Vom Gewinnen, vom Verlieren und vom Loslassen
Tief unter mir ist der Abgrund. Ich kann ihn nicht sehen, weil mein Hals die Drehung meines Kopfes verweigert. Wie festgeschraubt sitzt dieser Kopf, gehalten von dünnen salzigen Rinnsalen, auf meinem Körper. Nutzbringend allein durch den Sitz der Augen, die den Blick nicht von dem Geröll vor mit nehmen, konzentriert einen beigen Stein nach dem anderen in sich aufnehmen, analysieren, den nächsten Schritt planen und dennoch den Marschbefehl verweigern. Der Himmel über mir strahlt in verheißungsvollem tiefem Blau. Die vereinzelten Schäfchenwolken werden zu Zeugen meines Versagens. Ich kann sie nur in meiner Erinnerung sehen, denn mein Kopf verweigert auch den Blick nach oben. An was hänge ich so sehr, das mich den Schritt ins Verderben so fürchten läßt? Würde ich jetzt sterben, liefe – so sagen es die Schriftsteller – mein Leben wie ein Film vor mir ab. Ich sehe keinen Film. Ich fühle nur die Blockade meiner Nerven. Gibt es keinen Film für mich?
Schon immer gehörte ich zur Spezies der Jäger und Sammler. Ich jagte mit Leidenschaft – sinnloses wie brauchbares und verteidigte meinen Besitz mit Vehemenz gegen Freunde des leeren Raumes und der freien Gedanken. Und je mehr ich anhäufte, um so kleiner wurde meine Welt. Ich verweigerte jede Trennung. Bald nicht nur von irdischen Gütern sondern von Gedanken, Beziehungen und Träumen. Gute wie schlechte Gefühle stapelten sich in meiner Seele wie Plüschtiere auf dem Sofa. Immer wieder wirbelte ich Seelenstaub auf um mich an meinen Erniedrigungen und Enttäuschungen zu laben. Und mit jeder Verletzung wuchs meine Angst vor neuem Versagen. Die kleinen Aufgaben meines Lebens wurden zu Hügeln, dann zu Bergen und schließlich stand ich eingeschlossen im Tal eines schier unüberwindlichen Gebirges. Doch ich war nicht allein. Alles was mir wichtig war, jeden Bezug zum Leben und jede liebende Seele hatte ich mit dem Geschick einer doppelköpfigen Bestie mit in mein Gefängnis gelockt.
Vergraben in Vergangenheit und Phantasie nahm ich die Rebellion meiner Mitgefangenen lange nicht war. Nicht ihr Unglück, ihre Tränen und nicht ihre Schreie. Auf ihre Wut reagierte ich mit Unverständnis und Zorn. Bitten und Flehen ergriffen mich tief in meinem Inneren, doch widersprachen ihre Wünsche so sehr meinem Leben in einer endlosen Sicherheitsschleife, das ich den Ausgang aus meinem Tal nicht zu öffnen vermochte. Nichts fesselte mich strenger als die Angst nicht geliebt zu werden. Jede Änderung meiner Gedanken oder Taten konnte zu einem Verlust oder einer Enttäuschung führen. Mit jedem Monat wurde mein Tal kleiner. Meine Lieben begannen zu ersticken. Ich hörte ihre Schreie aber ich konnte ihre Worte nicht verstehen.
Ich weiß nicht wann ich das erste Mal selbst keine Luft mehr bekam. Es war der Tag an dem die Berge über mir einzustürzen und mich in einer Lawine aus Geröll und Staub zu begraben drohten. Es war der Tag an dem ich den überquellenden Briefkasten bemerkte und das Blinken des Anrufbeantworters. Es war der Tag an dem nicht die Schreie meiner Mitgefangenen an mein Ohr drangen, sondern ich die Worte eines geliebten Menschen hörte und verstand.
Es war der Tag an dem ich beschloss mein Tal zu verlassen und die Welt zu entdecken. Und so begann ich zu packen. Aus einem Rucksack wurden Koffer aus Koffern Kisten. Kein Gedanke, kein Gefühl und keine Erinnerung (und sei sie noch so trügerisch) wollte ich zurücklassen. Alles gehörte mir. Und als all mein Besitz sortiert und inventarisiert, beschriftet und eingeordnet vor mir stand begann ich die Kisten auf meinen Rücken zu laden. Bereits nach der dritten Kiste brach ich zusammen. Ich schrie und weinte. Meine Wut und der Hass aus den wiedergekäuten Enttäuschungen vieler Jahre verbrennen meine Mitinsassen wie Lava.
Bald darauf verstand ich, dass ich Kerkermeister und Gefangener in einem war. Auch erkannte ich, dass meine Gefangenen den Weg aus dem Tal kannten. Und langsam, ganz langsam begann ich das Wort Liebe zu verstehen. Ich blieb noch viele Monate in meinem Tal bis mich meine Mitbewohner ein neues Wort gelehrt hatten: Vertrauen. Das Wissen sich fallenlassen zu können und aufgefangen zu werden, sich einzusperren und dennoch nicht allein zu sein. Und so beschloss ich ein weiteres Mal das Tal zu verlassen.
Unser Weg führte uns über üppige Bergwiesen und durch Wälder. Wir hielten einander an den Händen und träumten von unserem Leben außerhalb des Tals. Bald jedoch platzten die Blasen an meinen Füßen und wurden zu blutenden Geschwüren. Ich sehnte mich in mein Tal zurück, drohte zu entkommen und wurde gehalten. Gemeinsam stürzten wir in Schluchten, heilten Verletzungen und fügten uns neue zu. Doch die Nächte ohne Licht lehrten uns, den Rhythmus des Lebens zu verstehen. Und der Silberstreif jeder Neumondnacht führte uns zurück auf den Weg.
Und hier stehe ich nun auf einem Berggipfel. Noch immer schwanke ich unter dem Gewicht des riesigen Rucksacks den zurückzulassen ich mich geweigert hatte. Noch immer, nach all der Anstrengung des langen Aufstiegs, habe ich den Schritt in die Freiheit nicht gewagt. Schlimmer als je zuvor stecke ich tief im Dilemma zwischen Leben und Koma. Vor mir schlängelt sich ein schmaler Weg von Gipfelkreuz zu Gipfelkreuz. Würde ich meinen Kopf drehen, sähe ich wunderschöne unendliche Weiten. Möglichkeiten, Ideen und Ziele. Fern und doch zu erreichen. Doch jeder Schritt kann den Sturz, kann neue Enttäuschungen und Einsamkeit bringen. Steifgefroren vor Angst verweigere ich Gedanken. Panik brennt in meinen Fußsohlen. Dann lodert eine kleine Flamme in mir auf und mit ihm eine Erinnerung: Deine Gedanken bestimmen dein Leben und du allein bestimmst deine Gedanken. Ich streife den Rucksack ab und lasse ihn langsam zu Boden gleiten. Eine Hand berührt meine Schulter und massiert meinen schmerzenden Nacken. Ich drehe mich um und lächle. Dann gehe ich den nächsten Schritt, hebe den Kopf und blicke um mich. Sauerstoff strömt durch meine Nase in meine Lungenflügel und erfüllt meinen ganzen Körper. Zwei weitere Schritte. Ich zögere, blicke nach unten. Ein dritter Schritt. Ich richte mich auf und fühle wie die Entscheidung von mir abfällt. Ich lebe.
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2011
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