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“[…]
So, she was come through wind and rain.
Be sure I looked up at her eyes
Happy and proud; at last I knew
Porphyria worshipped me; surprise
Made my heart swell, and still it grew
While I debated what to do.
That moment she was mine, mine, fair,
Perfectly pure and good: I found
A thing to do, and all her hair
In one long yellow string I wound
Three times her little throat around,
And strangled her. No pain felt she;
I am quite sure she felt no pain.
As a shut bud that holds a bee,
I warily oped her lids: again
Laughed the blue eyes without a stain.
[…]”
Robert Browning: Porphyria's Lover
Prolog
NEW SHANGHAI, Unterster Distrikt
Der Raum war schäbig, der Lack platzte von den billigen Möbeln und das Wasser floss ganze fünf Minuten braun und stinkend aus den alten Rohren, bis es endlich aufklarte und nicht mehr schweflig roch. Trotzdem summte das Mädchen glücklich vor sich hin, als es in die Wanne stieg. Auf der blassen Haut zeichneten sich nicht nur die Knochen überdeutlich ab, sondern auch viele blaulila Flecken. Sie waren einerseits Beweis für die Grobheit und sexuellen Präferenzen ihrer letzten Freier und andererseits sogenannte Liebesbeweise ihrer Mutter, die meinte, sie so zum Geldverdienen überreden zu müssen.
Das Mädchen achtete nicht darauf, sondern genoss sichtlich ihr Bad und wusch sich das fettige Haar mit einer Unmenge von Shampoo. Sie hatte keine Ahnung, womit sie diese Belohnung verdiente. Sie hatte nicht mehr Freier als sonst gehabt, auch wenn sie wusste, dass sie immer mehr hatte als die anderen Mädchen ihres Zuhälters. Dieser hätte also mit ihr zufrieden sein können, da ihre Mutter nur einen lächerlichen Betrag für sie verlangt und diesen gleich für Drogen wieder bei ihm eingelöst hatte. Trotzdem hatte das Mädchen bisher nie eine Belohnung erhalten. Deshalb misstrauisch stieg sie schnell wieder aus der Wanne und trocknete sich eilig ab. Genüsslich fuhr sie sich durch die langen Haare und benutzte den Kamm von Tony, vorsichtig darauf bedacht auch ja kein Zinken abzubrechen.
Das eben noch unscheinbare Haar, welches sie in einem Haarknoten verborgen hatte, glänzte nun platinblond, leuchtend weiß und reichte ihr weit über die Hüfte. Das Mädchen lächelte ihrem Spiegelbild zu.
Nach langer Zeit fühlte sie sich wieder einmal wohl, rein, und das nicht nur äußerlich.
An der Badezimmertür wurde heftig geklopft und Tonys Stimme tönte zwar dumpf, aber deutlich aggressiv durch die wurmstichige Tür.
„Angel, komm endlich raus. Du warst lang genug da drin!“
Sie seufzte, nicht nur die Stimme ihres Zuhälters, sondern auch ihr Name erinnerte sie daran, was sie war. Es war ein Hurenname. Sie war von Geburt an für dieses Leben bestimmt gewesen. Es gab keinen Zweifel in ihr und sie sah auch keine Möglichkeit, je diesem Leben zu entkommen. Sie war eine Hure, sie würde es auch immer bleiben. Was gäbe es sonst für ein Leben hier? Hier, im Untersten Distrikt kroch man nicht empor, sah man nicht die Sonne und konnte niemals zum Frackträger werden.
Sie zog den kurzen Rock ihres weißen Kleides nach unten. Ein billiges Hurenkleid, in dem sie trotzdem, wie beabsichtigt, unschuldig aussah. Umso mehr mit ihren langen, schlanken Beinen, deren Knie aufgeschlagen waren. Nur dass sie sich nicht beim Spielen verletzt hatte, sondern bei gänzlich anderen Tätigkeiten.
Als Angel die Tür öffnete, hinter der Tony wütend stand, senkte sie die Lider über ihre großen, dunkelblauen Augen. Sie wollte ihn nicht die Freude sehen lassen, die sie bei dem Bad empfunden hatte. Sie wollte nicht, dass er wusste, wie sehr sie die seidige Schwere ihrer offenen Haare genoss.
„Mädchen, tu mir ein Gefallen und beeile dich einmal in deinem Leben“, ermahnte Tony sie mit dieser leisen, aber so bösartig scharfen Stimme. Es gab niemanden auf der Welt, den sie mehr fürchtete.
„Ich bin fertig, ich werde bestimmt dem nächsten Kunden gefallen“, versicherte sie ihm leise. Denn warum sollte sie sich sonst waschen, wenn nicht aus einem Freierswunsch heraus?
Tony lachte dreckig und meinte: „Davon kannst du ausgehen, auch wenn dieser Kunde diesmal anderes mit dir vorhat, als du sonst gewohnt bist.“
Dann fügte er wieder schroffer hinzu: „Setz dich auf den Stuhl.“
Ohne Zögern gehorchte sie und versuchte sich keine Sorgen wegen ihres nächsten Kunden zu machen. Sie hatte bisher alles überstanden, was von ihr erwartet wurde, dann würde sie auch einen weiteren Sonderwunsch überstehen.
Tony trat vor sie, eine große Schere in der Hand.
„Beug den Kopf“, befahl er.
„Tony, was soll das?“, wagte sie zu fragen.
„Du hast diesmal eine Kundin. Sie will dein Haar für sich. Sie ist reich und eine Frackträgerin und wünscht sich eine Perücke in deiner Haarfarbe. Sie verspricht sich davon unwiderstehlich zu sein.“
Er lachte auf und rieb eine ihrer dickseidigen Flechten zwischen seinen Fingern.
„Nein!“, entfuhr es ihr und als sie daraufhin seinen sich verdüsternden Blick sah, versuchte sie sich zu mäßigen, trotz ihres Widerwillens.
„Tony, ich werde noch mehr anschaffen gehen. Ich werde dir doppelt so viel Geld anbringen, aber bitte nimm mir nicht die Haare. Ich bitte dich!“
„Na hab dich nicht so, das Zeug wächst doch nach. Du kriegst in der Zwischenzeit eine Perücke aus dem Fundus deiner Mutter. Die Alte hat davon genügend“, lachte er sie aus und zwang ihren Kopf nach vorne, indem er einfach in ihre Haare griff und mit einem harten Ruck daran zog.
Sie versuchte sich zu entziehen, wollte sogar aufspringen, doch da schlug er ihr kurzerhand mit der Faust ins Gesicht. Blut spritzte aus ihrer Nase. Das Letzte, was Angel wahrnahm, war ihr blutbeschmutztes Haar. Dann verschwamm ihre Sicht durch die Tränen und sie sank in Ohnmacht.
Als sie aufwachte, war das Blut in ihrem Gesicht getrocknet. Sie lag mit dem Bauch voran auf dem verdreckten Teppichboden, und als sie mit der Hand über ihren Kopf fuhr, spürte sie nur unebene Stoppeln ihres ehemals so vollen Haares.
Tränen wollten wieder aufwallen, die sie unterdrückte, und eine tiefe Wut machte sich in ihr breit. Wut auf diese verdammte Frackträgerin und Wut auf Tony, auf ihre Mutter und auf sich. Kaltblütig wurde ihr klar, dass es ihr reichte. Sie würde niemals mehr zulassen, dass sich jeder nahm, was ihr Körper hergab, ohne sie zu fragen. Nie wieder würde sie es zulassen, dass etwas gegen ihre Entscheidung geschah! Und der Erste, der dies zu spüren kriegen würde, wäre Tony.
Auf dem Boden liegend blickte sie sich in dem schäbigen Zimmer um, welches nachts Tony selbst als Schlafunterkunft diente, und tagsüber eine der Arbeitsstellen seiner vielen Mädchen war.
Tony hatte die Tür offengelassen, war aber den Geräuschen nach zu urteilen in der kleinen Küche. Angel raffte sich möglichst leise auf und kroch zum Tisch, auf dem neben einem billigen Drogenverschnitt auch noch eines der vielen Messer lag, mit dem Tony gerne andere einschüchterte, oder auch gerne gleich zur Sache kam. Oh ja, Tony war ein Messerstecher.
Angel lächelte mit Genugtuung, als sie das Messer mit der doppelseitigen Schneide in ihrer Hand spürte. Sie würde ihm seine eigene Medizin zu schmecken geben!
Als Tony in das Zimmer kam, riss er nur noch erstaunt die Augen auf. Mit voller Wucht drang das Messer in seine Brust. Angel würde nie wieder diesen fassungslosen Blick vergessen. Sie stach noch zwei Mal zu.
Als sein Körper zu Boden sank, glitt auch sie zu Boden. Mutlosigkeit ergriff sie. Man würde sie jagen. Sie hatte das Schlimmste getan, was ein Mädchen hier unten nur tun konnte. Doch dann spannte sie ihre Muskeln an. Nein, sie würde sich nicht jagen lassen!
Sie suchte seine Taschen ab, fand die Einnahmen des heutigen Tages und steckte sie sich in den Ausschnitt ihres blutverschmierten Kleides.
Dann stand sie entschlossen auf und ließ den Untersten Distrikt hinter sich.
1. Kapitel
Acht Jahre später
Im Schacht herrschte tiefe Dunkelheit und außer dem Rauschen in den breiten Rohren war nichts zu hören. Angel kroch zielsicher auf einem von diesen, das Frischwasser an die Oberfläche brachte. Die Pump- und Rohrsysteme von New Shanghai waren ausgeklügelt, versorgten die brodelnde Stadt nicht nur mit Frischwasser und leiteten Abwässer wieder ab, sondern dienten auch zum Transport der Rohgüter. Doch die wenigen Ölpipelines waren weitaus besser bewacht. Dort ließ sich Angel selten blicken. Jedenfalls nicht für den Lohn einer einfachen Briefüberstellung.
Jeffreys Stimme ertönte in ihrem Ohr. Die Verbindung rauschte leise. Ihr Headset war altmodisch, kein Implantat, aber trotzdem nahezu abhörsicher durch Jeffreys Bemühungen. Und persönlich hatte Angel keine Probleme mit dem Knopf im Ohr und dem Mikro an ihrer Kehle. Besser als irgendeinen Neurodoc mit einem Bohrer an ihre Schädelplatte zu lassen, da konnten die anderen Läufer so viel sich über sie lustig machen, wie sie nur wollten.
„Mach schnell, in zwei Minuten ist die Kontrollsonde in deinem Sektor.“
Angel verdrehte nur die Augen, als sie sich stetig weiter in der Dunkelheit vorrobbte.
„Bist du endlich an der Schleuse?“
„Halt die Klappe“, war die lakonische Antwort von Angel.
Nichtsdestotrotz hatte sie die Leiter zur Luke erreicht, die sie auch eilig erklomm. Auf die altmodische Art zog sie einen Zahnarztspiegel aus ihrer Brusttasche und schob ihn vorsichtig durch das Gitter der Luke. Es war nichts zu sehen. Mit einem kleinen, leise surrenden Schneidegerät löste sie die Verplombung und stieß die Luke auf. Sie hievte sich mit einer fließenden Bewegung aus der Dunkelheit auf die Straße. Teurer Asphalt, gekühlte Frischluftzufuhr, Markenzeichen für die oberen Distrikte. Die grünen Nummern an den monotonen Hochhäusern wiesen das Viertel als ein Wohnviertel der unteren Frackträger aus.
Angel achtete nicht darauf, sie wusste genau, wo sie war. Sie ließ die Luke für einen schnellen Rückzug offen und verschwand sofort im Schatten eines der Häuser.
„Bin da, wo bleibt der Kontakt?“, raunte sie, während sie sich suchend umblickte. Sie hatte keine Zeit zu bemerken, dass die Luft hier viel besser war als unten, und das obwohl sie eine Stunde im Warmwassersystem rumgekrochen war.
„789a, übliches Zeichen“, erklärte Jeffrey gelassen. „Er hat längst überwiesen, er wird also da sein.“
„Ich sehe ihn“, sagte daraufhin Angel auch und ging auf ihren Kontakt zu. Ein Frackträger, aber an seinem Nadelstreifenmantel war hinten ein grauer Knopf ohne ersichtliche Funktion angenäht.
Aus ihrer Westentasche zog sie einen kleinen Umschlag und reichte ihn dem Mann, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte. Als würde sich Angel für sein Gesicht interessieren, stellte sie innerlich auflachend fest.
Als er danach griff, wollte sie sich gleich abwenden und auf den Rückweg machen. Für sie gab es keine Notwendigkeit für Smalltalk. Was hatte sie schon einem Frackträger zu sagen, oder er ihr? Doch statt nach dem Brief, griff er nach ihrer Hand und fragte leise, „Porphyria?“
Sie nickte nur, machte sich los und gab ihm nun entschieden den Brief.
Nach einem Rückweg ohne Vorfälle, wenn man mal von bissigen Ratten absah, erreichte sie das Hauptquartier ihrer Läufergruppe. Dieses befand sich im Keller einer dieser Auferstehungssekten mit buddhistisch-zaiditisch-christlichem Hintergrund. Das hatte jedenfalls Jeffrey gesagt, der als Einziger von ihnen die Broschüre gelesen hatte, die im Eingangsbereich auslag.
Angel war das egal, sie kümmerte sich nur um das Hier und Jetzt. Für sie war es entscheidend, dass sie überlebte, nicht, dass sie gut starb. Sie hatte nichts übrig für Gedanken an das Jenseits. Nach ihrer Meinung hatte sie die Hölle schon erlebt, sie würde sich aus jeder anderen auch wieder freikämpfen. Aber erst, wenn sie wieder in einer stecken sollte, bis dahin wollte sie keinen Gedanken daran verschwenden.
An der Bunkertür im Keller hob sie das Gesicht, damit die Kamera sie genau erfassen konnte. Genauso wie ihr Headset war diese absolut alte Ware, doch sie tat ihren Dienst. Die Tür sprang auf.
Angel machte sich nicht die Mühe in den Operationsraum zu gehen, sondern bahnte sich ihren Weg gleich zu ihrer Kabine. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschmissen hatte, warf sie auch schon die Arbeitsweste und Stiefel von sich. Dann riss sie ungeduldig die schwarze Mütze von ihrem Kopf. Mit einem Schwung fiel ihr Haar herab.
Nichts mehr erinnerte an ihren einst kahl geschnittenen Kopf. Das Haar reichte ihr wieder bis zu ihrer schmalen Hüfte. Und obwohl acht Jahre vergangen waren, sah sie immer noch genauso aus, wie der lächerliche Name versprach.
Angel achtete nicht nur wegen ihrer Läufertätigkeit auf ihren Körper. Er war schlank, nicht mehr ganz so mager wie früher und durchtrainiert. Ihr herzförmiges Gesicht war nicht mehr so spitz, doch die dunkelblauen Augen verrieten die gleiche Entschlossenheit, die sie in der Nacht vor acht Jahren gewonnen hatte.
Ihre Haut war cremig weiß, sie legte sich nie unter das Solarium. Das einzig dunkle in ihrem Gesicht waren die Augen. Groß und puppenhaft weit auseinanderstehend und von langen Wimpern umgeben, die sie permanent hatte schwärzen lassen.
Sie fuhr sich gerade mit ihrer Bürste durch das dichte, glatte Haar, als ihre Tür aufschwang.
Seufzend, aber kaum verwundert meinte sie: „Wirst du jemals lernen, dass du anklopfen musst?“
Jeffrey grinste. Er war ein hochgewachsener Mann, fast schon Mitte 30, was ihn zu einem der Ältesten in ihrer Truppe machte. Vor ihrer Zeit war er mal ein legendärer Läufer gewesen, aber ein paar Schüsse der Miliz in sein rechtes Bein hatten ihn ein anderes Betätigungsfeld suchen lassen. Und das, obwohl er ein neues neuronisch gesteuertes Bein hatte. Er hatte feststellen müssen, dass nach zwei Jahren, in denen er mühsam das Laufen wieder lernen musste, die Wege sich verändert hatten. Die verschiedenen Läuferwege änderten sich immer. Ein Läufer war immer nur auf bestimmte Gebiete spezialisiert. Nur relativ kleine Abschnitte der Stadt konnten von einem Läufer gebannt werden, wobei die verschiedenen Läuferwege sich durchaus überschnitten.
Angel war beispielsweise auf die Rohrsysteme spezialisiert, ihr Gebiet ungewöhnlich groß. Darum war ihre Auftragslage immer gut gefüllt. Die Größe des Gebiets und die Zuverlässigkeit waren die ausschlaggebenden Faktoren für einen erfolgreichen Läufer.
Und Jeffrey hatte unter seinen Leuten nur gute ausgebildet.
„Es ist mein Keller!“, stellte er gespielt herrisch fest.
„Und ich bezahle ihn dir“, erwiderte Angel und blickte ihn kurz durch den Spiegel an, dann widmete sie sich wieder dem Bürsten ihrer Haare.
„Deshalb bin ich hier.“
„Ach ja?“
„Ich finde, du könntest Urlaub machen.“
Sie lachte auf. „Du meinst man kann im Widerstand Urlaub machen?“
„Ja, vor allem wenn man so wie du kurz vor einem Burnout steht!“
Er verschränkte die Arme und trat näher an sie heran. Er überragte sie enorm. Wie fast alle erfolgreichen Läufer, die sich auf das Rohrsystem verlegt hatten, war sie sehr klein, mit mehr Ausdauer als Kraft. Sie musste selten kämpfen.
Und dabei wusste Jeffrey genau, dass sie in jeglicher Hinsicht eine Kämpferin war.
„Vergiss es, ich entscheide, wann ich Urlaub nehme. Und ich nehme keinen! Also spar dir die Luft und erzähl mir lieber, was als Nächstes ansteht.“
Resigniert ließ er sich auf ihre schmale Pritsche nieder. Die anderen hatten aus den Bunkerkabinen längst gemütliche Wohnungen gemacht, bei ihr sah die Kabine immer noch nach Kaserne aus.
„Es ist ein Anschlag geplant, wir benötigen einen Zugang zu einem der Splitspots, damit die Hacker ihre Arbeit machen können.“
Entgeistert wandte sich Angel zu ihm um und ließ die Bürste sinken. „Und du wolltest mich gerade jetzt pausieren lassen? Du spinnst wohl!“
„Weißt du, ich wollte den Job lieber den Zwillingen geben …“
„Warum, zum Teufel?“ Entrüstet schrie sie ihn regelrecht an. „Ich habe das schon mal gemacht und die Zwillinge noch nie. Das ist mein Job.“
„Du weißt eben noch nicht alles“, entgegnete er ruhig und schob sich das Kissen unter seinem Kopf zurecht, dabei den Arm gemütlich unter diesem angewinkelt. Er war kein Stück aus der Ruhe gebracht. Er hatte gewusst, dass Angel diesen Job haben wollte.
„Was denn noch?“, entfuhr es ihr und sie ging die wenigen Schritte auf ihn zu, ihre kleinen Fäuste waren geballt.
„Ein Personentransport.“
„Oh“, sie ließ sich neben ihn auf die Pritsche sinken, bereitwillig schob er seine langen Beine zur Seite.
„Wozu denn das?“
Er lächelte sie an, griff nach ihrer Hand und streichelte sie. Eine Geste die irgendwo zwischen Freundschaft und zwei Menschen, die mal intim miteinander gewesen waren, lag.
„Nun, weil seit unserem letzten Coup die Sicherheitskontrollen der Splitspots um einiges hochgeschraubt wurden. Wie du weißt, haben wir dem System eine Stange an Geld für die Stunde Ausfall des vierten Netzes gekostet.“
Sie nickte verstehend, erwiderte sogar kurz den Druck seiner Hand mit ihren Fingern und lächelte ihn an. Dann aber zogen sich wieder Sorgenfalten über ihre hohe Stirn.
„Und dann benötigen wir einen der Nerds? Die stehen immer im Weg rum und quasseln ohne Unterlass. Ich kann die nicht ausstehen. Eloise würde ich mitnehmen, aber das geht ja nicht.“
Jeffrey lachte und fuhr, ihre Hand immer noch umfassend, mit der anderen Hand durch seinen stoppeligen, rotbraunen Bart. Mit den roten Locken war es nicht verwunderlich gewesen, dass sein Deckname „Der Rote Erik“ gewesen war.
„Und weil ich deine tolerante Einstellung gegenüber unseren Computerspezialisten kenne, wollte ich eben die Zwillinge einsetzen. Die sind im Gegensatz zu dir freundlich und nett und haben ein Augenpaar mehr, um auf einen Stolperer zu achten.“
Sie starrte ihn überlegend an, biss sich dabei in ihre volle Unterlippe und meinte schließlich. „Nein, ich mach das. Allerdings dürfen mir die Zwillinge helfen. Kann nicht schaden.“
„Du bist zu gütig, meine Liebste.“
„Meine Liebste? Was wird Carla dazu sagen?“, fragte sie und ließ sich trotz dieses Einspruches an seine Brust ziehen.
„Carla? Die hat längst festgestellt, dass ich nicht bereit bin, mich fest zu binden, und hat sich dafür Ersatz gesucht“, erklärte er und schien nicht wirklich ganz bei seiner Erklärung zu sein, sondern vielmehr damit beschäftigt, sie noch näher an sich zu ziehen.
Angels Körper schmiegte sich zwar der Länge nach an seinen, aber ihr Gesicht ließ sie nicht so dicht an seinen Mund heran, wie er es sich wünschte.
„Glaub mir, der Job war nicht halb so aufregend, dass ich jetzt zum Runterkommen eine Nummer mit dir schieben müsste.“
Gespielt entsetzt, aber durchaus ehrlich enttäuscht schloss er die Augen und ließ sich wieder zurück auf das Kissen sinken.
„Du bist ein Biest! Du siehst zwar wie ein Engel aus, aber du bist ein Biest. Irgendwann wird dich jemand mit deinen hübschen Haaren erwürgen, wahrscheinlich ich.“
Sie lachte auf. „Jeffrey, sei froh, dass ich kein besitzergreifendes Biest bin. Denn sonst würdest du die Frauenwelt längst nicht mehr so reich beschenken.“
Immer noch enttäuscht, aber weniger verletzt lächelte er zurück. „Das wäre wirklich jammerschade.“
Beide lagen entspannt auf ihrer Pritsche und sahen an die graue Decke. Jeffrey hatte jetzt seinen Arm unter ihrem Nacken.
„Du wirst nicht nur die Zwillinge benötigen“, meinte er dann wieder ernster. „Das ganze Team wird für mindestens eine Woche damit vollständig beschäftigt sein. Insgesamt halte ich einen Monat Vorbereitungszeit für angemessen. Ich habe schon einiges ausgekundschaftet. Das Ganze ist ein weitaus größeres Ding als beim ersten Mal.“
„Haben wir denn genug Ressourcen?“, fragte sie und wendete ihren Kopf, sodass sie sein Gesicht sehen konnte.
„Ja, das kriegen wir schon hin. Vor allem, weil das nicht nur ein einfacher Anschlag der Befreiungsfront ist, sondern uns auch Geld bringt.“
Irritiert runzelte sie ihre Stirn. „Was soll das heißen? Seit wann lässt du dich für unsere Überzeugungen bezahlen?“
„Seitdem unser Kunde mit dem Plan zu mir kam. Er will bezahlen und ich weiß, dass er das Geld hat, warum also nicht die gute Sache mit etwas Angenehmen verbinden? Außerdem will er nicht nur denen da oben einen vor den Bug geben, sondern möchte das Chaos nutzen, um eine Information zu bekommen.“
„Aha“, sie ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen und schien sich damit abzufinden, allerdings nur widerwillig.
„Komm schon Angel, der Kunde meint selber, dass er es nicht als Bezahlung ansieht, sondern als Maßnahme um die Mission überhaupt erst möglich zu machen. Denk nach, das ist eine realistische Einschätzung.“
„Und was weißt du von unserem Großkunden?“
„Er ist ein Insider, viel mehr weiß ich nicht. Aber ich traue seinen Kontaktleuten.“
Angel zuckte mit der Schulter. „Wenn du meinst …, so was überlasse ich dir. Du traust ihm und ich traue dir, das muss reichen.“
„Wir sind damit doch auch schon einige Jahre gut gefahren“, stimmte er ihr zu.
„Aber keine Sorge, ich werde uns alle da nicht blind in ein großes Ding laufen lassen! Ich mache schon noch meine Hausaufgaben.“
Sie nickte an seiner Schulter. Er fühlte mehr diese Geste, als dass er sie sah.
An der eisernen Tür klopfte es.
Mit einem bedeutungsvollen Blick sah Angel zu Jeffrey auf. „Siehst du, andere können das auch.“ Dann lauter: „Herein!“
Sie blieben entspannt weiterhin auf der Pritsche liegen, als sich die Tür öffnete. Herein kam Zandalee, ein Leopardenmädchen mit rosa Ponyfrisur. Allerdings war die ebenfalls rosafarbene Leopardenmusterung auf ihrer einen Gesichtshälfte um einiges auffälliger. Bei den Tiermenschen wusste man nie, ob ihre Auffälligkeiten angeboren waren, oder ob sie sich diese nachträglich angeeignet hatten. Nach den militärischen Versuchen während des Vierten Weltkrieges war das großflächige Experiment an den Soldaten etwas aus dem Ruder gelaufen. Und jetzt, nach zwei Jahrhunderten, gehörten die Tiermenschen genauso zur Gesellschaft wie alle anderen auch. Meistens zwar nur in den Unteren Distrikten zu finden, aber nicht mehr verfolgt wie zu ihren Anfängen. Es hatte sich sogar gezeigt, dass sie sich als sehr nützlich erweisen konnten.
Zandalee schloss gespielt entsetzt ihre hellblauen Augen. „Könnt ihr mich nicht vorwarnen? Ich bin noch viel zu jung, um so desillusioniert zu werden. Den Chef beim Schmusen zu erblicken … ob ich jemals darüber hinwegkommen werde?“
Vollkommen unentsetzt ließ sie sich aber auf den freien Stuhl sinken.
Die beiden auf der Pritsche lachten und Jeffrey fragte: „Was willst du Quälgeist?“
„Wollte nur sagen, dass die Transaktion vom Zwischenkonto ohne Probleme gelungen ist. Der Kunde ist zufrieden.“
„Gut, das wäre also auch erledigt. Jetzt könnte ich was zum Essen vertragen“, stellte Angel fest.
„Trifft sich gut, wir haben uns gerade Pizza bestellt, sollte gleich ankommen.“
Beide standen von der Pritsche auf, offensichtlich hungrig.
„Gute Nachrichten, hoffentlich diesmal ohne Anchovis!“, meinte Jeffrey schon an der Tür.
„Wenn du besondere Wünsche hast, dann kannst du das nächste Mal bestellen“, schimpfte Zandalee und folgte den beiden.
2. Kapitel
NEW SHANGHAI, 2. Oberster Distrikt
Er lag mit offenen Augen in seinem Bett. Teure Baumwollbettwäsche über teuren Daunen. Er konnte es nicht genießen. Seine Kinnmuskeln zitterten und er fühlte den Schweiß auf seinen Handflächen.
Er sah in die Dunkelheit und hörte das Ticken seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch neben sich und hatte Angst.
Er war nicht so dumm, dass er keine Angst hatte. Er musste Angst haben, Sorglosigkeit konnte er sich nicht leisten. Schließlich war er ein Verräter. Ein Verräter an Konzern und Familie, beides war nicht voneinander zu trennen. Er hatte das vor drei Jahren genau gewusst, als er diesen Weg einschlug, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem er am ehesten aufzufliegen drohte. Er hatte nicht nur Angst um sich, sondern vor allem ging es ihm um die Sache. Drei Jahre hatte er sein ganzes Sein auf diese Sache gerichtet, hatte eine Doppelbelastung auf sich gespürt, an der er zumindest am Anfang zu zerbrechen drohte.
Zur Beruhigung ging er nochmals alle Eventualitäten durch, rief sich alle Codes in Erinnerung und spielte seinen Plan durch.
Das Warten hatte ein Ende. Bald war der Zeitpunkt der Erfüllung gekommen. Endlich, er hätte es nicht länger ertragen können.
Die monatlichen Befragungen waren eine Tortur. Trotz Serums bedurfte es einer herausragenden Selbstbeherrschung, um sich nicht zu verraten, unentdeckt zu bleiben.
Mit ruhigerem Atmen blickte er auf die fluoreszierenden Uhrzeiger. Sie verrieten ihm, dass er nur noch drei Stunden hatte, bis die Weckfunktion ertönen würde. Er musste ruhen.
Selbstbeherrscht zwang er sich zu entspannen und schlief kurz darauf ein.
Er trug einen grauen Dreiteiler mit grauer Krawatte zu blütenweißem Hemd, mit perfekt polierten Schuhen, als er in der dritthöchsten Etage aus dem Fahrstuhl stieg. Nicht er grüßte zuerst, sondern die anderen.
Glenda stand sofort von ihrem Arbeitsplatz auf, schenkte ihm einen Kaffee ein und folgte ihm mit diesem und einem Thinkboard unter ihren Arm geklemmt in sein Büro.
Als er den Raum betrat, wurde er sofort erfasst und erkannt, alle Geräte sowie Einstellungen fuhren auf Morgenaktivität hoch.
„Guten Morgen Herr Chen, ich habe Ihnen die Statistiken geschickt, um die Sie mich gestern baten.“
Seit Entwicklung der Konzernkasten herrschte zwar eine stark asiatisch, vorranging chinesische Kultur, die Eigenart, die Menschen bei dem Familiennamen zu nennen, hatte sich durch die Familienkonzerne als unbrauchbar herausgestellt. Ein Mix aus asiatischen und westlichen Namen war gebräuchlich und man sprach sich schon lange westlich geprägt mit Eigennamen an.
„Danke Glenda“, sagte er, ließ sich auf seinen ledernen Bürostuhl sinken und wartete darauf, dass auch sie sich setzte und auf ihrem Thinkboard die Arbeitsliste wählte.
Auf seinem Arbeitstisch erschienen die Termine, eine schier endlose Liste, die rechts einen langen Balken zum Scrollen hatte.
Sie besprachen diese und Glenda nannte ihm die zwischengeschobenen Punkte, darunter auch: „Ihr Vater hat darum gebeten, dass Sie gemeinsam zu Mittag essen.“
„Natürlich, soll ich ihn abholen?“
„Ja, er bittet darum.“
Kurz hatte er gespürt, wie sein Atem aussetzen wollte, aber er zwang sich zur Ruhe. Ruhe bewahren! Das hatte sicherlich nichts zu bedeuten.
„Wäre es das dann erstmal?“, fragte er und auf ihr Nicken hin entließ er sie.
Er zwang sich zuerst einen Schluck Kaffee zu sich zu nehmen, bevor er die Statistiken öffnete, die er gerade von Glenda bekommen hatte. Er benutzte dafür nicht den Tisch, sondern schloss die Augen und ließ die Daten vor seinem inneren Auge erscheinen. Seitdem er 15 war, hatte er die Verbindung zum Hauptcomputer der Firma. Bildschirme und andere Visualisierungsgeräte nutzte er aus alter Gewohnheit oder zumeist aus Höflichkeit anderen gegenüber. In den oberen Hierarchiegeraden hatte sich die vollkommene Neuronisierung seit Jahrhunderten bewährt und war gar nicht mehr wegzudenken.
Viele Menschen, vor allem die der oberen Konzernkasten, bekamen ihre Headware schon im Krabbelalter. Es wurde Teil ihres Selbst, genauso wie es ihr natürlicher Körper war. So wie sie sich an den Körper gewöhnten, das Laufen lernten, so lernten sie auch zuerst intuitiv ihre Headware kennen und nutzen.
Die ersten Statistiken überflog er flüchtig. Es dauerte lange, bis er sich die Zahlen genau ansah, an einer Stelle hängen blieb. Er hatte die Anomalie gefunden. Wieder hatte er einen Beweis, wieder hatte er die Bestätigung gefunden für die Machenschaften des Konzerns, die dieser hinter der glatten Fassade zu verstecken wusste. Und er hatte nicht nur Indizien dafür, dass der Konzern seit Generationen auf diese Weise vorging.
Er war kein Idiot, sonst säße er sicherlich heute nicht in dem Chefbüro eines der oberen Etagen, aber selbst die übliche Konzernethik wurde hier mehr als nur gedehnt. Er war mit der Maxime aufgewachsen, dass Freiheit vor den Interessen des Konzerns zurückstecken müsse. Auch Leben musste das. Und zumeist hieß er dies gut, aber gewisse Erfahrungen vor drei Jahren hatten ihn straucheln lassen. Er war sich in mancher Minute seines Lebens noch nicht mal sicher, ob seine heutigen Überzeugungen die richtigen waren. Sein Leben lang hatte er anderes gelernt, war er umgeben von Menschen gewesen, die dachten wie er. Doch warum diese große Vertuschungsaktion, wenn es nicht falsch war? Klar, wie alle höheren Konzernmitglieder machte auch er eine Unterscheidung zwischen Recht und Konzernrecht. Er wusste, dass gewisse Dinge vor der breiten Öffentlichkeit verheimlicht werden mussten, aber warum Dinge vor den höchsten Mitgliedern der eigenen Kaste vertuschen?
Er hoffte inständig, dass er sich im Recht befand, denn wenn nicht, würde er unnötig seinem Konzern einen Stich versetzen, von dem sich dieser nicht so leicht erholen würde.
Nachdem er die auffälligen Statistiken auf einen Guerrilla-Host abgelegt hatte, widmete er sich ganz seiner Arbeit.
Kurz vor der vereinbarten Zeit fuhr er mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk höher, um seinen Vater abzuholen. Sein Vater war mehr als einen Kopf kleiner als er, aber doch strahlte dieser eine erhabene Autorität aus. Ehrfürchtig verbeugte er sich, kurz nachdem er den Raum des Vaters betreten hatte. Dann ging er zur Garderobe und holte den Mantel und den Sparzierstock, der genauso wie seiner aussah, aus dem Ständer. Ebenso ohne praktischen Nutzen wie die teuren Armbanduhren, die sie trugen, aber von großer Bedeutung für ihren Status.
„Ah, Chiu Wai, schön, dass du die Zeit erübrigen konntest. Ich freue mich darauf, mich mit dir zu unterhalten. Außerdem habe ich auch Neuigkeiten für dich. Warte nur kurz, ich muss noch ein Gespräch abwickeln“, sagte er mit seiner angenehm weichen Stimme. Dann schloss er seine mandelförmigen Augen.
Chiu Wai betrachtete seinen Vater. Er war ein alter Mann mit weißem Haar. Er war schon alt gewesen, als er endlich Vater wurde, er hatte lange nach der passenden Frau gesucht. Und Chiu Wai hatte schließlich alle Eigenschaften, die er sich für seinen Sohn gewünscht hatte.
Die Augenlider des alten Mannes flatterten kurz, fast wie in der REM-Phase des Schlafs. Es musste sich um ein externes Gespräch handeln. Eines, in dem es um Themen ging, die dem alten Chen besondere Konzentration kosteten. Außerdem nahm Chiu Wai, ohne dass er sich dessen bewusst war, zur Kenntnis, dass die Schilde seines Vaters extrem hoch und fest waren.
Nur wenige Augenblicke später öffnete sein Vater wieder die Augen.
„Dann lass uns Essen gehen. Lass uns zu Wou, ich habe Hunger auf die gute alte kantonesische Küche.“
Chiu Wai half seinem Vater in den Mantel und reichte ihm dann den Stock.
„Eine gute Idee“, stimmte Chiu Wai zu und ließ seinem Vater den Vortritt zum Fahrstuhl. Das Restaurant von Wou war nicht weit entfernt und trotzdem nicht so überlaufen zur Mittagszeit wie die anderen Restaurants und Garküchen im Konzernviertel. Meist wurde es zum Abend erst angesteuert, da es auch eine Karaoke Bar beinhaltete. Jetzt würden sie dort in Ruhe essen und vor allem ungestört reden können.
Tatsächlich hatten sich außer ihnen kaum andere Gäste in dem Lokal eingefunden. Chiu Wai ließ seinen Vater die Speisen auswählen. Obwohl er ihn aus Überzeugung verriet, liebte er seinen Vater. Ja, er mochte diesen Mann. Er war zu ihm seiner Meinung nach immer gut gewesen. Natürlich, ein stahlharter Geschäftsmann, darum zweifelte Chiu Wai auch keinen Augenblick, dass sein Vater in die Machenschaften eingeweiht war. Er war sich sogar sicher, dass er einer der Köpfe dieser war. Sein Vater war es auch, der die allmonatlichen Befragungen bei ihm ausführte. Im Chen-Konzern passierte nichts ohne das Wissen von Chen Yeung Ming. Vor drei Jahren noch war Chiu Wai überzeugt gewesen auch schon in dieser Position zu sein, aber er hatte sich eines Besseren belehren lassen müssen.
Sie tranken den etwas zu bitteren Jasmintee, bevor ihnen die ersten Speisen gebracht wurden.
„Schön, dass wir zusammen essen, ich habe gesehen, dass du in zwei Wochen Urlaub hast.“
„Ja“, bestätigte Chiu Wai. „Ich werde am Meer ausspannen, es scheint auch nichts dazwischen zu kommen.“
„Das ist gut, man muss immer an die Regenerationszeit des Körpers und Geistes denken. Nur dann ist längerfristiger Erfolg möglich. Ich bin froh zu hören, dass du so klug bist.“
Kurz lächelte Chiu Wai seinem Vater zu. „Danke für das Kompliment. Dabei scheinst du nicht immer diesen Weg der Weisheit gegangen zu sein.“
„Ja mein Sohn, spotte nur. Aber ich habe durchaus auch immer versucht, auf diesem Weg zu wandeln.“
Einer der Kellner brachte die ersten Speisen und erfreut besah sie Yeung Ming genau. „Das sieht wunderbar aus!“
Er griff nach seinen Stäbchen, als Chiu Wai die Schälchen mit Reis füllte.
„Das Essen meiner Kindheit. Mein Vater kochte gerne, schade, dass du ihn nicht kennenlernen konntest. Koste von dem sauren Gemüse, wirklich herrlich.“
Er kaute genüsslich. Erst nach einiger Zeit, kam er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen.
Chiu Wai fühlte sich jetzt fast schon sicher, dass er nicht aufgeflogen war. Umso mehr, als sein Vater den ersten Satz sprach.
„Ich wurde von Senator Johnson kontaktiert. Er ließ verlautbaren, dass das Innere Konzil nun endlich die vakante Stelle wieder besetzen möchte. Sie haben einige aus verschiedenen Konzernen ins Auge gefasst. Johnson würde gerne jemanden aus unserem Konzern in den Reihen sehen. Wie ich finde, eine sehr gute Nachricht.“
Chiu Wai nickte und fragte dann: „Ist schon ein Name gefallen?“
Sein Vater lächelte. „Oh ja, der deine!“
Chiu Wai ließ sein Schälchen ungläubig sinken. „Ich bin zu jung, das Konzil würde mich niemals ernsthaft in Betracht ziehen.“
Sein Vater nickte. „Ja, das habe ich zuerst auch gedacht. Aber du bist tatsächlich eine echte Option und nicht nur strategisch zur Nominierung gesetzt. Das Innere Konzil will sich verjüngen, nach Außen eine klar jüngere Aussage vermitteln. Und der Chen-Konzern hat in letzter Zeit wichtige Geschäfte an Land gezogen. Es wird Zeit, dass das auch im Konzil zum Tragen kommt. Nach meiner Einschätzung scheinen deine Karten sehr gut zu sein. Wir wären natürlich hocherfreut.“
„Natürlich“, stimmte Chiu Wai zu. Er spürte eine leichte Erregung, eine, die er diesmal nicht unterdrücken musste, denn diese wurde jetzt sogar von ihm erwartet.
Was bedeutete das für seinen Plan?
„Sollten sie dich auswählen, müssen wir Vorkehrungen für deinen weiteren Werdegang im Konzern treffen.“
Chiu Wai reagierte nicht nur strategisch, sondern spürte ernsthaft Entrüstung in sich aufsteigen. „Ich werde keine Konzil-Marionette für euch. Ich werde nie aufgeben was ich schon halte, sondern nur noch mehr einnehmen!“, sprach er fest, mit leichter Erregung in der Stimme. Und das alles, obwohl er wusste, dass in zwei Wochen dies alles für ihn wahrscheinlich keine Bedeutung mehr haben würde.
„Na na“, wiegelte sein Vater ab. „Habe ich so lange auf dich gewartet, um zu sehen, dass du nur eine Marionette wirst? Siehst du nicht, dass der Sitz im Konzil deine Stellung im Konzern nur noch stärken wird? Aber du musst auch sehen, dass du manche Arbeiten nicht mehr erledigen kannst, da du mit anderen Dingen beschäftigt sein wirst. Doch wir benötigen dich auch weiterhin als Entwickler.“
Yeung Ming schien über das Auftreten seines Sohnes eher erfreut zu sein, als dass er ihm zürnte. Trotzdem senkte Chiu Wai sofort seinen Kopf. „Verzeih Vater, ich wollte nicht unhöflich sein.“
Sein Vater lachte. „Ich vergebe dir, ich weiß, dass du selten zur Torheit neigst. Dein Geist lässt dies nicht zu.“
Chiu Wai ließ den Kopf gesenkt, vor Ehrerbietung, aber auch um den Zweifel in seinem Blick zu verbergen.
„In den nächsten Tagen wird sich Johnson bei dir melden. Er wird sich mit dir unterhalten wollen. Vielleicht wird er vor deiner Tür erscheinen oder dich zum Tee einladen. Sei vorsichtig. Nicht nur, weil er dich auf seine Seite ziehen will und du ihm natürlich für die Nominierung erst zu Diensten sein musst, aber auch, weil immer noch die Gefahr besteht, dass deine Nominierung anderen Zwecken dient. Der Chen-Konzern könnte ihm zu mächtig geworden sein, oder aber er will etwas, was wir ihm nicht geben können.“
Sein Vater sah ihn eindringlich an, dann legte er die Stäbchen beiseite und rieb seine fein manikürten Hände an einer Stoffservierte ab.
„Wie gesagt, sei vorsichtig und versuche heraus zu bekommen, was Johnson wirklich will.“
Chiu Wai nickte.
Auf dem Rückweg zum Büro sprachen sie über Interna und trennten sich im Aufzug. Zurück im Büro musste Chiu Wai seine Gedanken erstmal zurückdrängen. Der Konzernalltag ließ dies nicht zu. Die Sonne war längst untergegangen, als er sich mit der Bahn in einem Einzelwaggon auf den Heimweg machte. Auf den Fenstern lief ununterbrochen Werbung, nur von Kurznachrichten und Konzilansprachen der sehr beliebten Selma Singh unterbrochen.
Erst jetzt erlaubte sich Chiu Wai, an seine persönliche Situation zu denken. Die neusten Vorgänge könnten alles erschweren. Er würde noch weniger Zeit haben, alles zu organisieren. Andererseits könnte er daraus weitere Informationen bekommen. Es ging ihm schließlich darum, so viel Wissen wie möglich zu vermitteln. Er konnte nur hoffen, dass er sich in seinen Annahmen nicht täuschte. Sonst war alles umsonst.
Was sollte er sonst tun, als alles auf eine Karte zu setzen? Er hatte keine andere Wahl. Dabei waren die Headware sowie die Biochips in ihm ein Fluch und ein Segen. Er hatte nicht nur Zugang zu dem internen Netz des Konzerns und manch Interna seiner Kaste sowie zum öffentlichen Netz, sondern alle Personen in diesen Netzabschnitten konnten ihn erfassen. Es war normal für alle Netzmitglieder Schilde aufzubauen. Nicht nur zur Konzernpolitik wurde es als angemessen angesehen, sondern auch zur Wahrung der Privatsphäre. Allerdings eben nur, soweit es im Dienste der Konzerne und des Inneren Konzils stand, darüber hinaus war ein Konzernmitglied verpflichtet sich seinen Vorgesetzten und Teammitgliedern zu offenbaren. Bei Geheimnissen hieß es also, höchst unauffällig seine Aktivitäten zu wahren. Chiu Wai war ein Genie darin, seine Schilde wirkten harmlos auf dem ersten Blick. Allerdings wussten natürlich seine Kaste und sein Konzern über dieses Können, weshalb er noch mehr auf der Hut sein musste. Er hatte somit nicht nur die allmonatlichen Befragungen zu fürchten.
Und was ihn durchaus noch mehr belastete als das war, dass er nach seinem Verrat nie wieder in sein altes Leben zurückkehren konnte. Es war mehr als wahrscheinlich, dass er dabei sterben würde. Ein Leben außerhalb war ihm nicht möglich. Wie sollte er sich verstecken können? Es sei denn, die Monarchen würden ihn schützen. Doch Chiu Wai machte sich wenig Hoffnung. Die Geschichte zeigte, dass man meist mit dem Boten, der schlechte Nachrichten brachte, nicht gerade freundlich umging. Erst recht wenn dieser sich als Spion herausstellte.
Die Monarchen! All seine Hoffnungen lagen auf ihnen. Auf ihnen und Porphyria!
Er schloss die Augen, überprüfte wieder seine Schilde und rief dann in seinen privaten Dateien ein Video auf. Es war eines der Videos welches meistens Netzkids und Läufer ins Netz stellten. Es zeigte eine Läuferin auf einem Parcour. Die Qualität war extra gedrosselt und zusätzlich trug sie Maske, Mütze und Handschuhe. Es war keine Haut zu sehen. Sie war in der Szene berühmt und die Miliz versuchte sie schon seit Jahren zu bekommen, doch außer ihrem Läufernamen und ihren Taten war nichts bekannt: Porphyria.
Seitdem Chiu Wai eines Abends über dieses Video gestolpert war, hatte sie ihn gefesselt. Erst war er nur begeistert über diese Körperbeherrschung und Schnelligkeit gewesen, dann hatte er versucht mehr über sie rauszufinden. Das war vor fünf Jahren gewesen. Porphyria, sie ließ ihn nicht mehr los.
Wieder sah er ihr zu, wie sie den Parcour auf den Dächern von Hochhäusern meisterte, schnell und effizient waren ihre Bewegungen. Sie machte nicht wie andere unnötige Rollen und Sprünge, was nicht nur an ihrer schnörkellosen Technik lag, sondern daran, dass sie mehr kletterte als andere. Am Ende des Videos wurde ein Text eingeblendet: „Lang lebe der Widerstand!“
Das war das erste Rebellen-Video gewesen, welches Chiu Wai jemals gesehen hatte. Natürlich wusste er wie jeder andere auch, dass es die Rebellen gab. Die meisten waren Kids aus den unteren Distrikten, die in ihrer Jugend rebellierten, um schließlich doch Fabrikarbeiter zu werden. Einige wenige von ihnen waren aber nicht nur Läufer, die sich einen Scherz erlaubten die Miliz mit ihren Läufen reinzulegen, sondern hatten sich zu einer eher losen Organisation zusammengeschlossen. Ihr Ziel war der Sturz der derzeitigen Regierung.
Das Konzil und die Konzerne hielten sie für ein kleines Ärgernis, wobei sie zugeben mussten, dass sie unter den Rebellen litten. Immer wieder schafften sie es ihnen kleine Stiche zuzufügen und außerdem fanden sie in der Gesellschaft viel Rückhalt. Es war äußerst schwierig einen Läufer zu schnappen und bevor man sie über ihre Strukturen befragen konnte, töteten sie sich selber oder aktivierten einen Hirnchip, der eine dauerhafte Amnesie auslöste. Kaum ein geschnappter Läufer oder geschnapptes Netzkid konnte zum Sprechen bewegt werden.
In den Augen des Konzils galten die Läufergruppen als mafiöse Vereinigungen, nicht nur im politischen, sondern vor allem auch im wirtschaftlichen Sinne kriminell. Sie handelten mit verbotener Ware, infiltrierten das Netz und versuchten die Arbeitsabläufe der Konzerne zu sabotieren.
Porphyria war eine der schillerndsten Figuren dieser Welt. Zuletzt hatte sie für mehrere Stunden die Arbeit von mehreren Konzernen lahmgelegt. Erst nach drei Stunden war einer der Hauptsplitspots wieder unter Kontrolle gebracht. Allerdings hatte es viel länger benötigt, um den Virus in Form einer Textnachricht zu entfernen, die Porphyria über den Splitspot in Umlauf gebracht hatte. Sie enthielt die Aufforderung an die Konzerne zur absoluten Kapitulation.
Natürlich lachten die Frackträger über diese unverschämte und überzogene Forderung, aber dabei zeigten sich Sorgenfalten auf den Stirnen.
Chiu Wai hatte, nachdem er vor drei Jahren die Machenschaften der Konzerne, insbesondere seines eigenen, erfahren hatte, sofort an Porphyria denken müssen. Sie bedeutete für ihn Hilfe. Sie konnte ihm die Chance ermöglichen, die er benötigte.
Manche Läufergruppen finanzierten sich dadurch, dass sie hohe Kastenmitglieder entführten und Lösegelder erpressten, die Läufergruppe um Porphyria sah sich eher als Dienstleister. Zumeist arbeiteten sie mit Informationen oder aber betätigten sich klassisch als Kuriere. Chiu Wai hatte selbst schon die Dienste dieser Kuriere in Anspruch genommen. Er nutzte Hard- und Software, die höchst illegal waren, manche hatte er sogar zu Konzernzwecken eingesetzt.
Seine private Vernarrtheit in alles, was sich um Porphyria drehte, hatte ihm also durchaus im geschäftlichen Sinne Vorteile gebracht. Er hatte Kontakte aufgebaut, zuerst nur um mehr über sie zu erfahren, nachher um noch schnellere und bessere Hardware zu beschaffen, schließlich hatte er einige der Arbeitsschritte der Netzkids adaptiert und war somit zu einem der besten Computerentwickler in seiner Branche geworden.
Zu Haus in seinem Apartment angekommen ging er seine Privatnachrichten durch, eine Freundin erinnerte ihn an ihre Gotcha-Verabredung, ein entfernter Verwandter lud ihn zu seiner Hochzeit ein und dann erklang die Stimme eines vollkommen Fremden. „Hey Alter, wollte dich daran erinnern, deine Sonnenbrille mitzunehmen. Ich leihe dir am Strand diesmal nicht meine. Weißt ja, wie die Sonne zur Mittagszeit am Beach brennt. Mann, das wird großartig, ich freue mich schon auf die Mai Tais! Wir seh’n uns dann.“
Er setzte sich auf sein Sofa, ließ die Nachricht nochmals laufen und untersuchte sie. Ein sehr gut gemachtes Fake, die Stimme war elektronisch generiert.
Er konnte es kaum fassen. Es musste sich um eine Nachricht der Rebellen handeln. Ob dies eine Nachricht des Operators selbst war? Würde er ihn endlich selber treffen. Sie waren auf jeden Fall sehr gut, denn er hatte ihnen bisher seine eigene Identität nicht zu erkennen gegeben. Wahrscheinlich war diese Nachricht ein Hinweis an ihn keine Spielchen mit ihnen zu treiben und außerdem hielten sie es wahrscheinlich nach einem Monat an der Zeit direkten Kontakt zu ihm aufzunehmen.
Mai Tais und Beach, er kannte eine etwas zwielichtige Bar mit dem Namen „The Beach“, sie war legendär. Sie befand sich im mittleren Distrikt, dort suchte legales und illegales, reiches Klientel seine Vergnügungen, allerdings nicht um 12 Uhr.
Chiu Wai durchdachte seine Möglichkeiten auf dem Laufband, das Essen mit seiner derzeitigen Freundin, Wenda, sagte er ab.
Nach dem Workout versuchte er die Nachricht zurückzuverfolgen, allerdings erst nur mit mäßigem Erfolg. Erst nach zwei Stunden hatte er eine heiße Spur, der er erregt folgte. Sie waren wirklich gut. Ihre Vorgehensweise alles andere als konventionell. Chiu Wai ging davon aus, dass die meisten Spezialisten aus seinen Kastengraden nichts damit hätten anfangen können. Schließlich fand er einen Weg, um ihnen ebenfalls eine Nachricht zu übermitteln. Er konnte sie zwar nicht komplett ausfindig machen, aber so würde es auch reichen ihnen zu zeigen, dass er nicht irgendeiner ihrer sonstigen Kunden war.
Chiu Wai ließ sich in seinem Arbeitssessel in seinem privaten Arbeitszimmer zurücksinken, überlegte, was er ihnen als Nachricht zusenden sollte, und musste schließlich lachen. Er hatte da einen Einfall.
Nachdem er die Nachricht übermittelt hatte, fuhr er doch zu seiner Freundin und überraschte sie mit einem mitternächtlichen Besuch. Er hatte sich eine Abwechslung verdient.
3. Kapitel
Sie hatten zu mindestens sechs Leuten in der großen Küche ihres Hauptquartiers gegessen. Zandalee hatte erst vor wenigen Tagen mal wieder versucht, durch Farbe den etwas abgewrackten Eindruck zu überdecken. An manchen Stellen der Wand platzte jetzt schon wieder die Farbe ab. Eine Tatsache, die gut zu den etwas heruntergekommenen Metallmöbeln passte. Die Küche der Läufer diente ebenso zur Essenszubereitung und als Hauptversammlungsraum, als auch als Lagerraum. Alles mögliche Zeug lag in den offenen Regalen herum, die großen Tische, die zu einem U zusammengeschoben waren, waren kunterbunt besprüht. Der Raum sah danach aus, als würde er eine gründliche Entrümplung benötigen. Dem widersprachen allerdings vehement die beiden Schatzmeister. Sie beschafften nicht nur alles, was sich ihre Läufer und Computerfreaks, zu denen sie eigentlich selber auch zählten, wünschten, sondern waren auch findige Bastler. Jacz und Matt trennten zwar mehrere Jahre, waren aber ansonsten vollkommen seelenverwandt. Sie horteten alles und hielten alles für nützlich. Zandalee bekam regelmäßig eine Krise und verdonnerte die beiden zum Aufräumen, was sie meistens ignorierten. Allerdings nur bis zu dem Punkt, an dem Zandalee selbst Hand anlegte. Entweder warfen die beiden Typen ihre Lederjacken von sich und krempelten die Ärmel ihrer etwas durchlöcherten Pullover hoch, oder aber sie versuchten, das Leopardenmädchen mit Witzen und Spielen wieder von dem Chaos abzulenken.
Jetzt war dieser Zeitpunkt allerdings längst wieder vergessen, die Regale schienen mit Inhalt überwuchert zu sein und auf den Sitzbänken lagen Gerümpel und haufenweise Klamotten.
Jeffrey pulte von einem der letzten Pizzastücke angewidert Anchovis oder etwas, was er dafür hielt. Laute Musik dröhnte aus den Boxen. Damit versuchten sie die Musik ein Stockwerk höher zu überlagern, Dubrhythmen, mit denen die Sekte allnächtlich zur Mitternachtsandacht sich in Trance zu versetzen versuchte. Schien tagtäglich gut zu funktionieren.
Zandalee und Jacz versuchten sich im neusten Rennspiel gegenseitig zu übertrumpfen und die anderen, außer Jeffrey, sahen gesättigt zu, als die Musik plötzlich ausfiel. Erstmal kein Grund zur Beunruhigung. Der Strom konnte schon mal bei den weniger wichtigen Geräten hier ausfallen. Doch als nach einem kurzen Knacken eine vollkommen fremde Musik einsetzte, blickten die meisten alarmiert auf. Jacz und Jeffrey sprangen sofort auf.
Sie eilten einen Raum weiter zum Computerraum, dort saß schon Eloise. „Eindringling von außen! Keine Ahnung wie das hier rein kommen konnte.“
„Verdammt, isolier das Ding!“, schrie Jacz sie an und machte sich selbst an einer altmodischen Tastatur zu schaffen.
Eloise selber arbeitete mit einer Visualisierung, die für sie zwar nicht notwendig war, aber die Zusammenarbeit mit Jacz deutlich vereinfachen konnte. Sie verschob alle möglichen Datenquader mit ihrer Hand in der Projektion.
„Haha“, giftete sie zurück, während sie fieberhaft weiterarbeitete. Ihr schwarzes Haar, welches ihr in einem glatten Vorhang vor die eine Seite ihres Gesichts fiel, klebte schon an ihrer Stirn. Sie wischte es ebenso wie den Schweiß mit einer eiligen Bewegung weg. Ansonsten blieb sie offensichtlich gewohnheitsmäßig ausdruckslos. Ihre helle asiatische Haut bot den Kontrast zu dem schwarzen Haar und der ebenfalls schwarzen Kleidung, ein Tanktop und Leggins. Sie war barfuß. Da sie meistens die Technik des Bodyjumpings nutzte, um das Netz unsicher zu machen, wollte sie es gemütlich haben. Sie hatte einen Haufen Implantate, die auf ihre Vorlieben und Arbeit ausgerichtet waren. Alle mussten eine Stange Geld gekostet haben, aber sie hatte nie erzählt, woher sie diese hatte.
Währenddessen tönte immer derselbe Loop durch alle Boxen im HQ, die über den Hauptrechner angeschlossen waren. Altmodische Big-Beat-Rhythmen, und eine Frauenstimme wiederholte immer wieder neben jazzigen Klavierakkorden dieselben Zeilen:
„He’s wearing velvet pants.
That’s why she talks to him.”
Mit der Zeit wurde der Loop immer lauter und es dauerte nicht lange, bis alle anwesenden Mitglieder der Läufergruppe im Computerraum standen und den beiden Computerfreaks bei der Arbeit zusahen. Sie fuhren sich durch die Haare und wussten nicht, was sie tun sollten, bis ihnen einfiel, dass ein Angriff auf ihre Computersysteme durchaus auch bedeuten konnte, dass analog ein SWAT-Team der Miliz das HQ entdeckt hatte, oder wer es auch immer diesmal auf sie abgesehen hatte. Darum stürmten zwei von ihnen mit Waffen los zu den Ausgängen und wiederum zwei andere setzen sich an den Überwachungstower und überprüften die Bilder der Videoüberwachung sowie die Bewegungsmelder. Doch sie stellten schnell fest, dass der Eindringling es nur auf ihr Computersystem abgesehen hatte.
Es dauerte ganze fünf Minuten bis Eloise und Jacz den Eindringling lokalisieren und dann isolieren konnten. Nach zwei weiteren Minuten kehrte wieder Stille ein.
Zandalee rieb sich gequält die Ohren, sie reagierte besonders empfindlich auf laute Geräusche. Aber auch die anderen schienen mitgenommen zu sein.
Angel schrie Eloise an. „Verdammt, was war das?“
„Keine Ahnung, ich weiß nicht, woher es kam. Es war einfach plötzlich da.“
Sie nahm den Eindringling auseinander, zerlegte ihn in seine Einzelteile. Es waren nicht viele.
„Es besteht fast nur aus diesem Fetzen Musik und einer ganz kleinen Textdatei.“
„Öffne sie“, forderte sie Jeffrey auf.
„Schon geschehen. Ähm, das nenne ich kryptisch.“
„Was steht darin“, fuhr Jeffrey sie an.
„Mach mal halblang“, fauchte sie zurück. „Da steht nur >XOXO, Propellerhead<.“
Zandalee rieb sich immer noch eines ihrer Ohren und meinte genervt: „Was soll der Scheiß bedeuten?“
Alle wandten sich allerdings vollkommen perplex zu Jeffrey, denn dieser hatte plötzlich angefangen zu lachen.
„Alter, bist du irgendwie übergeschnappt?“, fragte ihn Matt und klopfte ihm überprüfend gegen den Kopf.
„Offensichtlich“, stimmte ihm Jeffrey immer noch gut gelaunt zu und schob ihn zur Seite.
„Mann Jeffrey, erklär dich!“, rückte ihn jetzt auch Angel näher. Alle waren immer noch total aufgekratzt vom Schock, der Angst, dem ganzen Adrenalin, welches plötzlich in ihren Blutbahnen pulsierte.
Jeffrey zog einen Bürostuhl mit Rollen zu sich und setzte sich. Immer noch lachend rieb er sich über die Stirn. „Verdammt, das ist echt ein eiskalter Typ! Eigentlich wollte ich ihm beweisen, dass wir ihn in der Hand haben und er keine Spielchen mit uns treiben kann. Und dann zieht er diese Nummer ab. Ich bin froh, dass der Typ auf unserer Seite ist.“
„Würdest du endlich aufhören so einen Müll zu labern und dich verdammt noch mal verständlich ausdrücken? Guck dich um, keiner versteht dich hier.“
Fast alle im Raum sahen so aus, als würden sie Jeffrey den Kopf einschlagen wollen. Angel hatte offensichtlich genau das ausgesprochen, was alle anderen auch dachten. Nur Eloise hatte sich in ihre Ecke des Raumes zurückgezogen. Sie war wie immer kalt wie ein Eisblock und arbeitete fieberhaft an ihrem Tableau, wahrscheinlich hatte sie entschieden, sich lieber selber Antworten zu geben. Irgendwas würde der Eindringling schon sagen. Und bis dahin konnte sich Jeffrey ihrer Meinung nach ruhig Zeit lassen.
„Propellerhead, schon mal gehört?“, fragte Jeffrey die anderen, nun die amüsierte Ruhe selbst.
„Keine Ahnung was das bedeuten soll“, meinte einer von ihnen und die anderen zuckten auch nur mit den Schultern. Dann kam aber aus Eloises Ecke eine Antwort.
„Ich bin einer.“
„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte Matt, zog einen Schokoriegel aus seiner Brusttasche und fing an ihn zu essen.
„Eine schön bildliche Benennung von Computernerds“, klärte sie Jeffrey weiter auf. Und Eloise fügte dann hinzu. „XOXO, also Kisses… es handelt sich also bei Propellerhead um den Absender. Außerdem habe ich gerade rausgefunden, dass der Loop aus einem alten Lied von zwei Typen war, die sich Propellerheads nannten. Außerdem kann ich euch sagen, dass dieser Propellerhead wirklich ein Meister seines Faches ist. Das Ding ist wie Magie hier eingedrungen.“
Jeffrey verzog leicht schuldbewusst das Gesicht. „Na ja, um ehrlich zu sein nicht einfach aus Magie. Er hat meine Nachricht zurückverfolgt.“
„Okay, jetzt fang endlich von vorne an“, forderte ihn wieder Angel auf und sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust. „Du hast uns wirklich einiges zu berichten!“
Jeffrey nickte entwaffnend. „Es handelt sich bei dem Typen um den Personentransport und um unseren Auftraggeber.“
Alle begehrten wieder auf. Die meisten wussten noch gar nichts vom Auftrag und die anderen wussten offensichtlich nicht so viel wie Jeffrey.
„Der Nerd ist unser Auftraggeber?“, fragte auch Angel entgeistert.
„Genau, und das eben war seine Art mir mitzuteilen, dass er zu der Verabredung kommt. Außerdem hat er uns verraten, was er für eine Hose tragen wird.“ Jeffrey lachte wieder.
Die meisten beruhigten sich als Jeffrey zu erklären anfing. Er ließ Eloise seine Plandateien aufrufen und sie guckten sich alles an. Nur Angel hatte die Arme verschränkt und ihre hohe Stirn war zornig in Falten gelegt.
„Hattest du nicht gesagt, dass der Auftraggeber ein Insider sei? Und jetzt willst du uns erzählen, dass dieser Insider gleichzeitig unser Spezialist ist, um den Splitspot zu knacken? Du scheinst überhaupt keine Ahnung zu haben, auf was du dich da einlässt, du verdammter roter Sturkopf!“
„Na na Blondi!“, ließ sich Jeffrey nicht so leicht aus seiner heiteren Laune bringen. Er neigte sowieso nicht dazu, leicht in Wut zu geraten. „Ich mache schon meine Hausaufgaben. Ich bin nicht so lange im Geschäft, weil ich Glück hatte. Und das solltest du eigentlich auch wissen …“
Er strich ihr mit seinem Zeigefinger durchaus zärtlich über die Stirn und blickte, seine Größe ausnutzend, gutmütig auf sie herab.
„Und außerdem werden wir ihn doch morgen mal genauer unter die Lupen nehmen. Das, was er mir bisher an Info geschickt hat, hat sich alles übrigens als vollkommen wahr herausgestellt. Um ehrlich zu sein wahrer und heißer als alles, was wir in letzter Zeit zu Gesicht bekommen haben.“
Er strich ihr durch das lange, seidige Haar und meinte sie aufziehend im väterlichen Tonfall. „Ich denke sogar darüber nach, ob ich dich zum Treffen mitnehmen soll.“
Die anderen, außer Eloise, im Raum johlten und Zandalee gab Jeffrey den Ratschlag: „Ich wäre vorsichtig, wenn ich so mit Angel umgehen würde.“
Just in diesem Moment boxte ihn auch schon Angel in den Magen, allerdings nur leicht. „Natürlich wirst du mich mitnehmen. Dir wird gar nichts anderes übrig bleiben.“
Jeffrey rieb sich nur vergnügt den Magen und schlenderte wieder in die Küche. Er hatte schließlich sein Essen noch nicht beendet.
Angel ging ihm nach, der Rest der Läufer verteilte sich wieder in den Hallen des HQ oder aber in ihren sonstigen Nachtaktivitäten. Die Zwillinge waren sowieso noch auf einem Lauf.
„Jeffrey, du kannst doch jetzt nicht ans Essen denken!“, merkte sie entrüstet an.
Jeffrey saß schon wieder und griff nach der kalten Pizza. Er bewies ihr genau das Gegenteil. Kauend blickte er nun zu ihr auf und sie diesmal auf ihn herab. Sie hatte ihre grazilen Hände in ihre schmale Taille gestützt und Jeffrey stellte mal wieder fest, dass man niemals denken würde, dass dieses Mädchen eines der zähesten Hunde war, die er je kennenlernen durfte.
„Ach und wieso bitte nicht?“, fragte er und griff schon nach dem nächsten eingeweichten Pizzastück.
„Na zum einen, weil wir einen der größten Coups überhaupt planen, und dann zum anderen, weil wir gerade von unserem Auftraggeber, anscheinend ein kleiner Frackträger, gehackt wurden!“
Angel riss die Hände hoch. „Da kann man doch nicht ans Essen denken! Außerdem ist kalte Pizza widerlich.“
Sie zog sich entnervt einen Stuhl heran und setzte sich seufzend neben Jeffrey.
„Willst du nicht noch mehr Vorbereitungen treffen?“
„Wieso? Eine Vorbereitung ist das Treffen“, entgegnete er weiterhin gemütlich kauend. „Und dann darfst du ihn dir auch angucken und Eloise wird sich einklinken und gucken, ob er auch brav mit offenen Karten spielt.“
Dann gab er zu, anscheinend den Abend nochmals überdenkend: „Soweit wir ihm eben in die Karten gucken können.“
„Oh Mann, du kannst einen echt schaffen.“
„Ich weiß“, grinste Jeffrey. „Nicht nur deshalb rate ich dir dich hinzulegen. Ich würde ja gerne mitkommen, aber nach deiner Aussage hast du ja nicht so sehr Verlangen nach meiner Gesellschaft in deinem Bett.“
Im Aufstehen schon begriffen grummelte sie nur noch: „Jetzt noch viel weniger.“
Er hatte Glenda benachrichtigt, dass er erst am Nachmittag ins Büro kommen könne, da er Termine hätte und ein entwicklungstechnisches Problem beheben wolle. Es war keine Seltenheit für ihn, dass er nicht immer im Büro anzutreffen war. Entweder er war zu Hause, oder aber auch häufig in den Entwicklungsräumen des Konzerns. Glenda war also nicht verwundert. Wenn etwas war, wusste sie schließlich, wie sie ihn erreichen konnte.
Bevor er am Treffpunkt erscheinen wollte, hatte er noch etwas zu erledigen.
Er ging zu seinem üblichen Herrenausstatter, der erstmal die Augen aufriss, als er sein Anliegen hörte. Allerdings war er ein gut ausgebildeter Mann und immer bereit alle Wünsche seiner Kundschaft zu erfüllen, auch wenn sie sehr außergewöhnlich sein sollten. Und dieser Wunsch war nun wirklich nicht das Obskurste, das ihm in den Jahren als Herrenausstatter begegnet war. Allerdings war er ausgefallene Wünsche nicht von diesem Herrn gewohnt.
Dieser junge Herr war zwar modisch immer einwandfrei gekleidet und hatte einen sehr exquisiten Geschmack, aber war doch eher pragmatisch seiner Geschäftswelt angeglichen. Einen samtenen Anzug hatte er jedenfalls niemals zuvor verlangt. Er hatte Kunden, die solche Wünsche hatten, keine Frage, aber das waren selten erfolgreiche Geschäftsmänner der oberen Kasten.
Chiu Wai wartete geduldig mit einer Tasse Tee in der Hand in einem großen ledernen Sessel und sah zu, wie sich sein Herrenausstatter bemühte seine Wünsche zu erfüllen.
Nach gut einer Stunde verließ er den Laden in einem feinen Samtanzug. Schwarz mit einem anthrazitfarbenen Hemd und einer schwarzen schmalen Krawatte. Ton in Ton schillerte auf ihr seiden ein aufwendiges Paisleymuster, das gleiche, welches auch die Weste zierte. Ein schwarzer Hut und sein ebenfalls schwarzer Sparzierstock, einer seiner ständigen Begleiter, komplettierten das Bild. Er sah aus, als gehörte er in ein vergangenes Jahrhundert. In dem spiegelnden Ladenfenster sah er sich nochmals prüfend an. Er war zufrieden.
Er war eindeutig durch Anzug, Stock und Hut als Frackträger zu erkennen, fiel aber durch den Stoff vollkommen aus der Rolle. Elegant, durch seine Bewegungen und durch den hochgewachsenen, athletischen Körper erstaunlich männlich wirkend stand er da. Er strich sich die lange Haarsträhne aus der Stirn, als er sich zusätzlich eine schwarze Sonnenbrille aufsetzte, und wendete sich um, um einen Einzelwaggon der Bahn zu besteigen, die ihn zu der Bar in den mittleren Distrikten bringen sollte.
Sie brachte ihn tiefer als er es in seinem Alltag gewohnt war. Aber Chiu Wai war, anders als andere Frackträger, schon in den Untersten Distrikten gewesen und hatte weder mit der Luft, noch damit zu kämpfen, dass man unten nicht mehr den Himmel sehen konnte. Die Untersten Distrikte waren unterirdisch, die Straßen in ihnen eigentlich nur gigantische Flursysteme. Einige dieser Distrikte stammten noch aus der Zeit der Kriege und folgenden weiteren Klimakatastrophen. Damals boten sie für Menschen nahezu eine der wenigen sicheren Orte dar. Jetzt wurden sie von vielen als das Menschenunwirtlichste bezeichnet und Architektur- und Sozialreformatoren forderten bessere Bedingungen. Die Bewohner der Distrikte waren meist mit dem Überleben so sehr beschäftigt oder konnten sich ein anderes Leben kaum vorstellen, dass aus ihren Kreisen kaum Unmut zu hören war. Wenn man natürlich von den Rebellen absah, die von allen Unteren Distrikten Zuspruch erhielten. Die Rebellen kämpften den Kampf, für den die anderen keine Kraft, keinen Mut und vor allem wohl keine realistische Hoffnungen hatten. Die Rebellen waren für die breite Masse so etwas wie eine Erinnerung an einen schönen Traum, einen Traum, den sie mal geträumt hatte und nicht ganz aufgeben wollte.
Chiu Wai erledigte auf der Fahrt einige seiner Arbeiten, sodass sein Fehlen dem Konzern nicht auffallen konnte. Trotzdem konnte er das Gefühl der Aufregung nicht ganz unterdrücken. Der erste Kontakt. Es fühlte sich so an, als würden seine langjährigen Bemühungen endlich Früchte tragen, als würde alles endlich Form annehmen. Und außerdem erkannte er, dass er die Hoffnung hegte, nicht nur den Roten Erik zu treffen sondern vor allem Porphyria.
Würde sie ihn, wenn sie denn tatsächlich vor ihm stand, immer noch so sehr faszinieren? Mit leichtem Bedauern meinte er zu wissen, dass dies nicht sein könnte. Er hatte zu viele Jahre von ihr geträumt. Wie sollte diese Frau seine Träume und Vorstellungen erfüllen oder gar übertreffen können? Entschieden schob Chiu Wai diese Gedanken zur Seite, aber nicht ohne festzustellen, dass ihn trotzdem nichts daran hindern würde, sie nun tatsächlich kennenzulernen. Es war wie in dem Märchen von König Blaubart. Er konnte nicht anders als die verbotene Tür zu öffnen.
Er seufzte auf. Das schien sein Fluch zu sein. Schließlich war es dieses akribische Aufstoßen von verschlossenen Türen gewesen, das ihm die Machenschaften seines Konzerns, ach, seiner ganzen Kaste enthüllte!
Forschungsdrang und Wissensdurst schlugen eben all zu oft in eine Gier um, in Neugierde. Sollte er über diese seine Eigenschaft glücklich sein? Er war es nicht, auch wenn er gelernt hatte sie zu akzeptieren.
Chiu Wai glaubte nicht an Zufälle, sondern nur an Willen und an die Entscheidung des Menschen. In gewisser Weise glaubte er auch an das Schicksal. Denn für ihn war klar, dass er, einmal einen Weg eingeschlagen, diesen auch bis zum Ende zu beschreiten hatte. Es wäre gegen seine Moral gewesen die Augen zu verschließen oder aber sich einfach umzudrehen und einen anderen Weg zu suchen. Er hatte damals entschlossen mehr zu erfahren und nun musste er eben die Konsequenzen tragen.
Sein Waggon hielt an der angegebenen Haltestelle, nachdem er sich auffällig häufig an verschiedene Bahnen an- und wieder abkoppeln musste. Doch Chiu Wai bekam von diesen technisch automatisierten Vorgängen nichts mit.
Er stieg aus und blieb kurz auf der erhobenen Plattform der Bahn stehen, um sich umzugucken, bevor er die Treppe nahm und auf die schmale Straße zu treten. Alte Leuchtreklame zeigte, dass in den schäbigen, angrenzenden Räumlichkeiten diverse Nachtlokale untergebracht waren. Aber die Straße selber war fast leer. Ein Mann fegte vor einem Lokal und ein paar Prostituierte hofften, dass vielleicht doch der eine oder andere Freier in seiner Mittagspause vorbeikäme. Ansonsten waren kaum Passanten zu sehen.
Chiu Wai kannte diese Ebene und Gegend bisher nur am Abend, dann pulsierte hier das Leben.
Als er seine Schritte auf die Bar lenkte, die durch ihre flackernde Reklame nicht nur bestätigte, dass es sich um den Treffpunkt handelte, sondern auch, dass sie auch jetzt schon geöffnet hatte, überprüfte er nochmals seine Schilde und tastete die Umgebung ab. Nichts Außergewöhnliches bisher, allerdings war er auch weit vor der verabredeten Zeit da.
Die Tür stand offen und alte Swingmusik scholl ihm schon vor dem Eintreten entgegen. Im Inneren war alles in ein gelbes Licht getaucht. Lichtreflexe wurden von Prismen schillernd durch den Raum geworfen. Unter dem Glasboden war tatsächlich feinster Sand und die Säulen waren mit kunstvollen, aber kitschigen Palmenmotiven bemalt.
Nur der Tresen war besetzt. Ein Barmann polierte Gläser und ein Paar saß davor und trank sich offensichtlich jetzt schon durch die Cocktailkarte.
Chiu Wai stand in der Mitte des Raumes, blickte sich um, suchte sich dann am Rande eine Sitznische von der er
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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2015
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