. Das halte ich nämlich nicht aus!“

„Ich finde ja auch, dass sie es zum Ende vielleicht einen Hauch übertrieben haben. Es ist dennoch eine sehr gute Serie!“, stellte er fest. „Aber zurück zum Jucken. Ich weiß, ich habe Arbeit. Also check deine Mails, ich habe einem Paar meinen Pfeilsegen zu geben.“

„Ich würde das eher Pfeil-der-zu-besinnungslosem-Liebesrausch-führt nennen, aber ich bin ja auch kein Cupido“, entgegnete ich ihm. Trotzdem rief ich das Postfach meines Wedding Bells-Mailaccounts auf, denn auch wenn ich meinen Job liebte, ich war überhaupt erst auf die Idee gekommen einen Hochzeitsblog zu führen, als ich eine sinnvolle Beschäftigung suchte, die Tarnung und Geldeinnahmequelle zugleich war, um Rafy bei seiner Arbeit zu begleiten.

Als Kind, welches gleich neben der Kirche wohnte und von seinem liebevollen, aber nachlässigen Vater meist sich selbst überlassen war, war es ein Leichtes gewesen die Freizeit bei diversen Hochzeitsvorbereitungen und Hochzeitszeremonien unter Tischen mit langen Tischdecken oder aber auch ganz offen auf einer der hinteren Bänke zu verbringen. Und für Rafy war es natürlich noch weniger problematisch. Er war ja schließlich unsichtbar. Oh, hatte ich das noch nicht erwähnt? Ja, mein Freund, ein ewig altes und demnach auch altkluges Engelbaby war noch nie einem Menschen begegnet, der ihn hätte sehen können. Bis er ein Mädchen beim Spielen beobachtete und dieses ihn schließlich fragte, ob er ein Römer sei.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie erschreckt ich war. Gut, Betrunkene können mich sehen und auch Tiere und das eine oder andere Mal ein Baby, aber ansonsten kommt das eher selten, besser gesagt gar nicht vor.“ Er deutete auf mich. „Nur du, dicke Hummel, hast meinen wunderschönen Körper je wirklich sehen und vor allem, meine liebliche Stimme richtig, immerwährend wahrnehmen können.“

„Und ich schwöre bei Gott, ich habe es mir oft genug gewünscht und darum gebeten, dass du einmal still sein würdest“, fügte ich honigsüß hinzu, woraufhin er mir die Zunge raus streckte.

„Als hätte es dich nicht wunderbar durch alle möglichen Matheprüfungen geführt.“

„Ich hatte dich nicht drum gebeten. Ganz im Gegenteil“, giftete ich etwas zurück, denn es war ein immerwährender Stachel meines Lebens, dass ich mir nie sicher sein konnte, dass ich meine Leistungen wirklich als meine empfinden durfte. Wie kann man einer falschen Fährte folgen, wenn einem der richtige Weg entgegen geschrien wird? Übrigens waren es auch meine Versuche mich gegen Rafy zu behaupten, die mir eine langjährige und äußerst anstrengende Behandlung bei einem gewissen Prof. Dr. Efraim Bierbaum eingebracht hatte. Neben Rafy war das meine längste Beziehung mit einem Menschen außerhalb meiner Familie. Und um es kurz zu fassen, mein Vater war die einzige Person, die ich als Familie ansah. Rafy nannte das „Emmas Dreifaltigkeit“.

Aber ich schweife ab, darum zurück zu meinen Mails. Tatsächlich war neben Systembenachrichtigungen der verschiedenen Accounts, um meinen Blog optimal auszureizen, um Geld zu verdienen und neue Klienten für Rafy und mich zu ergattern, eine vielversprechende Mail eingegangen. Ich erhielt viele Mails. Hochzeitszeitschriften, diverse Firmen, die sich alle um das Hochzeitsgeschäft stritten, fanden bei mir ihren Platz. Manche Paare bezahlten mich dafür, manche nicht, und dann gab es die Paare, die ihre Hochzeit sponsern ließen, um auf meinem Blog ihre Hochzeit zu veröffentlichen (mit Angaben woher das Kleid stammte, wer der Weddingplaner war und wer was für eine Torte gebacken hatte u.s.w. u.s.w.) oder aber die, die wollten, dass ich sie bei ihren Hochzeiten beriet.

Ich hatte also keine Probleme mehr Paare zu finden, denen Rafy seinen Pfeilsegen geben konnte. Er mochte ein ewig trinkender, besserwisserischer Leichtfuß sein, aber seine Berufung nahm er sehr ernst. Es gab nicht viele Dinge, die er mit Ernst betrachtete, dazu gehörten seine Berufung, sein Genuss und meine Person. Aber ich schweife schon wieder ab.

Also zurück zu den Mails. Mein Postfach quoll also über vor lauter hochzeitsnaher Themen. Und tatsächlich gab es einen Notfall. Eine Hochzeit, die nur wenig Zeit hatte und dringend Hilfe benötigte. Das bedeutete nicht nur gutes Geld für meinen gefräßigen Engel, sondern auch für mein reparaturbedürftiges Haus und den ebenso klapprigen Twingo, der mehr von den „Wedding Bells“-Aufklebern zusammengehalten wurde als von irgendetwas sonst.

„Barbara und Felix heißt das Paar. Und sie wollen in weniger als zwei Wochen heiraten. Schneller als eigentlich vorgehabt, da Felix auf Forschungsreise geht, eine Gelegenheit, die sich plötzlich ergeben hat.“

„Herrje, was ist nur aus der guten alten Schwangerschaft geworden. Das war noch ein Grund das ganze eilig hinter sich zu bringen. Aber seitdem man sich auch schwanger chic findet, ist das ja alles kein Thema mehr“, nölte Rafy und trank einen großen Schluck seines Longdrinks mit ordentlich viel Eis, denn es klackerte bei jedem Schluck, den er nahm. Rafy machte immer viel Lärm. Er aß und trank laut, was er übrigens viel tat, obwohl sein Körper das nicht benötige, sprach laut, lachte laut, ging laut, seine Flügel flatterten sogar laut. Wie er mir mal erklärt hatte, war er endlich so überglücklich, dass nicht nur Engel ihn sehen konnten, sondern auch noch jemand anderes. Und deshalb genoss er jede Sekunde, die er wahrgenommen wurde. Und da mein Leben nur ein Blinzeln für ihn war, war es ihm einfach unverständlich, warum ich nicht die kurze Zeitspanne meines Lebens genauso genießen sollte, wie er es tat. Und auch wenn ich es nicht immer genoss, war ich dennoch daran gewöhnt.

„Wir könnten morgen gleich hin und sie kennenlernen“, stellte ich beim Lesen der Mail fest. „Scheint ein leichter Job zu werden. Ich habe Spaß beim Berichten und du kannst kurzen Prozess machen. Das Paar ist schon seit über fünf Jahren zusammen, kennt sich von der Uni her und lebt auch seitdem zusammen, wenn man die Forschungsreisen von Felix abrechnet. Er ist Geologe, was sie ist, hat sie nicht geschrieben. Und noch ein Pluspunkt, sie scheint gar nicht hysterisch zu sein.“

„Na das wäre doch schön. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!“

„Ist gut Hannibal“, spielte ich mit. Wie sehr ich mich doch mal wieder irren sollte. Es war also alles wie üblich bei den „Wedding Bells“, denn es ging wie immer drunter und drüber.

Kapitel 2: Hochzeitsberichterstatterin auf geheimer Mission

Wir wohnten in einem kleinen Dorf, außer der Kirche neben uns, gab es zwei Tante-Emma-Läden, die aber bald drohten zu schließen, einen fahrenden Bäcker, sowie eine fahrende Bibliothek und eine schon geschlossenen Bankfiliale. Ansonsten gab es Bauernhöfe und ein paar andere Wohnhäuser. Aber bald würden die restlichen Felder sicher auch weichen und wir würden komplett von den Neubaugebieten der nächsten Stadt geschluckt werden. Das prophezeiten jedenfalls die Alten des Dorfes seit meiner Geburt und sicher schon davor. Und sie hatten wohl auch recht, denn als wir aus dem Dorf heraus fuhren, kamen wir erst an den Gemeindefeldern, dann am Neuen Friedhof (der schon so seit dem Zweiten Weltkrieg hieß) und nach der Kreuzung schon an einem der Neubaugebiete vorbei. Eigenartigerweise sicherte das unserem Dorf nicht die Infrastruktur, denn anstatt bei Cordelia und im Laden meines Vaters einzukaufen, fuhren alle zu den großen Supermärkten in die Stadt. War ja auch viel billiger. Und in einem so kleinen Kaff wie unserem fuhr jeder Auto. Die Schule hatte schon vor meiner Geburt geschlossen und war zu einem Gemeindezentrum geworden. Vorher traf sich das ganze Dorf immer im Wohnzimmer des Pfarrers, aber so gönnte man sich immer mal wieder eine andere Lokalität, wenn man mal davon absah, dass beide Orte nur einen Steinwurf entfernt waren.

Bis ich zur Uni ging, war ich in der Stadt zur Schule gegangen und hatte auch ansonsten dort viel meiner Freizeit verbracht. Und als ich nach der Uni zurückkehrte, weil mein Vater nach einem Schlaganfall Hilfe im Haushalt benötigte, hatte ich zuerst dort gearbeitet. Denn mein Blog war nicht von Anfang an so lukrativ und erfolgreich gewesen, und so hatte ich als einfache Verkäuferin in einem Kaufhaus gearbeitet. Als studierte Historikerin hatte ich mir mein Leben eigentlich anders vorgestellt. Aber damals dachte ich auch noch, dass ich gleichzeitig meine Doktorarbeit schreiben würde, es also alles nur langsamer voran ginge.

Während wir bald die Neubaugebiete verlassen hatten und nach erneuten Feldern und Wäldern, die trotz der wochenlangen Hitze saftig grün waren, am Rand der Stadt angekommen waren, dachte ich an die Zeit meines Studiums. Rafy war die meiste Zeit bei mir gewesen und wir hatten neben dem Studium auch noch das Beziehungsleben der Studenten und des Lehrkörpers gefestigt oder aber auch mal durcheinandergebracht. Es war nicht immer so, dass Rafy entschied, dass die schon bestehenden Paare zueinander gehörten.

Oft hatte ich ihn gefragt woher er wisse, dass er das richtige tat. Er sagte, dass er es einfach sehen und fühlen könne. Wobei es nicht so war, dass Rafy nur seine Zwillingspfeile verschießen müsste und schon wäre ein Paar bis ans Lebensende glücklich miteinander.

„Beziehungen sind Entscheidungen von zwei Menschen, meistens zwei Menschen. Meine Pfeile unterstützen nur was gut zusammen passt. Ich bin ein Boost für Beziehungen, naja ein Segen eben. Zusammen mit dem Sakrament der Ehe kann ich dem Ganzen eine Stärkung geben, aber eben nicht mehr."

Wir versackten in der morgendlichen Rush Hour, aber ich machte mir keine Sorgen, dass wir zu spät kommen würden. Ich fuhr immer viel früher los und Rafys Flügel juckten, sodass auch er alles dran setzte das Paar endlich kennenzulernen. Er saß also gespannt neben mir auf dem Beifahrersitz, hielt seinen goldenen Bogen und Köcher mit den zwei Pfeilen fest auf seinem Schoß und hatte sogar seine Locken fast ordentlich gebändigt. Er sah so unschuldig und kindlich aus, sodass ich kaum den Drang unterdrücken konnte neben ihn nach dem Gurt zu greifen, um ihn anzuschnallen. Natürlich total überflüssig. Und doch hatte ich nach all diesen Jahren immer noch das Gefühl ihn beschützen zu müssen.

„Was guckst du so?“, fragte er, als er meinen Blick sah.

„Ich habe mal wieder festgestellt, wie niedlich du aussiehst.“

„Ja, ein wunderschöner Körper“, stimmte er zufrieden zu und lächelte mich zuckersüß an. Früher hatte ich immer angenommen, dass Rafy etwas von einem arroganten Schnösel hatte, aber diese Überzeugung über seine Person war dadurch begründet, dass er so geschaffen wurde, ganz ohne sein Zutun. Er bildete sich nichts darauf ein. Er hatte es mir mal erklärt. Er war so großartig geschaffen worden, es war seine Aufgabe, bezaubernd zu sein, es war seine Aufgabe etwas über die Stränge zu schlagen und es war nicht sein Verdienst, dass seine Locken ihm so schön ins Gesicht fielen. Er bildete sich also nichts darauf ein, aber er wusste dennoch, dass er zuckrig süß, charmant und unverschämt liebenswert war.

„Herzchen, ich bin ein Engel, wenn du drauf bestehst auch ein Engelchen. Ich bin wie ich bin, nicht wie bei dir aus freiem Willen, sondern weil ich so geschaffen wurde. Ich habe Aufgaben zu erfüllen und die kann ich nur so machen. Das einzige was ich entscheiden kann ist, dass ich fallen kann. Aber ich habe noch nicht gehört, dass das einem der niederen Engel passiert wäre, und es gibt auch Gerüchte, dass sogar hinter den Stürzen unserer großen Brüder der Plan vom Boss steht. Der freie Wille ist also allein euer Ding.“

Die Erklärung reichte mir. Vielleicht weil ich wusste, dass er die Wahrheit sagte, vielleicht aber auch, weil ich ihn einfach immer liebte, egal ob arrogant von sich eingenommen oder nicht. Rafy war immer mein bester Freund gewesen. Er hatte mich durch meine Kindheit begleitet und meine Jugend. Er hatte mir nach meinen Stürzen vom Skateboard ebenso aufgeholfen wie nach meinen ersten Liebesgeschichten.

Ich gab mich meinen Erinnerungen hin, während Rafy laut einen Hit im Radio mitsang. Es dauerte aber nicht lang, bis wir auf den uneben gepflasterten Parkplatz der kleinen Kirche einbogen, in der unsere Klienten heiraten wollten. Wir hatten uns in der Kirche verabredet, nicht nur, weil sie mir dort den Pfarrer und ihre ersten Pläne vorstellen konnten, sondern weil gleich gegenüber ein kleines Café war, indem wir alles weitere in Ruhe besprechen konnten. Ich hatte mit Barbara gesprochen, die nicht nur pragmatisch sondern auch sehr nett klang. Ich freute mich richtig darauf das Paar kennen zu lernen.

Als ich aus meinem Twingo kletterte, sah ich die beiden schon mit dem Pfarrer auf der Treppe stehen. Sie hatten die Kirche nicht ausgesucht, weil diese schön gewesen wäre. Bei dem Bau aus den 80ern musste man ein Mitglied der Gemeinde sein, um dort heiraten zu wollen. Irgendwie gefiel mir auch das, auch wenn die Kirche wirklich unsäglich hässlich war. Natürlich beschwerte sich Rafy lautstark über diesen Umstand. Zu seiner Zeit hätte es sowas nicht gegeben und da wusste man noch was man dem Herrn schuldig war. Natürlich hörte nur meine Wenigkeit ihn lamentieren und ich ignorierte ihn, als ich die Stufen der Kirche hochstieg. Der Pfarrer drehte sich kurz irritiert zu uns um. Kurz hatte ich den Eindruck, dass er Rafy gehört hatte, aber das hatte ich mir wohl nur eingebildet, denn nach einem kurzen stirngerunzelten Blick an mir vorbei, blickte er mich fest an und grüßte mich freundlich. Ebenso tat es das Paar. Barbara war eine großgewachsene Blondine. Sie würde sich großartig im Hochzeitkleid machen und wunderbar auf den Fotos aussehen. Und Felix hatte zwar schon leicht schütteres Haar, aber war durchaus attraktiv. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er auf Forschungsreisen durch die Wildnis streifte und auf Steinen herumklopfte oder was auch immer Geologen so in der Feldforschung betrieben. Sie schienen beide etwa gleichalt zu sein, vielleicht Mitte 30. Noch ein Pluspunkt. Ein Paar, das sich schon länger kannte und insgesamt schon fest im Leben stand, wahrscheinlich weitaus fester als ich das tat.

„Hallo“, begrüßte ich sie. „Barbara und Felix?“, fragte ich unnötigerweise und reichte ihnen meine Hand zur Begrüßung. „Ich bin Emma“, stellte ich mich dennoch vor.

Mit einem Hallo begrüßten sie auch mich und Felix stellte mir gleich den Pfarrer vor.

„Hallo Emma, schön, dass es so kurzzeitig geklappt hat. Darf ich dir Pfarrer Martin vorstellen? Ich habe ihm schon erklärt, dass du uns helfen wirst, weil wir ja jetzt doch alles recht eilig haben. Und wir wollen dennoch eine schöne und wenn möglich nicht all zu stressige Hochzeit feiern.“

„Ich werde mein Möglichstes tun, damit das klappt“, versprach ich und reichte auch Pfarrer Martin meine Hand. Er war ein etwas dicklicher Mann mittleren Alters.

Er lächelte und auch er schien freundlich zu sein. „Ich kenne die beiden schon lange, ich bin mir ganz sicher, dass die beiden mit Hilfe ihrer Familien eine sehr schöne Hochzeit feiern können. Es freut mich immer, wenn ich solche Paare in den Bund der Ehe führen kann.“ Er deutete auf die offene Kirchentür. „Dann kommt mal rein.“

Wir gingen durch das kleine, puristische Kirchenschiff in Senfgelb. Ein Umstand, der Rafy wieder laut motzen ließ. Er hatte kurz seinen Mund gehalten, als er Barbara und Felix professionell unter die Lupe genommen hatte. Er machte sein Cupido-Ding, aber leider brauchte er dazu nicht sehr lang, sodass er jetzt wieder Zeit zum Quasseln hatte.

„Ich fasse es nicht. Senfgelb! Was haben die sich dabei gedacht. Ich suche mal nach meinen Geschwistern, die verstecken sich bestimmt in dieser Hässlichkeit auf der Empore. Wie soll man denn hier leben, das frag ich dich?“

Wieder drehte sich der Pfarrer kurz um, als hätte er Rafy bemerkt, aber anstatt dem kleinen Cupido nachzublicken, der sich immer noch laut motzend von uns entfernte und auf den Treppenaufgang zusteuerte, wandte er sich uns zu. Ich war neben dem Paar durch das Kirchenschiff den Gang zwischen den Kirchenbänken entlang hinter ihm her gegangen.

Er lächelte etwas geistesabwesend und meinte dann, „Wissen sie. Die Kirche wird am Hochzeitstag sicher gut gefüllt sein. Zum einen die Kirchengemeinde und zusätzlich die Familie von beiden.“ Barbara schaltete sich ein. „Meine Familie lebt fast ausschließlich vor Ort und sie sind auch fast alle Teil der Gemeinde, aber durch Felix Familie und natürlich unsere Freunde, werden die Kirchenbänke sicherlich ganz schön ächzen.“

„Ach was, wir haben noch einige Klappstühle“, wiegelte Pfarrer Martin ab.

Ich mochte die drei. Das Paar war nett, ja sogar attraktiv, und der Pfarrer war ebenfalls nett. Gut, die Kirche war hässlich, was auf den Fotos etwas Einfallsreichtum forderte, aber ich hatte schon Schlimmeres gesehen. Das schien wirklich ein angenehmer Job zu werden.

„Wir haben Glück, dass wir den Termin vorziehen konnten. Eigentlich wollten wir entspannt im Winter heiraten, aber dann habe ich das Angebot für eine Forschungsreise bekommen. Das hat dir Barbara bestimmt schon erzählt“, erklärte Felix den Umstand, dass sie es auf einmal sehr eilig

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Vivian Tan Ai Hua
Bildmaterialien: Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua Bildmaterial: © nnnnae (75985591) - Fotolia.com, © Levente Janos (29356016) - Fotolia.com, © POP print on paper (1037325223), © Badges: starsunflowerstudio.blogspot.com
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1876-0

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