Cover

I. Alles in dem Moment, als wir zum „wir“ hätten werden können




1. Das kleinste Übel war der Pirouetten-Schmerz im Kopf, den konnte man betäuben. Erinnerungen nicht, die nicht.



"Doch angesichts dieses gefallenen Vogels ahnte ich bloß, dass ein leichter Windzug enorme Kräfte entwickeln kann", stellte Brandy Alexander schokoladensüß neben mir fest.
Ich nickte nur, leckte an ihm mit meiner Zunge, was die anderen in der Bar durchaus wahrnahmen. Ich prostete John Lennon zu und zog Brandy Alexander noch ein Stück näher zu mir. Obsessionen teile ich nicht, erst recht nicht mit Leuten die tot sind, total tot. Ich bin neidisch auf Menschen die schlafen.
Die muskatnussfarbenen Sommersprossen strahlten wie Sterne, als Brandy Alexander langsam sich vor mir zu drehen begann und sang, er sang schön, weich. Weich im Abgang, ganz ohne Schärfe. Er sang: „Tod ist ein langer Schlaf, Schlaf ist ein kurzer, kurzer Tod…“


Ganz klar, seine Stimme berauschte mich. Ich hielt mich am Tresen fest. Ich hielt mich am Tresen fest, fest mit meinen Fingern, deren Nägel ich heute, am frühen Abend, die Sonne schien noch, lackiert hatte. Ich musste nur einen Finger nach lackieren. Ich lächelte dem Barkeeper zu. Er stellte mir eine frische Schüssel mit Erdnüssen hin. Oh, er hatte meine Nägel bemerkt, auch ihm gefiel die Farbe.
„Sicher, die Farbe steht dir außerordentlich, würde Princess Mary sicherlich nicht stehen. Glaube mir. Ich habe sie kennen gelernt, sie trug weiß. Ich hatte noch keine Sommersprossen“, er seufzte. Und begann wieder von seiner wahren Leidenschaft zu berichten. Der theoretischen Physik im praktischen Gebrauch.
„Alles begann damit, dass der Vogel in einem doch recht unauffälligen Winkel fiel, also nachdem er gegen das Fenster flog. Ja, damals gab es noch nicht diese hässlichen Raubvögelaufkleber. Ich bin mir ganz sicher, dass die auch daran schuld sind, dass die Moderne Architektur heute einfach nur noch widerlich aussieht!“
Er hatte diese bestimmte Art, Schärfe in seinen sahnigen Worten zu transportieren. Manchmal vergaß er meinen Namen, es lag an mir. Es lag schon immer an mir. Aber anders als Honybee

durfte ich ihn immer schmecken, ihn immer mit der Zunge streicheln. Immer.
Immer wieder rutschte mir einer der Träger von der Schulter.
Ich hasste jetzt schon das Morgen, das Morgen an dem mir klar wurde, dass ich nicht alles behalten konnte von dem was mir Brandy Alexander erzählte hatte. Dass es mir peinlich sein würde, weil ich mich nachher noch zu Lennon beugen würde, ihm über den Arm streicheln würde und ihm sagen würde, dass mir das alles so leid tat, das alles, was man mit einem fahrigen Armschlag umreißen kann. Eben genau das.
„Höre mir doch zu!“
Gehorchend fixierte ich ihn wieder.
„Was ist schon ein Vogel ohne das Wohin zum Fliegen?“
„Bist du sicher, dass das Physik ist?“




2. Der Riese und die Erinnerung



Manches vom matten Grün war noch von einzelnen Schneeflecken bedeckt und die beiden saßen auf seiner riesigen Wachsjacke unter einem kahlen Baum. Er hatte seinen mächtigen Arm um sie gelegt, damit sie nicht von der Jacke auf den moosigen, voll gesogenen Rasen rutschte. Kurz hatte sie die Augen geschlossen, als sie tief einatmete und ihm sagte, „Du riechst nach Schafswolle. Ich würde diesen Geruch immer wieder erkennen.“
Und dann strich sie über seinen Zopfmusterpullover.
„Außer dem Scheren habe ich schon so ziemlich alles mit Schafswolle gemacht. Das Waschen ist das ekligste, sie ist wirklich dreckig und danach kriegst Du das ganze Schafsfett nicht mehr von Dir runter. Und dann riechst du nicht nur nach Schaf sondern stinkst. Am liebsten habe ich immer Gesponnen, da ist nicht viel Aufmerksamkeit gefragt, nur Gefühl und Rhythmus.“
Während sie weiter erzählte blickte er auf sie von weit oben herab. Er sah ihren unregelmäßigen Scheitel und das feine Haar, welches genau die gleiche Farbe hatte wie das schwache Sonnenlicht. Es war sanft.
In Gedanken sagte er zu ihr: ‚Wenn Du mich verlässt, dann schenke mir zum Abschied einen Unterrock von Dir. Ich könnte es nicht ertragen nichts von Dir zu haben. Ich möchte etwas was nur Dir gehören kann. Was nicht in meinen Besitz übergehen kann, in meinen Nutzen. Ich will immer wissen können, dass es dich gegeben hat.’
Dann schwiegen sie und er wischte sich nur einmal einen Tropfen von der Nase, der bei einem leichten Windzug vom Baum über ihnen gefallen war.
„Sollen wir über das Wetter reden?“
„Nicht nötig, das Schweigen ist nicht unangenehm.“
„Stimmt, ich bin froh, dass Du mich an der Kasse angesprochen hast.“
„Du hast Kakao im Tetrapack gekauft“, erklärte er sich. Sie lachte.
Es ist wie früher auf dem Pausenhof, entweder Kakao oder Vanillemilch. 30 Pfennig das Kakaopäckchen und 50 Pfennig die Vanillemilch, im Winter wurden sie erwärmt.
„Was hast du gemacht, in dem Jahr, als ich Spinnen und Weben lernte?“
Er überlegte und schließlich: „Ich war Richard-Ashcroft-Double.“
Sie blickte zu ihm auf, „Richard Ashcroft ist aber nicht so groß.“
„Ja, ich wurde auch nur zweimal eingesetzt. In dem einen Video, ich habe eine riesige, hässliche weiße Sonnenbrille auf. Weil ich angeblich nicht seinen Blick habe.“
„Zeig mal!“
„Wie?“
„Guck mal und tue so, als wärest du Ashcroft.“
Er setzte sich cool hin und stützte seine Handgelenke lässig auf die angewinkelten Beine. Sie stand dabei auf und guckte von der Seite, dann kniete sie sich zwischen seine Beine und guckte ihn direkt in das Gesicht, skeptisch.
„Ja, ich sehe das Problem.“
„Was denn?“
„Du hast zu liebe Augen, da fehlt irgendwie die Aggressivität.“
„Ich hoffte das durch eine Lederjacke auszugleichen...?“
„Nein“, meinte sie dann nur entschieden.
„Du hast keine rissige Hornhaut auf der Seele und du bist etwa doppelt zu groß.“
Er zog sie in seine schafswollene Umarmung und drückte sein Gesicht in ihr Haar. Er fühlte ihr Lachen an seiner Schulter, dann legte sie ihre Hände auf seine Schulter, strich wieder über das Zopfmuster. Spielte alsbald mit seinem Ohr, strich über die Rundung, die von dem braunen Locken verdeckt wurde und befühlte die weichte Haut des Ohrläppchens.
„Als Kind trug meine Mutter immer Perlenstecker. Wenn sie mich umarmte spielte ich daran. Sie ließ es nie lange zu.“




3. im Traum gedacht



Hand um Hand.
Ach, langjähriger Freund, ich dachte, Du hättest es verstanden...
Und manchmal ist es besser noch nicht mal der Spatz in der Hand zu sein. Die ganze Zeit erinnert man die Hand, dass das Gefühl der Taube voller, angenehmer wäre.
Dann schreit einem eine der Hände unvermeidbar an, klagt.
„Ich dachte du bist mehr, hast perfekte Zähne und bist ein Vogel von Welt. Dabei bist du in Wirklichkeit Abschaum. Nicht der großen Bewunderung wert, die in mir gärt.“
Es war nie meine Absicht verführend zu singen. Ich singe, weil ich es kann. Ich dachte immer es wäre offensichtlich, dass ich der Spatz bin. Und es schmerzt immer wieder zu erfahren, dass man auch nur der Spatz sein kann.
Doch neben dem Unglück das Glück erfahren zu haben, dass es Hände gibt, die den Sperling lieben. Sie sehen das fleckige Gefieder und -trotzdem/deswegen- lieben (Danke).
Hand um Hand.




4. Füchsin im Spiegel



Eigentlich begann alles schon viel früher. Im milchigen Wald wispern die blassen Äste im Aneinanderreiben mir Worte zu. „Anfangen wo es anfängt“

, raten sie mir wiederholt und ich blicke in der dunklen Nacht ratlos zu ihnen empor. Ich weiß, dass ich den Weg in den Wald antrat, weiß, dass ich davor ruhte, den Atem der Anderen hörend, schlafschwer und selbst verloren, aber ich weiß nicht wie es begann. War es, als einzig der Badezimmerspiegel Zeuge wurde, der Moment, in dem ich mit jedem Ertrunkenen mit zerbrochenen Flaschen angestoßen hätte, die aufgedunsenen Fleischfetzen auch an mir ahnend und die weißen, bloßen Knochen eifersüchtig ersehnend? Oder war es der Moment von vielen, als der Mann mit den schwarzlistigen Augen begehrlich das gefiederte Weib betrachtete, ihren Puls jambisch erroch und die Füchsin neben ihm vergaß?
Wo begann es? Wo verlor ich die rosigweiche, linnene Unschuld? Ich tappe immer noch mit erhobenem Blick samtpfotig zwei Schritte zurück und spüre die Umarmung eines Baumes. Seine Rinde säuselt leiser als die Äste, aber mein Ohr ist dicht, streift seine grünflechtige Haut und hört alles: „Die Zeit vergeht. Horch, die Zeit vergeht.“


Ermahnung, Erinnerung? Und ich denke nach und sehe den alten Bekannten in der Dunkelheit blass und pockenzernarbt durch den Chor der Äste starren. Hatte er mir nicht selbst gesagt, dass er keine Mutter hatte, die ihn nicht ermahnte nicht zu kratzen? Er war immer einsam und ist trotzdem immer Zeuge. Hat er nicht die gleiche Form wie der Spiegel? Sind sie dieselbe Person, ein silbern schimmerndes Symbol? War er es nicht, der mein Glück vor Eifersucht nicht ertrug und mir die Wahrheit zeigte. Damals, vielleicht als alles begann, ich noch mandeläugig mit offenem Blick nicht geblendet wurde und es nur die Dämmerung gab. Auf meinem Weg hielt er mich an und zeigte auf sich, forderte mich heraus ihn zu betrachten. Er erfand mein Spiegelbild, erschuf mich nach seinem Ebenbild. Und hoffte sein Leid zu teilen. Doch geschenktes Leid gehorcht nicht der Mathematik und wächst beim Teilen immer um das Doppelte. So dass wir nicht gemeinsam tragen, sondern im Hass nur immer das Selbe sind.
Ein Schluchzen bellt aus meinem Mund, und die gespaltene Rinde schluckt meine Träne. Und tröstend singt sie im Bass mir zu, und der mehrstimmige Chor der Äste stimmt bald mit ein. „Ich werde dein gottgegebener Garten sein, weine nicht, wir können der Himmel auf Erden sein…“
Ich höre nicht, ich fühle nur die blutige Fährte. War der Anfang gesetzt, war mein kindgleiches Glück verloren, als ich die liebeskranken Federkugeln mit dem gurrenden Kropf das erste Mal schmeckte? Ihre Hälse waren flaumweich und ich schmeckte auf ihnen den genießerischen Speichel meines rotstromigen Geliebten. Nach den ersten gierigen Schlucken seiner Gier und der federleichten, nun blutigen federleichten Seeligkeit stieß es mir übel auf. War das der Beginn? Als sich meine schlanken Zähne das erste Mal rot färbten?
„Aber eigentlich begann alles schon viel früher“, säuselnd die Blätter

(kursiv= Zitate aus Dylan Thomas: Unter dem Milchwald)


5. Energiesparlampen, oder Hysterie am Telefon



Struck warnt also, dass es zu einer Hysterie kommen könnte in Bezug auf Klima und dieses… dieses Umweltgewäsch… Ja… wie kommt der eigentlich dazu sich zur Umwelt zu melden, ist doch gar nicht militant? Ist doch gar nicht… afghanistan- mehr gesagt hindukuschtauglich… Na ja, ist ja auch gar nicht mehr seine Sache. Viel mehr so Fußball jetzt… weiß zwar immer noch nicht was das mit Umwelthysterie zu tun haben will, aber jedenfalls bin ich heute über dieses Thema zum nächsten Thema im Gespräch mit meiner Mutter gekommen. Nämlich Energiesparlampen. Ich wollte einfach nicht mehr hören, was meine dreijährige Pflegeschwester jetzt kann, was mein degenerierter Bruder jetzt über das Altenpflegesystem zu sagen hat und inwiefern es ungerechtfertigt war, dass der Freund meines Pflegebruders ihm seinen Fuß, samt Straßenschuh ins Gesicht gerammt hat und das mit teurer Brille darin… Ich dachte also nach, Wetter hatten wir schon abgehakt, denn meine Mutter kam gerade aus dem Garten, hatte den Ginster zusammen gebunden und ein paar Christrosen von irgendwelchen Wildkräutern befreit. Ich blickte mich also in der vollgekramten Wohnung um und sah zu leuchtenden Lampe an meinen Schreibtisch, sie klackert schon manchmal verdächtig und hin und wieder fällt sie aus. Ich habe mal gehört, dass das ein untrügliches Zeichen ist, dass bald die Glühbirne ihren Geist aufgibt. Dann sah ich in meinen Medienticker etwas zu Energieeinsparungen in den heutigen Krisenzeiten… Ja und ich Trottel sag einfach lapidar so vor mich in den Hörer hinein: „Ich muss demnächst Glühbirnen kaufen, vielleicht versuche ich es ja mal mit Energiesparlampen.“



Ein unheimlich, verheerender, schrecklicher, furchtbarer, einfach großer Fehler.



„Tu das nicht! Die sind einfach nur teuerer und halten vielleicht gerade mal so lange wie die Normalen und leuchten tun die auch nicht! Ich kenne die, dein Vater fand die Idee auch ganz toll. Und jetzt will die dein Stiefvater, dieser Hypochonder auch noch.“
Ja… während meine Mutter weiter lamentiert, halte ich den Hörer etwas auf Abstand und ich nicke anerkennend, meine Mutter hat den Durchblick. Meine Mutter kennt also die Energiesparlampen dieser Welt. Schön. Ich kenne sie nicht… jetzt wirklich, allerdings gebe ich mal zu bedenken, dass mein Vater schon seit 17 Jahren tot ist, vielleicht hat sich ja was auf dem Energiesparlampenmarkt getan…
Egal wie, die Hysterie ist längst da, ob sie sinnvoll eingesetzt wird wage ich zu bezweifeln.




6. "How much more can you take from me"



“...And asked him over again and again
"Was I too weak ? Was I a child ?
And can't we leave here and start again ?"...”



Bier, Cidre, Rotwein, Whiskey... nicht die Mischung die mein Körper liebt, aber manchmal erscheinen die Gedanken weitaus fließender, gängig, kein Stocken und frei (nachher stellt man fest, dass sie weitaus mehr gefangen waren, immer um denselben Punkt sich drehten, Speichen um die Radnabe waren).



„...Said "I don't mind if you take me down"
And "I don't mind if you break it all"
But "how much more can you take from me"
"How much more can you take from me"...”



Erstaunlich. Immer wieder erstaunlich, dass Du mir so viel vergeben musst. Umso älter ich werden, umso schlechter werde ich. Ist das auch eine philosophische Richtung? Neben dem Wolf in der menschlichen Haut und dem Mensch, der an sich gut ist, aber durch die äußeren Umstände schlecht wird, gibt es da den, der durch das Alter allein schlecht wird?
Egal ob Du mich herunterziehst, mich überspannst, mich dehnst, von mir Wachstum verlangst, der mich zerbricht, vergieb mir.



„..."I'd like to take you inside my head"
"I'd like to take you inside of me"
"You came from heaven is all he said"
"You came from heaven and came here to me
And I love you

He drove it fast to make the night...”



Aber den Wolf, um ehrlich zu sein, den fühlte ich immer in mir, habe immer gefürchtet, dass er gesehen wird. Es soll nicht nur Dein Schaden sein. Denk an den Wolf ohne Fuß, keine Seltenheit. Denn auch wenn der Wolf schlecht ist, er liebt tief. Erstaunlich tief. Verzweifelt endlos, verflucht endlos.
Zerbreche, aber vergesse das Vergeben nicht... Vergiss es bitte nicht, ich bin nur ein Wolf.



„…Deep in the sky a storm he'd seen
Deep in the sky a storm he'd seen...”[1]



[1]PJ Harvey: No Girl So Sweet, auf: Is This Desire 1998.


II. Alltagskarussell




1. Pah, Kinderabteilung



S, ein etwas klein geratener, blonder Junge. Mit einem Herz wie Findus, mit Angst darin, die keine Wetterhexe ertragen könnte, mit begnadeten, zu groß geraten, wie an Welpen schlackernde, Trompetenhänden, deren Fingernägel meist vor Dreck starren. Mit S. also in der Kinderabteilung. Er erzählt mit einem Blick, ich höre zu und lasse meine Hand über weiche Stoffe gleiten. Ohne Rosa wird die Auswahl kleiner. Etwas davon schleife ich hinter mir her in die Umkleide, S. folgt mir vor den Vorhang. Er setzt sich auf einen Schemel und holt seufzend aus seinem Rucksack seinen Musikordner. Durch den Spalt im Vorhang raunt er mir zu, dass er diesen sortieren solle, mit Register. Bei jedem Kleidungsstück sagt er mir einen Titel und ich rate zu der Stelle im Register. Erst bei Azad feat. Adel Tawil: Ich glaub’ an dich

, reiße ich den Vorhang auf.
- „Ihr singt WAS im Chor?“
- „Äh Ai Hua…“
- „Wie führt man so was als Chor auf?“
- „Äh, Ai Hua…“
- „Das ist kitschig wie nichts Gutes…“
- „Äh du…“
- „…also derbe schlecht!!!“
- er schluckt etwas: „Das Oberteil…, also das passt zur Hose.“ Er zeigt auf den BH, den auch alle anderen im Laden anstarren.

An der Kasse deutet die Verkäuferin auf die Strickjacke mit Sternen darauf und meint: „Die ist aber schon eher für Mädchen.
Ich lächle sie breit an und streiche S. die Haare aus der Stirn: „Ja, S. ist sich noch nicht sicher, heute dies morgen das.“
Ich verdrehe die Augen. „Die Jugend, so unbeständig…“
Ich rausche mit meinem Pflegebruder aus dem Laden.




2. Schneeimpression



Beim Müllrausbringen Knirschen mit den Sohlen herstellen. Schneepressen, Wolken blasen, Schneeflocken mit der Zunge auffangen und dabei sich von Nachbarn erwischen lassen. Als ich verspätet in Deckung ging auch noch schnell den Schneeengel fabrizieren, wenn ich könnte, würde ich noch Worte in das Weiß treten… dafür bin ich aber nicht beschwingt genug.
Früher lag höher Schnee, was dem Spielen zuträglicher war. Lag höchstwahrscheinlich daran, dass ich kleiner war. Mit vier konnte man selbst im Norden bis zur Hüfte im Schnee versinken. Wir bauten Iglus in der Sackgasse vor dem frierenden Kiefernwald und rutschten den verwurzelten Waldhang mit selbst designten Plastiktütenschlitten herunter. Damals war der Schnee auch noch nicht so kalt, da konnte man noch barfuss in ihm versinken und fing erst beim dritten Mall Einseifen an zu heulen. Dann wenn die ganze Eissauce einem den Nacken runterrann…
Und jetzt bringe ich im Hinterhof den Müll raus. Der Himmel ist gelbstichig, leicht rosa und in ihm singt der Wind Lieder vom Land der Abenddämmerung. Genauso wie an dem Tag, als eine mir sehr bekannte Familie fast vollständig im französischweinroten Auto saß und nur noch die Mutter das Haus abschloss. Langsam ging sie zum Auto, welches vom Vater schon auf die Straße gefahren war. Dieser hatte auch nichts Besseres zu tun, als, immer im Augenblick, wenn sie fast die Tür erreichte, ein Stück weiter zu fahren. Eine zornige Mutter, die schließlich wütend umdrehte und ungesehen im Hinterhof mit leicht negativer Energie aufgeladen die Glashintertür eintrat. Später hieß es (nicht nur aus versicherungstechnischen Gründen), dass die Kinder bei einer Schneeballschlacht vereisten Schnee gegen die Tür warfen. Die Tochter der Familie glaubte lange daran, dass die Mutter nicht die Tür eintrat, sondern mit einem Schneeball einwarf. Sie versicherte mir Jahre später, dass sie nie stolzer auf ihre Mutter war. Prächtiger Blattschuss würde der Jäger sagen.
Mit den Gedanken bei der mir bekannten Familie warf ich den Müll in die Tonne, wandte einen letzten Blick dem Himmel zu, um wieder im Haus mich zu verkriechen.




3. Alljährliches Happening bei Schlüttsiel



Nichts gegen Schafe, ich halte große Stücke auf sie (auch wenn ich nicht jeder Herde die Aufklärung eines Todes zutraue). Aber auf der Reise vom Norden in den Norden durfte ich sehen, dass Heidschnucken (die Viecher aus meiner Heimat) irgendwie agiler sind als die Deichschafe. Muss daran liegen, dass Schnucken kein saftiges Gras haben und somit durch die Heide traben um genug zu Fressen zu finden, außerdem werden sie des Öfteren von ihren Schäfern durch die Gegend gehetzt, vielleicht würden sie sonst auch viel mehr rum liegen. Jedenfalls tun dies die Deichschafe. Sie liegen herum, fressen etwas, gucken etwas, denken etwas (aber nur etwas), sterben etwas (dabei blähen sie sich etwas unangenehm auf) und scheinen meistens ganz glücklich. Außer, wenn so ein Typ auf dem Fahrrad auf die Idee kommt mit 40 Sachen an ihnen vorbei zu hetzen. Dann schmeißen sie danach ihr Hirn an und überlegen sich, dass sie danach, bei dem nächsten Radfahrer mal weglaufen könnten, dabei queren sie gerne den Weg, das gibt mehr Aufregungspunkte. Am Tag muss man auch mal was wagen um etwas zu erleben, da kommt einem die Kleine auf dem Rad da ganz recht, wenn sie nicht schnell genug reagiert und/oder auf dem Splitt ausrutscht, dann tut die nicht so weh… vielleicht.
Aber wenn sonst kaum etwas auf dem Deich los ist, dann traben sie auch mal gerne als Herde mal etwas los, fressen bei besonders appetitlichen Sonnenflecken mit wenigen Disteln oder aber, und das ist wirklich eine der liebsten Beschäftigungen von Deichschafen, sie stellen Schlachten nach. Sie sollen schon historisch sein, die liebste Schlacht ist dabei seit Jahren die detailgetreue Nachbildung vom cineastischen Meisterwerks Bravehearts. Jedenfalls sind sie überzeugt, dass es detailgetreu ist, schließlich waren sie noch nie im Kino und auch wenn noch nie ein Open Air Kino auf ihrem Deichabschnitt zu Besuch war… Jedenfalls sind sie sogar mit fast blauer, mehr grüner Farbe bemalt, auch wenn es nicht der Schädel sondern eher die Flanke getroffen hat. Aber das von jeder Seite auf einander stürmen, das können sie. Muss man schon sagen. Ich war Zeuge, ich stand in der Generalprobe genau zwischen den Parteien. War eindrucksvoll.




4. Verabschieden, Begrüßen...



I've seen love go by my door
It's never been this close before
Never been so easy or so slow
Been shooting in the dark too long
When something's not right it's wrong
You're gonna make me lonesome when you go



Buschige Eichhörnchen hasten über die leicht gelben Blätter. Auch wenn die Sonne scheint, die orangenen Beeren verweisen mich an den Herbst. Du schließt die Tür hinter Dir, ich höre den Schlüssel noch, Lachen durch die blecherne Übertragung von der Tür. Du wirst es genießen. Ich weiß es.



Dragon clouds so high above
I've only known careless love,
It's always hit me from below.
This time around it's more correct
Right on target, so direct,
You're gonna make me lonesome when you go



Trage ein Buch, fast wie die obligatorische Fußkette mit der eisernen Kugel, mit mir auf den Balkon, sehe die lächerlich federnen Wolken. Und obwohl ich Dich noch im Bad, gerade noch riechen konnte, fehlst Du mir. Die richtige Zeit um Madeleine Peyroux mit den Worten Dylans zu zuhören. Weiches Licht, reife Farben, traurigbeschwingt tanzender Bass.



Purple clover, Queen Anne lace,
Crimson hair across your face,
You could make me cry if you don't know.
Can't remember what I was thinkin' of
You might be spoilin' me too much, love,
You're gonna make me lonesome when you go



Der Bleistift schreibt, mein Blick weiß kurz darauf, fast zeitgleich nicht mehr, was der Gedanke war. Dann kann ich ebenso die Augen schließen, mit geschlossenen Augen den Blick zur Sonne heben und Farben sehen. Helles Blau verfärbt sich zum Meergrün, zum satten Fruchtrot. Und mit der Wiederholung des Liedes kommt auch die Folge der Farben wieder. Bis sich eine vorwitzige Wolke vor die Sonne schiebt.



Flowers on the hillside, bloomin' crazy,
Crickets talkin' back and forth in rhyme,
Blue river runnin' slow and lazy,
I could stay with you forever
And never realize the time.



Eigentlich Zeit den Bleistift wieder fester zu greifen. Nicht die Zeit an Sonnenbrillen mit kupfer-goldenen Bügeln zu denken. Keine Zeit um lächelnd daran zu denken, dass, als ich das erste Mal die Brille sah, an den goldrandtragenden Melrose dachte, der immer den Band mit den gesammelten Gedichten Rimbauds mit sich trug. Für mich hinkt der Vergleich nicht. Ich kenne einen kleinen Teil von Dir.



Situations have ended sad,
Relationships have all been bad.
Mine've been like Verlaine's and Rimbaud.
But there's no way I can compare
All those scenes to this affair,
You're gonna make me lonesome when you go



Ein Blatt fällt mit in den Schoß. Ich hebe es langsam auf, lasse dafür den Bleistift los, wenn auch das Buch in der anderen Hand geöffnet verbleibt. Ich lasse es zwischen den Fingern drehen und sehe im Kreisen mehr Rot als Grün.


You're gonna make me wonder what I'm doing,
Staying far behind without you.
You're gonna make me wonder what I'm saying,
You're gonna make me give myself a good talking to.



Ein paar weiße, fast verwandte Blätter lese ich, lege dann das frühe Herbstblatt zwischen die Seiten und schlage das Buch zu. Ich muss nicht lesen um zu suchen, ich suche überall. Und überall suche ich auch nach Dir, nach mir... und mehr.



I'll look for you in old Honolulu,
San Francisco and Ashtabula,
You're gonna have to leave me now, I know.
But I'll see you in the sky above,
In the tall grass, in the ones I love,
You're gonna make me lonesome when you go.[1][2]



[1] Bob Dylan: You're Gonna Make Me Lonsome When You Go, auf: Blood on the Tracks. 2004.
[2] Vergleicht unbedingt mit der Coverversion von: Madeleine Peyroux auf: Careless Love . 2004.


5. Reisegedanken



Gerade krabbelt ein latzhosiges Baby an mir vorbei. Ich grüße es freundlich. Es ist noch zu klein um Laufen zu können, selbst Stehen wird ihm noch fremd sein, erst recht im strauchelnden Gang; aber dafür hat es perfekte Manieren, es lacht nämlich grüßend zurück. Der Vater des Kindes hatte in seinem Jack Wolfskin- Rucksack –Farbwahl: türkis- einen Drachen stecken. Ich träume mich in ein Schubladenland und stecke Vater und Mutter zu den fast ordentlich gefalteten studierten Eltern. Er: Vollbart kurz gehalten mit John Lennon-Brille. Sie: farblos blond, lieb lächelnd mit Geige auf dem Rücken geschnallt.
Klar, die beiden sind in einer Schublade in meiner Nähe, also vertraut. Mein Blick also vielleicht etwas mies, aber lieb im Herzen.
Die Mutter zwei Reihen weiter lässt mich Dinge durch den Kopf gehen, die mich in ihrer drastischen Hässlichkeit verwundern:
„…wer hätte das gedacht, Bestimmung Mutter, weil was soll sonst… wobei, woher hat die den Mann hergenommen…Whoa, Ai Hua!, ist das der Neid einer kinderlosen Frau? Vielleicht hätte O. sich mit solch einer Frau aus seinem sinnlosen Leben befreien können. Eine Beerdigung weniger…


Aus den Gedanken herausgerissen höre ich den mahnenden Ausruf: „Leeeeeroy!“
„…Nee klar… Vielleicht ist das das neue Äquivalent für Kevin und Yves (natürlich Üffes ausgesprochen…)?

Whoa, geht das schon wieder los? Ai Hua, reiß dich mal zusammen!“


Der Zug fährt in der Stadt ein in der Herkules wohnt wenn er gerade in Deutschland weilt… -außer Dresden… und… und so…-… (Nachtrag: herausgefunden, dass es eine Taste auf der Tastatur gibt, die gleich drei Punkte setzt… Ja, wie geil ist das denn…

)
Der junge Mann, der zusteigt, hat ein Faible für Karos. Etwas skurril zu seinem Skatershorts, -schuhen und der Baseballkappe die auf modern getrimmte Sherlock Holmes-Jacke und der Rucksack in grünen Karos mit Jägerloden abgesetzt. Ich liebe ihn.
Das Baby krabbelt wieder vorbei. Ich nehme ihm das durchgekaute Ticket ab, welches es sich geschnappt hat, und reiche es dem Polizisten neben mir. Der ist schließlich mein Freund oder zumindest Helfer. Der ist auch ganz nett, erklärt aber, dass er kein Ticket benötigt.
Hey, die gute Seele in Grün und khaki fährt schwarz!
Na ja, ganz legal, also nicht schwarz, sondern einfach ohne Ticket.
Ich benötige unbedingt bei meiner Rückfahrt spätestens so eine Uniform!




III. Erinnerungen, „denn wovon lebt der Mensch?“



Anders als Mac aus der Dreigroschenoper von Brecht, halte ich die Erinnerung fürs Überlegen weitaus wichtiger, als das „Vergessen“ darum, dass man ein Mensch ist. Sicher, es gibt manch quälendes Element in der Erinnerung. Aber als unheilbarer Idealist, will ich auch nicht allein von der „Missetat“ leben. Auch wenn auch für mich vor der Moral meist das „Fressen“ kommt.




1. Fiktion und Wirklichkeit



Rapunzel und ich waren Freunde, sie lebte im höchsten Stock in einem hässlichen Block. Ihre Eltern waren geschieden. Und in ihrem Turmzimmer hingen Wendyposter. Wir waren eigentlich total verschieden, aber zumindest aus derselben Stadt und in derselben Klasse. Ihre Mutter war keine Hexe oder böse Fee, sondern hatte nur nach der Scheidung diesen Guru in Indien getroffen.
Rapunzel sprach anders, Sex war etwas für sie was man tat wenn man cool war (für mich etwas was einfach irgendwann dazu gehört. Irgendeinen Vorteil musste doch dieser Körper haben, der einen sonst nur Schmerzen brachte), sie liebte Pferde (Rosa Zeitschriften und geflochtene Mähnen irritierten mich), besaß noch in einer Ecke ein Monchichi, stand immer auf Menschen, die ich total hohl fand… Aber es verband uns auch immer mal wieder etwas. Bücher, die Bibliothek, später immer mal wieder Musik. Wir waren die ersten, die Tampons nicht dazu benutzen um Klingelstreiche noch zu steigern. Und als sie sich in die Punkszene gemütlich einrichtete färbte und rasierte ich ihr die Haare.
Wir trafen uns also häufig und häufig ging es darum, dass wir uns dazu trafen Bücher aus der Bibliothek zu holen um sie dann in ihrem Zimmer zu lesen.
Angeregt warfen wir einmal die Bücher in die leicht verstaubte Ecke mit den Kuscheltieren und nahmen uns vor endlich auch Abenteuer zu erleben. Wir würden, wie die Helden der Geschichte auch einen Fall aufdecken. Die gingen auch nur so vor sich hin und ein dicker fetter Fall flog ihnen vor die Füße. Wir zogen uns also die Schuhe an und sagten ihrer Mutter Bescheid, dass wir draußen wären. Und dann schlenderten wir durch ihr Wohngebiet am Rande der Stadt.
Und tatsächlich fanden wir heruntergekommene gläserne Gewächshäuser. Die meisten Rahmen waren glaslos, mehr gesagt das Glas war verworfen, zeigte Zähne. Wir gingen durch die alten, verbrauchten Acker und fanden schlafende Igel, Müll. In einem Arbeitsraum fanden wir dann die Bottiche, voller Zeichen, die nicht davon kündigten, dass diese Gärtnerei mal auf ökologischer Basis gearbeitet hatte. Wir witterten geschult von unzähligen Abenteuerromanen den Giftmüllskandal.
Wir schlichen uns sogar an den Mann heran, der eben genau irgendwelche Mischungen aus diesen Eimern vornahm. Weißes Pulver (vielleicht doch nur Kalk… oder aber als Blumendünger oder Insektizide getarnte Drogen), welches romantisch im Licht staubte. Leider hat er uns aber gehört. Und wir konnten gar nicht siegesgewissen und mit moralisch geschwellter Brust ihn zur Rede stellen. Vielmehr verjagte er uns lautstark. Wir wären nur wieder welche von den Herumlungerern, die die Scheiben einwerfen würden.
In sicherer Entfernung berieten wir uns und stellten fest, dass wir gar keine Rechte in dieser Sache hatten.
Also gingen wir wieder in ihr Zimmer und schrieben unsere eigenen Abenteuer, wenigstens. War allenfalls besser als sich verprügeln zu lassen.




2. Projektion



Es ist nicht die tickende Uhr, es ist die Traurigkeit zu wissen, dass eine Möglichkeit mehr fort ist das Leben zu leben, welches in meiner Kindheit mir in feinen, freudigen Farben vorgezeichnet wurde. Dass die Möglichkeit im Zyklus mir konvulsiv zerrinnt. Und zu sehen, dass andere in meinen Farben gehen. Jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde nachfühlen jemand anderes sein zu wollen, zu müssen als vorbestimmt, vorgewünscht.
Hätt’ niemand mir das Leben vorhergemalt, verheißungsvoll und gut. Das Ich wäre möglicher, einfacher in sich zu horchen.



- O dieser Hohn!... Dieser Betrug!
- Es ist nicht das eine, nicht das andere – es ist eben das Leben.[1]



[1]Schnitzler, Arthur: Anatol. (Anatols Größenwahn. Der Grüne Kakadu.) Reclam: Stuttgart 2002, S. 87.




3. Nach 18 Jahren ohne Dich



Das Echo eines Lachens, deines. Noch Jahre später habe ich es plötzlich im Wind gehört. Jetzt nur noch Erinnerung. Das erste Mal hörte ich es unter Palmen, dieses körperlose Lachen, kurz darauf holte ich die Krebsnetze ein und sah die malaiische Grenzpolizei auf ihrem Schiff die Strömung nutzen, manch Alligator aufscheuchend. Dabei hatte sie es auf Schmuggler und heimlich Ausreisende abgesehen, die Piraten kamen nur mit der Dunkelheit. Aber dein Lachen kam zu jeder Zeit, immer im leichten Wind, ob in der Menschenmenge der Orchard Road, oder auf der kleinen Insel vor Pulau Ubin, dem Grundstück, welches unseren Freunden enteignet wurde um neues Land zu gewinnen. Ich werde nie wieder zurückkehren, nie mehr auf den Bambusmatten schlafen, die auch du ausgelegt hattest.

Es ist kalt, so kalt, dass du die Ohrenklappen herunter gelassen hast und mich darüber informierst, dass du eine russische Pelzmütze haben möchtest. Von Tierschutz hast du bei aller Liebe zu Tieren noch nicht viel gehört. Mir fällt das erst viele Jahre später auf. Als wir in das Auto steigen machst du zuerst die Heizung an und vergräbst die Hände in das schafspelzummantelte Lenkrad. Deutschland ist einfach zu kalt für dich. Es war ein Zufall, dass du hier gelandet bist, es war eigentlich nur ein Ausflug wegen irgendeiner Fußballmeisterschaft.

„Für welche Mannschaft bist du?“
„Für die die gewinnt.“
Es ging dir gar nicht um die Spiele, es ging dir um die Freunde. M. sagte immer, dass dein Land ja nie mitspiele. Ich denke es ging dir um die Freunde. Sie lasen am morgen zuerst den Sportteil, dann machtest du es eben auch. Du hast dich mit ihnen gefreut, auch wenn es dich an sich nicht interessiert hat.

Genauso die Feiertage. Alle wurden gefeiert, du sahst sie mit Freude. Nicht so kritisch, wie wir heute Muttertag und Valentinstag sehen. Du hast sie gefeiert, weil du diese Kultur ganz begreifen wolltest und die Freude vielleicht besser verstanden hast als ich.
Eine Woche vor jedem Feiertag, sei es Hochzeitstag oder Muttertag, rief deine Schwiegermutter an um dich zu erinnern. Und du hast ihr gedankt. Und du hast die schönsten Schmuckstücke in deiner Schreibtischschublade versteckt, obwohl deine Frau nie so gerne Schmuck hatte wie wir beide.

Dein letztes Geschenk. Es war genau das richtige und genau das falsche. Ähnlich wie bei OHenry. Haarspangen für Haare, die nicht mehr lang sind.
Deine Frau trug immer deine Kette, also ließt du eine ähnliche Kette mit schmaleren Gliedern anfertigen, für einen zierlicheren Hals.
Ein paar Tage nach dem Unfall fand deine Witwe die blaue Samtkassette. Deine Kette trug sie schon.




4. Ich, ein Genie



Es gab die Zeit, als ich ein Genie war. Ein Künstlergenie, ein Genie in fast allen Bereichen eigentlich. In dem des Denkens (etwas ungeformt vielleicht, dafür bestimmt äh… ursprünglich) war ich ganz groß, aber auch im kreativen Liedergut. Ich besang Marienkäfer genauso wie schillernde Pflaumen, die innen allerdings noch sauer waren; aber vor allem war ich ein Genie des Malens. Jedenfalls wenn man ein Genie nur darunter versteht, dass er malen muss (hier nix Qualität, dafür sind andere da).
Alles was halbwegs eine Fläche bot wurde bemalt und wenn ich nur sandigen Boden und einen Finger hatte, egal. Meine Mutter hatte sehr zu leiden, denn auch wenn ich halbwegs sehr wohlerzogen war, Wände waren meine größte Leidenschaft. Natürlich die meines Zimmers, aber auch andere… Natürlich wusste ich früh, dass ich das nicht sollte, darum suchte ich die Flächen, die man nicht so gut einsehen konnte. Als meine Mutter nach acht Jahren den Badezimmerschrank wegen eines anstehenden Umzuges entfernte, hatte ich tatsächlich geschafft mit einen ihrer Lippenstifte dort einen kleinen Baum, sowie eine Wäscheleine mit Kleidern daran zu hinterlassen.
Um meine Malwut irgendwie in den Griff zu kriegen, hatte meine Mutter in meinem Zimmer, als auch in der Küche eine große Rolle Papier an einer Halterung in meiner damaligen Höhe angebracht, so dass ich immer sofort Papier griffbereit haben sollte. Ich fand die Rollen toll, genauso wie die großen Bechern mit den vielen Buntstiften, aber mich reizten die weißen Wände, sowie egal was, was irgendwie Farbe sein konnte.
Bestimmt war ich damals ein anderer Mensch.




5. „Das menschliche Herz schlägt in 70 Jahren drei Milliarden Mal und befördert dabei bis zu 250 Millionen Liter Blut.“ (anonym)



Ich mag keine Herzen!
Jetzt ist es raus, tut mir auch leid, aber es musste mal gesagt werden!
Ich meine jetzt dieses Symbol, welches auf Spielkarten prangt, welches Horchzeitkarten verzieren soll (außer diesen streitbaren Vogel…. Taube), kleine Mädchen überall hinzeichnen, so dass sich auf ihrem Schreibtisch dieses vollbusige Zeichen mit der miesen Spitze auf die Tischplatte abzeichnet, daneben noch der jeweilige Name des angebeteten Jungens –<3Oooh du mein Friedjof <3…
Ich habe nichts gegen die Pumpe (etwa 15 cm groß und 300 Gramm schwer), welche in allen möglichen Lebensformen, stetig bis zum Ende vor sich hin tuckert oder aber unermüdlich malocht, ackert, krampft, pulsiert. Dieses Ding, welches ein Mitschüler von mir als „hässlichen Klumpen“ tituliert hat (keine Frage, er war nicht der erste). In der zweiten Klasse ein Ausspruch, der mich sofort an das Bilderbuch denken ließ, welches bei meinem Zahnarzt auslag. Eines dieser 70er Jahre Bilderbücher, indem man Kindern das Wunder der Medizin näher bringen wollte. Ich frage mich immer noch warum dieser Autor dachte, dass eine Herztransplantation ein Thema für ein Kinderbuch sei? Gerade wenn man auch noch in so einer Art Pixel-Style hat… ein bisschen wie die Raupe Nimmersatt. Und warum dachte der Zahnarzt, dass Kinder zur Entspannung eine Operation am offenen Herzen sehen wollen, wenn sie nebenan den Bohrer (Biene Maya, nee klar, ein ganz netter Bohrer) mies sirren hören…, aber halt, ich komme vom Thema ab!
Zurück zum Herzsymbol.
Mir gefällt die Form einfach nicht. Ich mag sie nicht, sie ist abstoßend. Und dabei mag ich durchaus die Blätterform, egal ob als Feige oder Efeu. Ich alte Kunstdrossel! Und mir wurde versichert, dass die Form der Herzens von diesen abstammt, zum Dekor wurde. Scheiß Verzierungen… jedenfalls wenn es in rosenroten Herzen ausartet, aber da war ja längst die Bedeutung dazugekommen… ewig ist das Stichwort. Was mich befürchten lässt, dass mich dieses Herz auf ewig verfolgt.
Es fing mit einer rosernen Plastikdose an, die mir meine Mutter schenkte, als damit ich Schmuck verstauen konnte, ging über zu einem Glasanhänger, den ich wirklich gut gearbeitet fand (ABER DOCH NICHT FÜR MICH!!!!!!) und dann, ich hatte gerade ein dreiwöchiges Forstbaupraktikum hinter mich gebracht, als mir meine Mutter mitteilte, dass sie meinen Lieblingspullover geflickt hätte, mit schwarzen Lederherzen als Ellenbogenschützern! Einige Jahre wurde mir dann Ruhe gegönnt, bis meine Mutter entdeckte, dass ich Geschenke nicht wegschmeißen kann (das muss so was Moralisches sein), es war Nikolaus und die Tonwichtel habe ich noch immer (aber das ist eine andere Geschichte). Und so schenkt mir fast jedes Jahr mein kleiner Pflegebruder etwas Herziges (ist das Wort nicht zum Kotzen?) für die Wohnung. Habe ich schon erwähnt, dass ich auf 38 qm mit dem Fanatiker, zig Gitarren und einer Konzertharfe lebe? Dabei ist meine Liebe zu Papier in Buch und wohl auch Müllform gar nicht richtig gewürdigt und der Elektrokram, den der Fanatiker zum Leben braucht auch nicht. Na ja und dazwischen hängt die eine oder andere Herzform, immer auch schön groß um die Zuneigung auch zu beweisen, in feiner Laubsägearbeit, mit filigraner Pinselführung und liebenswürdigem Plastikblumenzierrat…
Argh, was werde ich für einen Tod haben, sollte ich vor meiner Mutter und meinem Pflegebruder sterben, werden sie mir in Gemeinschaftsarbeit einen rosernen Herzsarg bauen, die Spitze mit Herzornamenten klöppeln und mich in herzbedruckten Leichtüchern betten…




6. Damals war alles anders



Damals lernten nämlich noch Menschen ihre Lebenspartner zufällig kennen und das auch noch von Haydn umspielt. So erging es jedenfalls einem alten Herrn, der von mir sehr geschätzt wird. Er war, ist eindeutig ein Kulturhumanist, so im positiven Sinne… meistens jedenfalls. Also durchaus nachahmenswert… meistens jedenfalls. Jedenfalls musste ich letztens an ihn denken, denn damals wie heute gab und gibt es ja für einige Menschen auf dieser Welt den heiligen Krieg. Für den Herrn nicht, aber er hatte einst einen sehr geliebten Freund. Und Freunde liebt man nicht nur aus rationalen Gründen, ich habe gehört, dass das heute immer noch so ist… aber zurück zum Herrn mit seinem etwas eigenartigen Freund. Künstlerpack könnte man wohl sagen und das trifft an sich auch auf den Herrn zu, natürlich höchst positiv… meistens jedenfalls. Der Herr studierte gerade in München, entweder Schauspielerei, dann Anglistik und Romanistik (bei der Anglistik sollte er dann bleiben) und was auch immer, wahrscheinlich ein studium universalis (im bescheidenen Bildungsbürgertum verhaftet… Anatol in glücklich lässt grüßen), als seine Hauswirtin ans Telefon rief. Eine Frau, die man irgendwo zwischen Holmes Mrs. Hudson und Miss Marple ansiedeln muss, aber das ist wieder eine andere Geschichte, also zurück zum Anruf. Der damals noch sehr junge Herr wurde also ans Telefon gerufen, daran sein etwas eigenartiger Freund, der ihm pathetisch aber kurz angebunden mitteilte: „Wenn du mich noch einmal lebend wieder sehen willst, dann komme schnell nach Wien, denn ich werde morgen in den heiligen Krieg ziehen!“
Und der damals junge Herr fuhr Hals über Kopf, aber wahrscheinlich mit perfekt sitzender Krawatte mit dem Zug nach Wien. Anscheinend waren manche Äußerungen seines Freundes sehr ernst zu nehmen. Und der damals junge Herr wusste genau, was sein Freund eigentlich mit dem heiligen Krieg meinte. Ans sich wie der ehemals junge Herr aus einer katholischen Familie stammend hatte sich sein etwas eigenartiger Freund dem Judentum hingegeben. Er gehörte also irgendwie zum auserwählten Volk, durchaus voller Leidenschaft und auch dem Gefühl für die Religion heroisch zu sterben, jedenfalls eine Zeit lang.
Der ehemals junge Herr fuhr also nach Wien, entweder um seinen Freund aufzuhalten oder aber um sich zu verabschieden.
Viele Stunden später stand er mit dem Hut in der Hand (nicht wirklich, jedenfalls kann ich es nicht beweisen) vor der Tür seines Freundes, dieser machte ihn dann auch etwas verträumt und erstaunt seinen Freund aus München sehend die Tür auf.
„Komm rein“, sagte er wohl nur und ging den schmalen, langen Flur zu seinem Wohnzimmer, aus dem Haydn erklang. Und bevor der ehemals junge Herr noch seinen Freund fragen konnte was das denn vor Stunden am Telefon eigentlich so recht gewesen sei sah er sie. Seine Frau (zukünftig), Haydn umspült, umsponnen. Er sagte zu mir mal, „Haydn, ganz filigran und dazu auf dem Sofa das schönste Mädchen das ich jemals sah“.
Viel später fragte ich den einst jungen Herrn was denn aus seinem etwas eigenartigen Freund geworden sei.
„Er ist nie gefahren, er ist nie ins heilige Land gefahren. Aber zwischen den Klängen von Hayden verhaftet fand ich die bezaubernste Frau“... meistens jedenfalls...




7. Nach Dir die Hoffnung



Den Jungen den ich kennen lernte hatte die gleichen Kinnknochen, die gleiche blasse Farbe der Haut und vor allem die gleichen Locken wie meine Freundin. Sie konnten nie und nimmer von sich weisen, dass sie von einem Fleisch und Blut waren und noch weniger, dass sie miteinander aufgewachsen sind. Sie hatten eine bestimmte Art miteinander zu reden, Geheimnisse miteinander zu haben, sich gegenseitig zu drohen.
Sie waren die Geschwister.
Auf ihre Art allein gelassen und gleichzeitig eingesperrt von ihren Eltern. Eingesperrt von viel Sorge, beißender Haushalsreiniger und selbst genähten Ensembles. Eine trübe Welt voller Ordnung und wenig Liebe. Liebe war wenn die Mutter ein Schälchen Süßigkeiten in ihre Zimmer brachte.
Rebellion bedeutete für ihn sich Markenkleider zu kaufen. Ganz dezent und natürlich ordentlich. Die Levis penibel gebügelt, das Espritlogo auf dem Shirt akkurat.
Beide wurden auf Angepasstheit getrimmt, aber sie mit ihrem Naturell brach aus. Rebellierte auf ihre Art, wirtschaftete sich herunter, damit auch jeder sah dass sie Hilfe brauchte, wartete auf den, der ihr endlich helfen konnte. Und der kam, half ihr sich selbst wieder aufzubauen. Stück für Stück.
Aber er war anders und hatte keine Freunde, die sich nachts mit rosernen Martini besoffen, weil sie sich Sorgen machten und vollkommen überfordert waren. Sich von ihr aufgefressen fühlten und doch wusste, dass sie gar nicht das richtige zum Geben hatten. Und damit vielleicht doch das ein oder andere Sinnvolle schenkten.
Es gab keine Diotima und auch sonst wohl niemanden. Nur die Schwester und die wusste keine Hilfe. Hatte nur jemanden vor sich, der sich ihr einen Spaltbreit mehr öffnete als der ganzen anderen Welt. Er war Siegmund, sie aber nicht Sieglind.
Und so war in beiden lange der Ekel, dieser Selbsthass, aber auch die so hoch stilisierte Anforderung an die Welt. Immer sich selbst sehend, als Selbstedikt und doch nicht genügend. Sich selbst finden, Festhalten im anderen.
Sie aber wird Katja, findet ihren Mann. Und er bleibt allein zurück.
Er ließ sie seinen Hass spüren, natürlich in erster Linie auf sich, ganz décadence.
Und nach 30 Jahren das Ende.

Im Sonnenschein eine ferne Nachricht des Suizids einer Person die man kannte. Fern. Natürlichkeit in einer e-mail suchen. Und in Wirklichkeit fand den Körper jemand Wochen später. Hast du seine Seele gespürt?




8. "...jenen vollen Klang der Welt"



Die Sonne schien, sie schien gleißend. Im Auto war es stickig und Chris Isaak sang von einer verbrennenden Liebe. N. neben mir schien etwas nervös, was solle man den Eltern sagen? Scheiße, wenn überhaupt eine ernst gemeinte, sehr kurz gehaltene Plattitüde. Ansonsten lässt man sie besser in Ruhe.
Ihr Sohn ist nicht einfach gestorben, er hat sich selbst getötet. Er ist ein Mörder am eigenen Leben. Ich habe die Worte meines ernst blickenden Gartenbau- und Religionslehrer in Gedanken nach einem Tod eines Freundes: „Selbstmord ist das Schlimmste was der Mensch sich antun kann. Denn derjenige sehnt sich nach Frieden, Freiheit aber erhält ewiges Leid.“
Er glaubte daran, dass ein Selbstmörder auf ewig in seinem Lebensleid gefangen ist. Seine Seele ist unfrei, gezwungen ewig sich um die Erde zu drehen.
Selber habe ich vor fast schon langer Zeit diesen erstaunlich sicheren Glauben verloren, dabei bin ich kein Religionsgegner, aber ich bin solch ein ewiger Zweifler, immer wieder Prüfender. Ich weiß nichts.
Darum schrecke ich in dem Sinne vor dem Suizid zurück. Herr U. war sich sicher, er wusste etwas. Ich nicht. Wer bin ich also, diese Überzeugung völlig von mir zu weisen?
Und O. hat sein Heil in der Religion gesucht… ach in so vielem und trotzdem immer den Plan in der Hinterhand gehalten. Bundeswehr um den Umgang mit der Waffe zu haben, Schützenverein um Waffe und Waffenschein zu besitzen…
Die Sonne scheint. Der junge Bestatter wechselt mit uns ein paar Worte. Er ist entfernt mit O. verwandt, nicht gravierend viel älter. Ist das ein besonderer Job für ihn?
Die Stille ist tief, der Sarg geschmückt mit maigrünen Tüchern und cremeweichen Rosen. Nach drei Sätzen des Pfarrers ein Weinen, kindgleich, verzweifelt. Ein Tuch, welches der Vater über sein Gesicht presst. Es löscht ihn nicht aus und die Tränen auch nicht. Frühlingslieder werden gesungen. Meine Stimme ist schwach.
Ich wünschte ich hätte diesen Glauben, aber ich habe ihn nicht.
Der Pfarrer, der O. vor 30 Jahren taufte versucht zu Begreifen, drückt die Trauer aus, dass er nicht ahnte was O. fühlte. Ich denke, dass jeder allein ist. Worte, die mal ein anderer Lehrer nach dem Tod eines alten Weggefährten sagte. Ich glaube an diese Worte. Bei diesem Satz bin ich mir ausnahmsweise sicher. Der Pfarrer sagt nur einen Wimpernschlag später: „Niemand ist allein!“
Der Glaube ist bestimmt tröstend, wenn er für einen arbeitet. Ich weiß nicht, ob die Menschen vor mir in den Bänken die Wahrheit mehr berühren als ich, aber ich hoffe inständig, dass ihr Glaube ihnen hilft. Es ist mir egal ob es diese Wahrheit gibt, aber wenn sie wirkt, dann bin ich die letzte die ihr Wort erhebt. Ich erinnere mich noch gut an das Licht, ich war glücklich in der Gewissheit damals, fast schon vor einer Ewigkeit. "...Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht."


Ich bin seltsam glücklich, dass so viele Menschen um ihn Weinen. Er hat berührt, er hatte Sinn.
Nochmals Worte am Grab, dann „…vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern…sondern erlöse uns von dem Bösen…“


Als ich vor dem ausgehobenen Grab mit dem lächerlichen Kunstrasen stehe, welcher die verwundete Erde verdecken soll, nur um noch mehr den Blick in die Tiefe auf den schon mit Blumen und Erde beworfenen Sarg zu lenken, nehme ich Abschied von dem Menschen den ich nie richtig kennen lernen konnte. Mochtest du mich nicht? Ich mochte dich, weil dich jemand liebte, den ich liebe.
„Wir lachten beim Eisessen“, raune ich Dir zu und streue Rosenblüten auf deine Überreste.



"did you ever see anyone
did you ever known anyone
...
tell me where we plan to be"

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.05.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Geschenke wirft man nicht fort... hänge bitte so sehr an ihnen wie ich es tue.

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