Cover

1. Kapitel

 

Herbst 1980 Hamburg-Altona

Es ist kalt und ein eisiger Wind herrscht. Meine Jacke bietet keinen Schutz. In jede Faser zieht die Feuchtigkeit des Nebels, der sich über den Friedhof gelegt hat, hinein. Die Blätter, die ich mir auf einen Haufen zusammengetragen habe, damit niemand mich von der stark befahrenden Max-Brauer-Allee aus sieht, bieten mir keinen Schutz. Der Haufen ist so zusammengesunken, dass er nur noch sehr flach ist. Mein Blick schweift zur Häuserfront am Rand des kleinen Kirchenfriedhofes, der St. Johanniskirche. Da, hinter dem Fenster, wo die roten Gardinen hängen, da ist Mama. Es ist schon dunkel und regnet leicht, aber sie hatte mir, bevor sie mich rausgeworfen hatte, gesagt, ich dürfe nicht hereinkommen. Als ich raus musste, war der Himmel noch in einem leichten Blauton gefärbt, jetzt aber ist es dunkel. Es muss schon sehr spät sein, dafür muss ich auch noch nicht die Uhr lesen können. Doch bald komme ich in die Schule und dann werde ich es lernen. Wie so oft hat sie mir heute wieder gesagt, dass einer der Onkel kommt, einer von denen, die keine kleinen Kinder mögen. Dann muss ich immer raus. Denn die wollen mit Mama alleine reden, sagt sie immer.

Manchmal klingelt das Telefon mitten in der Nacht und dann zieht mir meine Mutter nichts an, vielleicht, wenn sie daran denkt, eine Jacke über meine Schlafsachen und dann muss ich im Halbschlaf in den Park und da warten. Wie oft habe ich da geschlafen und musste von ihr geweckt werden. Wie oft haben mich schon Menschen gesehen? Sie schüttelten zwar immer den Kopf oder unterhielten sich kurz mit mir, doch das war es dann. Keiner hat mir bis jetzt geholfen. Heute ist es besonders schlimm. Neben dem Nebel ist es bitterkalt, gestern war es noch ein wenig wärmer. Ich habe die Nachbarn reden gehört, dass es sieben Grad kälter geworden sein soll als am Vortag und dass es wohl bald zu schneien anfangen wird. Während ich darüber nachdenke, schaue ich an mir herunter. Meine Lieblingsjacke, die ich von meinem Vater bekommen habe, ist mittlerweile zu klein geworden. Sie hat außerdem mehrere Löcher und ist dreckig. Doch Mutter meint, dass sie noch hält und ich solle mich nicht so anstellen. Sie hat nur gesagt, dass sie die nicht waschen wird, ich sei ja selber schuld, dass sie immer so dreckig ist. Ich solle mich nicht immer auf den Boden legen. Immer wieder behauptet sie, dass sie kein Geld habe. Außer für ihre Medizin, da hat sie immer Geld. Ich vermute auch, dass sie sehr krank ist, denn sie braucht immer mehr Medizin. Doch zu einem Arzt geht sie nicht. Seitdem Papa nicht mehr da ist, wird es immer schlimmer. Jeden Tag trinkt sie zwei oder gar drei Flaschen von dieser Medizin. Ich mache mir große Sorgen um sie. Besonders, weil Mama meint, wegen mir sei sie so krank. Sie wäre vorher nicht krank gewesen, sondern erst seitdem ich reden und laufen kann. Ich würde immer viel zu viel reden. Manchmal, wenn ich sie schon morgens anspreche, ist sie besonders krank. Dann kann es auch passieren, dass sie mich mit einer ihrer Medizinflaschen bewirft. Wenn ich dann verletzt bin, hilft sie mir. Das ist schön, wenn sie mich danach mal in den Arm nimmt und sagt, es tue ihr leid. Oder wenn sie ein Pflaster auf meine Verletzung klebt. In diesen Momenten ist sie mir so nah. Sonst ist sie das nie. Sie verspricht mir immer, mich nie wieder rauszuschicken, wenn einer der Onkel kommt. Leider kann sie sich oft später nicht mehr daran erinnern. Sofort, wenn einer der Männer kommt, muss ich gehen.

Ein leises Rascheln aus dem Gebüsch reißt mich aus meinen Gedanken. Sofort bekomme ich Angst. Bin ich vielleicht doch nicht alleine hier?

Was kann das sein? Oft laufen hier komische Menschen rum. Sie scheinen die gleiche Krankheit wie Mutter zu haben, denn sie haben auch die Medizinflasche in der Hand. Es kommt immer näher, doch ich kann nichts sehen, einen Menschen hätte ich doch schon längst entdecken müssen.

Ich verkrieche mich immer tiefer in meinen Laubhaufen. Hoffentlich ist es nicht wieder der komische Mann vom letzten Mal, der mich aus meiner Ecke vertrieben hat. Er meinte, entweder ich verschwinde da oder er nimmt mir meinen Teddy weg. Doch niemand darf Teddy haben, denn er kennt jedes meiner Geheimnisse und wenn jemand anders diese hört, kann das nur Ärger für mich bedeuten. Dieses Mal bin ich schlauer. Ich verstecke ihn in meiner Jacke. Da geht es ihm auch besser, denn da wird er nicht so feucht.

Ich höre ein anderes leises Geräusch, das sich wie ein Schmatzen anhört. Das ist seltsam, denn noch nie hat einer der Menschen, die hierherkommen, solche Geräusche gemacht. Zumindest habe ich es noch nie gehört. Das Rascheln hört auf und ich höre nur noch das leise Schmatzen. Vorsichtig schiebe ich ein wenig vom Laub vor meinem Gesicht weg, um besser nachzusehen zu können, was das sein könnte.

Wieder raschelt es. Vielleicht drei oder vier Schritte von mir entfernt. Nun sehe ich, wie sich das Laub bewegt, aber es ist kein Mensch in der Nähe. Erst sehe ich nur zwei kleine, braune Augen und dann eine feuchte, kleine, schwarze Nase. Es ist ein Igel und in seinem Mäulchen ist ein kleiner Regenwurm. Vorsichtig schiebe ich meine Hand in seine Richtung. Doch er scheint ganz viel Angst vor mir zu haben, denn er dreht sich von mir weg und ich steche mich an seinen Stacheln. Aua, das tut weh. Doch kann ich ihm böse sein? Die Welt ist so beängstigend und im Gegensatz zu ihm bin ich ein Riese.

»Ich habe dich jetzt schon fünfmal gerufen. Meinst du, ich habe ewig Zeit, auf dich zu warten?« Meine Mutter steht vor meinem Laubhaufen. Wieso ist sie wütend? Ich habe doch genau das gemacht, was sie wollte. Sie hat immer gesagt: »Sei still und lass dich am besten nicht sehen.«

»Entschuldige, Mama. Ich habe aber genau das gemacht, was du wolltest. Schau mal, was ich entdeckt habe.« Mit diesen Worten zeige ich auf den süßen Igel, der immer noch eingeigelt vor uns auf dem Boden liegt.

Doch statt ihn zu bewundern, packt meine Mutter ihn und wirft ihn mit Schwung weit weg. Ich höre nur ein Knacks.

»Mama, wieso hast du das gemacht?« Entsetzt starre ich sie an.

»Das sind Dreckschleudern und du sollst damit nicht spielen.« Mit diesen Worten reißt sie mich hoch und zerrt mich hinter sich her in die Wohnung.

»Schlaf, morgen hast du Schule, dein erster Schultag.«

Morgen geht es also endlich los. Ich lerne andere Kinder kennen. Ob sie mich mögen?

Damit begann im Nachhinein betrachtet das Leben, in dem ich anfing, diese Frau zu töten. Denn die Schule und die anderen Kinder zeigten mir, dass es so nicht normal ist. Es ist nicht normal, dass eine Mutter einen im Dunkeln nach draußen schickt, keine neuen Sachen kauft und immer anschreit: Mütter nehmen ihre Kinder normalerweise in den Arm.

 

2. Kapitel


Herbst 2017

»Guten Tag, ich bin Finnja, die neue Praktikantin und soll mich bei Frau Bartels melden.«

Eine neue Praktikantin, das hat mir gerade noch gefehlt und dann auch noch dieses Mädchen. Gerüchten zufolge soll sie ein Polizistenkind sein. Es ist schon schlimm, dass ich überhaupt eine Praktikantin an meine Seite bekomme, doch muss es dann wirklich noch ein Bullengör sein? Doch es hilft nichts, wegschicken kann ich sie nicht. Das würde nur Ärger bedeuten. Ich bin nur eine der Ehrenamtlichen in dieser Einrichtung. Auch wenn alle wissen, dass ich am liebsten alleine arbeite, bekomme ich immer wieder jemanden an meine Seite gestellt. Wie oft habe ich denen schon gesagt, dass ich es nicht möchte und dass ich meine Stationen auch gut alleine schaffe? Doch diese Sozialtussen meinen ja immer, sie wüssten alles besser.

Immer wieder heißt es: »Frau Bartels, es ist besser, die Stationen mit zwei Helfern auszustatten. Das dient nur Ihrer Sicherheit und dem reibungslosen Ablauf.« Aber diese Finnja ist doch noch ein Kind, wie soll sie Sicherheit bringen? Sie bringt doch nur mehr Unruhe hinein. So muss ich mich immer wieder auf die Praktikantin konzentrieren und nicht auf die Obdachlosen, und für die bin ich hierhergekommen.

»Das bin ich. Sie sind die neue Praktikantin, richtig? Es ist keine Zeit für einen Schwatz, wir müssen sofort loslegen.« Ich hoffe, sie versteht sofort, dass ich keinen Nerv habe, mich mit ihr zu unterhalten. Niemand soll in meine Nähe kommen, keiner soll denken, dass ich ihn mag. Ich helfe sehr gerne und bin für Menschen offen, die meine Hilfe brauchen, aber nicht für so ein Kind aus einem geregelten Haus. Das Mädchen macht doch nur aus Spaß so ein Praktikum. Vermutlich will sie am Ende prahlen, wie sozial sie ist. Wer weiß außerdem, wo sie überall herumschnüffelt und dann alles brühwarm ihrer Mutter erzählt. Sie ist bestimmt wie die Sozialarbeiter hier. Sie meinen immer, etwas Besseres zu sein. Nur weil ich das Ganze nicht studiert habe, sondern als Quereinsteigerin hier reingekommen bin.

Auch wenn sie eine Schülerin ist, soll sie gar nicht erst glauben, mit mir auf einer Stufe zu stehen. Denn sie kann viel weniger als ich. Ich kann diesen Job besser machen als die meisten anderen hier. Die meisten haben das nur noch nie verstanden und werden es wohl auch nie verstehen. Ich verstehe die Probleme dieser Menschen hier so gut. Auch ich habe schon auf der Straße gelebt und weiß, was Alkohol mit Menschen machen kann.

Aber ich muss ein wenig mit ihr reden, sonst heißt es am Ende noch, die Bartels will verhindern, dass man Interessierte in die Einrichtung als Helfer bekommt.

»Haben Sie schon einmal mit Obdachlosen gearbeitet?« Eine unverfängliche Frage, wie ich finde. Sofort strahlt sie übers ganze Gesicht. Es war mir doch klar, dass es ein geschwätziges Kind ist.

»Nein, noch nie. Ich habe natürlich immer davon gehört, doch dabei war ich noch nicht.« Wie aufgeregt sie ist, wie ein kleines Kind. Mit großen Augen und vor Aufregung leicht zitternd, schaut sie mich an.

»Erste Regel ist immer, auf die eigene Sicherheit zu achten. Egal, ob es beim Aufschneiden der Brötchen ist oder nachher bei der Ausgabe selbst. Es kann auch immer wieder passieren, dass einer der Klienten aggressiv wird. Dann bringen Sie sich sofort in Sicherheit. Haben Sie das verstanden? Nicht, dass ich am Ende noch einen Bericht über Sie schreiben muss.«

Nickend bestätigt sie mir, dass sie es verstanden hat.

»Passiert denn so etwas öfters?« Finnja Michalski ist wie ein kleines Kind, große Augen, die sich mit Tränen füllen und zu viel Neugierde. Außerdem hat sie noch zu viel Mitleid mit diesen Menschen. Dabei braucht man das gar nicht. Die meisten wollen doch auf der Straße leben. Und wirklich helfen lassen wollen sich die meisten auch nicht. Wenn das Mädchen wüsste, was ich in all der Zeit, in der ich hier mithelfe, schon erleben durfte, nein, besser gesagt musste. Das würde über ihren Verstand gehen. Vermutlich ändert sich das aber noch in den nächsten Tagen und Wochen, wenn sie hierbleibt. Noch ist hier niemand wieder so gegangen wie er gekommen ist. Jeder hat sich bis jetzt durch diese Arbeit verändert. Einige sind zusammengebrochen und irgendwann einfach nicht mehr gekommen, andere sind innerlich härter geworden und haben sich die Schicksale nicht mehr so zu Herzen genommen.

»Sie werden das schon sehen und nun fang an zu schmieren.« Als ob ich dafür zuständig sei, ihr alles zu erklären. Wer mit offenen Augen hier hereinkommt, kann normalerweise sehen, was alles getan werden muss. Mich hat auch niemand eingearbeitet. Im Gegensatz zu den Sozialpädagogen, die hier in Teilzeit arbeiten, bin ich nur unregelmäßig hier. Ein oder vielleicht zweimal im Monat, um Kontakte zu den Obdachlosen aufzubauen. Meiner Meinung nach sollte niemand auf der Straße leben. Das System hat meines Erachtens versagt. Man muss eigentlich jeden zwingen, in die Notunterkünfte zu gehen. Aber es gibt immer mehr, die das nicht wollen. Sie wollen in keine Unterkünfte, egal wie kalt es ist. Es entsetzt mich immer wieder. Die Bedingungen müssen katastrophal sein. Besonders im Winter. Doch es heißt immer wieder, es gäbe zu wenig Geld für den sozialen Bereich. Aber der Senat hat da ein Milliardengrab gebaut und das soll auch noch das neue Wahrzeichen von Hamburg werden. Dass ich nicht lache.

Während ich darüber nachdenke, schaue ich immer wieder zu dem Mädchen und frage mich, ob sie die Arbeit auch wirklich schafft.

Sie trippelt unruhig von einem Bein aufs andere. Sie erwartet wohl irgendwas, doch nur was?

»Was möchten Sie denn noch?« Genervt schaue ich sie an. Sofort zieht sie eingeschüchtert ihre Schultern nach vorne.

»Ich würde gerne wissen, was heute so alles gemacht wird. Ich war ja noch nie bei so einer Verteilung dabei. Und wer kommt da genau? Gibt es Richtlinien, die die Klienten einhalten müssen?«

Wenn es nach ihr geht, würden wir die ganze Zeit nur reden. Dabei arbeite ich lieber still, besonders vor einer Verteilung und währenddessen nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt und auch nur mit Obdachlosen, bei denen ich denke, dass sie es wert sind. Tief einatmend überlege ich, was sie genau alles wissen muss, damit ich es schnell abhaken und wieder in Ruhe arbeiten kann.

»Wir sind eine offene Einrichtung. Das heißt, wir werden uns keine Ausweise oder so zeigen lassen. Die meisten, die kommen, kennen wir schon lange.«

Leider, denke ich mir dabei nur, denn wenn sie Hilfe annehmen würden, dann wären sie nicht mehr hier. Da bin ich mir absolut sicher.

»Und?«, bohrt das Mädchen sofort weiter.

Schnell habe ich ihr alles Wichtige erklärt und habe auch das Gefühl, dass es ihr nun endlich reicht. Ein Glück, denn ich sehe, dass die ersten in den engen Raum kommen. Wie immer denken sie, dass die Ersten auch das Beste bekommen.

Neben Essen verteilen die anderen Kollegen Schlafsäcke, Kleidung und was man sonst noch so alles gebrauchen kann, um das Leben auf der Straße wenigstens ein wenig leichter zu haben. Aber dieses Mal muss ich nicht einschreiten, denn es gibt die eiserne Regel, dass es erst mal Essen gibt und dann, wenn alle da sind, werden Nummern verteilt, damit nicht immer die Gleichen zuerst dran sind.

Von Weitem erblicke ich einen jungen Mann. Er war eindeutig noch nie bei uns. Schüchtern steht er an der Tür und blickt sich hektisch um. Jede seiner Faser zeigt mir, wie unwohl er sich hier fühlt. Ich bin mir sicher, dass ich ihm helfen kann. Er ist genau der Typ, bei dem ich mir sicher bin, dass er nicht wirklich auf der Straße leben will. Er erinnert mich an einen Hering im Haibecken. Wenn die anderen seine Schwäche erkennen, werden sie ihn zerfleischen.

Schnellen Schrittes gehe ich auf ihn zu. Alle, die in der langen Schlange stehen, beginnen zu murren. Nun ist Finnja alleine und es sind mehr da als zu anderen Verteilungen. Von Mal zu Mal werden es mehr und ein Ende dieses Trends ist nicht absehbar.

Doch ich bin mir sicher, dass der junge Mann Hilfe braucht. Ich nehme mir fest vor, mich mit ihm länger zu unterhalten, wenn wir fertig sind. Jetzt will ich ihm nur helfen, sich in der Masse besser zurechtzufinden. Nachher, wenn das Kind dieser Schnüfflerin weg ist, werde ich mich intensiver mit ihm beschäftigen.

 

3. Kapitel

 

»Du hast was gemacht?«

Entgeistert blickt mich Frank an. Er, der normalerweise keine Emotionen zeigt, starrt mich am ganzen Körper zitternd an. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich vermuten, dass ich ein Staatsverbrechen begangen habe, dabei habe ich dem Dezernatsleiter nur erklärt, dass ich den Posten des kommissarischen Teamleiters nicht annehmen kann.

Doch ehe ich auf Franks Ausbruch reagieren kann, wütet dieser weiter.

»Du weißt doch ganz genau, dass mir dieser Posten nicht angeboten werden kann.«

Ja, und es ist eine Ungerechtigkeit, die ich so nicht akzeptieren kann. Zwar hat er viel Mist gebaut, bevor er zur Polizei gekommen ist. Auch, dass er nur über ein Sonderprogramm zur Polizei kommen konnte, ist mir klar. Meiner Meinung sollten sie aber nur in einer Probezeit unter Beobachtung stehen und danach die gleichen Möglichkeiten bekommen, wie alle anderen auch. Frank ist ein verdammt guter Polizist, einer der besten, die ich kenne. Wieso muss das heute immer noch so sein? Das heißt auch, wenn eine Teamleiterstelle angeboten wird, kann er diese nicht übernehmen. Frank und Sven haben damals diese Einheit gebildet und jetzt, nachdem Sven zur Polizeischule gewechselt ist, um dort als Lehrer zu arbeiten, sollte Frank diesen Posten auch übernehmen dürfen.

Sven war ein besonderer Teamleiter. Er hatte einen Weitblick, um den ich ihn beneide. Obwohl er diplomatisch war, hat er sich doch nie verdreht oder war duckmäuserisch. Mit einem Satz: Wir brauchen jemanden, der die Leitung übernimmt, der Svens Fähigkeiten hat. Und das wäre Frank.

»Ich finde …« Doch er lässt mich gar nicht weitersprechen.

»Papperlapapp, ich will diesen Posten auch nicht haben, aber du als Profiler wärst dafür wie geschaffen.«

Seit wann stigmatisieren wir uns denn mit unseren Berufsbezeichnungen? Bisher waren wir doch beide immer Polizisten. Davon mal abgesehen, dass ich noch Fallanalytiker bin. Ich bin noch nicht fertig, denn meine letzte Prüfung habe ich zwar vorhin geschrieben, doch die Ergebnisse der Prüfungen erhalte ich erst in einigen Wochen. Diese sind auch der eigentliche Grund, wieso wir hier sind. Wir wollten das Ende meiner Ausbildung feiern. Vanessa, meine Freundin, sitzt still neben uns und schaut nur zu, wie Frank sich aufregt. Sie hat mir ihre Meinung auch schon mitgeteilt. Etwas diplomatischer verpackt, doch inhaltlich war es das Gleiche, wie bei Frank. Ihrer Meinung nach lasse ich mir eine Riesenchance entgehen. Ich kann meine Enttäuschung über ihre Reaktion kaum verheimlichen. Sie war damals dabei, als mein ehemaliger Kollege meine Ex-Freundin zerschnitten und mir in Paketen vor die Tür gelegt hat. Sie hat miterlebt, dass er mich dann entführte, um mich zu töten. Das alles nur, weil ich in der Hierarchie über ihm stand. Meine Hoffnung war, dass sie meine Entscheidung versteht, ja mehr noch, dass sie mich unterstützt.

Doch sie hat immer wieder den Kopf geschüttelt und gemeint, ich sei verrückt, es sei meine Chance.

»Frank, du musst doch verstehen …« Er unterbricht mich, indem er laut mit der Faust auf den Tisch haut. Erschrocken zucke ich zusammen. Das ist doch nicht der Frank, den ich sonst kenne. Frank ist immer so beherrscht, selten mal eine Gefühlsäußerung, und wenn, dann mit Sicherheit nicht durch solch einen Wutanfall.

»Die Geschichte ist nun so alt und ich dachte, du hättest langsam Vertrauen zu uns entwickelt.« Er versteht mich nicht. Vertrauen habe ich in unser Team, aber die Position würde mich wieder in den Mittelpunkt stellen und das ist etwas, das ich nicht will. Ich fühle mich wohl als Teammitglied. Dieses Gefühl möchte ich behalten und mich nicht immer umblicken müssen, ob wieder jemand an mir Rache nehmen will.

»Frank, ich habe ihm das auch gesagt, aber Thomas hat schon recht und er bittet uns um Verständnis. Wir beide haben keine Leichenteile von unserem Kollegen geschickt bekommen. Ich bin stolz auf Thomas, dass er sich so gut in eurem Team integriert hat. Er braucht noch Zeit.«

Vanessas Stimme ist weich und sie versucht damit, Frank zu beruhigen. Es scheint nicht zu wirken, denn dieser nimmt sein Bier und trinkt es in einem Schluck aus, stellt mit voller Wucht das Glas auf den Tisch und schüttelt den Kopf.

»Frank, bitte, du glaubst doch wirklich nicht, dass ich Angst hätte, dass mir etwas in der Art mit dir passiert, oder?« Er schüttelt erneut den Kopf.

»Nein, um Gottes Willen. Aber insgeheim hatte ich gehofft, wenn Sven schon nicht mehr bei uns ist, dass du dann wenigstens die Leitung übernimmst. Wer weiß, wen wir nun bekommen. Ich bin da halt echt ein Gewohnheitstier, und wir waren immer ein so gutes Team und nun das.« Ich hätte nie gedacht, dass er wirklich so sehr an dieser Struktur hängt. Er ist ein Gigolo, wenn er mal länger als zwei Tage mit einer Frau zusammen ist, ist das eine Langzeitbeziehung für ihn. Aber er kann es sich nicht vorstellen, dass es eine passende Erweiterung unseres Teams geben könnte. Dass jemand anderes uns genauso gut anleiten kann, wie es Sven getan hat. Aber das stimmt schon: Sven zu ersetzen wird schwer, wenn nicht gar unmöglich. Es war für mich keine wirkliche Überraschung, dass er einen der begehrten Plätze an der Schule als Lehrer erhalten hat. Er verfügt über eine besondere Begabung, Menschen etwas beizubringen und das Beste aus ihnen rauszuholen. Dafür habe ich ihn schon immer bewundert.

»Michael wird uns doch bestimmt nicht irgendwen vorsetzen, sondern genau schauen, ob er in unser Team passt.« Beim Wort "Team" schnauft Frank nur noch. Ja, mit zwei Mann und das bei der Sondereinheit für Mord, ist man wirklich nicht sehr üppig ausgestattet, doch im Gegensatz zu Frank bin ich sehr positiv gestimmt, dass alles gut gehen wird und wir es schaffen werden.

»Bleibt uns ja nichts Anderes übrig, oder?« Gequält lächelt Frank mich an.

Das bedeutet, dass wir uns endlich in Ruhe auf den Abend konzentrieren können. Ich schaue mich im Restaurant um. Zur Feier des Tages haben wir uns im Landhaus Voigt in Ochsenwerder getroffen. Hier haben Frank und ich uns das erste Mal über seinen Weg zur Polizei unterhalten. Es ist ein gediegenes Restaurant. Dunkle Holzdecken, alte Heidebienenkörbe, ein abgedecktes Klavier. Die Bedienung ist schon sehr speziell. "Herzlich kernig" würde ich es umschreiben. Leider ist das Wetter heute so schlecht, dass wir nicht hinten an der Dove Elbe sitzen können. Der Herbst hat Einzug gehalten und draußen liegen die ersten Blätter und die sind rutschig nass. Es wird ein sehr kalter Winter, da bin ich mir sicher. Es ist auch kein gutes Zeichen für uns, wenn es so schnell so kalt wird. Wieso auch immer, morden in der Zeit

Impressum

Verlag: Elaria

Texte: Alexandra Krebs
Bildmaterialien: Jasmin Braun
Cover: Jasmin Braun
Lektorat: Roland Blümel
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2018
ISBN: 978-3-96465-035-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /