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1.Kapitel

Thomas

Sind die drei Wochen Urlaub wirklich schon zu Ende? Viel zu schnell für meinen Geschmack. Doch der Blick auf mein Handy sagt mir: heute ist der 7. Juli, also tatsächlich wieder der erste Arbeitstag. Mein zweiter Blick nach draußen. Die Sonne knallt schon um sechs Uhr vom Himmel. Ich weiß nicht wieso, aber wir haben festgestellt, dass an einem solchen Tag immer wieder Menschen austicken und meinen, ihre Partner, Nachbarn oder sonst wen zu töten. Also bedeutet das für uns wiederum mehr Arbeit. Aber so wird der Beruf wenigstens nie langweilig.

Dennoch bin ich sauer auf mich, denn eigentlich wollte ich für meine Fortbildung in diesen drei Wochen lernen. Doch Vanessa hatte eher gemeint, dass es doch nett sei, jeden Tag einen anderen Ausflug zu machen und abends dann mit ihrer Familie zusammenzusitzen. Natürlich habe ich das auch genossen, aber ich sehe den Berg auf meinem Schreibtisch und weiß, dass ich dringend hätte lernen müssen. Bald ist wieder ein Präsenzseminar und ich habe noch nicht in Kriminalistik reingeschaut. So kann nie ein guter Profiler aus mir werden.

»Guten Morgen, Schatz.« Mit verwuschelten Haaren dreht sich Vanessa zu mir. Die Nacht war wirklich wild, ich sehe es ihr immer noch an. Am liebsten würde ich sie sofort wieder lieben, doch ihr Blick hält mich zurück.

»Komm gar nicht erst auf die Idee, mich verführen zu wollen, wir müssen aufstehen.« Sie versucht bewusst streng zu sein. Natürlich hat sie recht und wir müssen uns wirklich sputen.

Während ich in der Mordkommission arbeite, ist sie in der Internen. Kennen und lieben gelernt haben wir uns bei unserem ersten gemeinsamen Fall. Damals war ich zwar der Hauptverdächtige, doch sie und ihr Vater haben immer an mich geglaubt. Wären beide nicht gewesen, es würde mich nicht mehr geben, denn mein ehemaliger Kollege hätte mich getötet. Und alles nur, weil ich so doof war, in seine Falle zu tappen, doch glücklicherweise haben sie mich noch rechtzeitig gefunden. Es hat lange gedauert, ehe ich mich entschieden habe, die Polizei nicht zu verlassen, sondern mich zum Fallanalytiker weiterbilden zu lassen. Doch das neue Team, in das ich gekommen bin, hat es mir leicht gemacht und ich freue mich riesig, weiter mit ihnen zu arbeiten. Auch wenn der Ton so manches Mal rau ist.

»Nun komm aber hoch mit deinem Adoniskörper.« Aufreizend wackelt Vanessa mit ihrem Hintern vor meinem Bett. Ihre Lockmittel sind aber auch wirklich unschlagbar. Langsam schäle ich mich aus dem Bett, das ganze Schlafzimmer hat gefühlt minus fünf Grad. Vanessa meinte wirklich, heute Nacht drei Ventilatoren anhaben zu müssen. Alle mit einem feuchten Tuch davor. Mir wäre es lieber, wenn es hier jetzt so drei, vier Grad wärmer wäre.

»Weichei, du suchst aber auch immer wieder nach neuen Ausreden, wieso du nicht aus dem Bett kommst, oder?« Mit diesen Worten haut sie mir ihr Kissen auf den Kopf. Grummelnd, aber doch langsam, steige ich aus dem Bett.

»Ja.« Gespielt unterwürfig verbeuge ich mich vor ihr. Ehe sie mir was anderes an den Kopf werfen kann, renne ich ins Bad.

»Du bist völlig durchgeknallt.« Lachend kommt sie hinter mir her.

»Oh, du willst mit mir duschen?« Sanft umarme ich sie, doch ehe ich sie unter die Dusche zerren kann, höre ich mein Handy auf dem Nachttisch klingeln.

»Das kann nur die Arbeit sein.« Ruckartig lasse ich sie los, sodass Vanessa ihr Gleichgewicht verliert.

Schnell laufe ich hin. Ein Blick auf das Display zeigt mir, dass Frank mich anruft.

»Moin«, begrüße ich ihn kurz angebunden, damit er merkt, dass ich noch nicht arbeitsbereit bin.

»Hallo Urlauber.« Seiner Stimme ist nicht anzuhören, ob er mitbekommen hat, dass ich von seiner frühen Störung am Tag genervt bin. Aber er fährt weiter fort:

»Du sollst bitte nicht auf das Präsidium kommen, sondern zum Ohlsdorfer Friedhof. Da liegt eine Leiche.«

Na, da lohnt es sich ja auf jeden Fall, sofort zur Arbeit zu gehen.

»Soll ich noch schnell einen Kaffee kochen, ehe du losmusst?« Vanessa ist wieder die praktisch Denkende von uns beiden.

Schnell geduscht und Brot und Kaffee von Vanessa abnehmend, verlasse ich das Haus. Ein arbeitsreicher Tag liegt vor mir, da bin ich mir sicher.

2.Kapitel

 

Brigitta

»Ich gehe nie wieder zu diesem Typen. Weißt du, was der mir gestern andrehen wollte?«

Meine Kollegin steht wutentbrannt vor mir. Wieso ist sie nur so sauer auf mich? Ich finde Herrn Solmeyer so freundlich und nett. Ich hatte mit ihm noch nie Probleme. Aber natürlich höre ich ihr gerne zu, wenn sie sich auskotzen muss. Jeder tut das bei mir. Ich, Brigitta, die liebe, die freundliche, die immer alles mit sich machen lässt. Ich könnte gerade richtig kotzen. Ich habe keine Lust so zu sein, aber wie komme ich aus diesem Kreislauf heraus?

»Was wollte er dir denn andrehen?« Ich kenne ihn immer als einen sehr freundlichen und umgänglichen Mann. Er hat mir schon so viele Tipps gegeben, wie ich im Leben weiterkomme.

»Tollkirschentee, der Alte will mich umbringen.«

»So schnell stirbt sich’s nicht.« Ich sehe sofort an dem Blick meiner Kollegin, dass sie mich für diesen Satz am liebsten töten würde.

Sofort merke ich, wie mein Widerstand gegen diese Geschichte zusammenbricht.

»Du hast natürlich recht, das ist nicht nett von mir, aber Tollkirsche ist nicht so giftig, wie jeder annimmt. Ja, man wird ein wenig high davon, aber sterben, das geht nicht so schnell.«

Schnaubend vor Wut steht sie vor mir.

»Stell dir mal vor, ich wäre danach Auto gefahren. In die Irrenanstalt gehört der, er ist eine Gefahr für alle geworden.«

Na, die übertreibt maßlos, aber wie immer sage ich es ihr nicht direkt ins Gesicht. Außerdem übernehme ich ihn gerne, denn er hat ein großes Wissen an Heilpflanzen und immer wieder tolle Tipps, was das Leben betrifft.

»Ich habe diese Woche komplett Dienst. Wenn du möchtest, können wir gerne tauschen. Ich nehme Herrn Solmeyer und du übernimmst dafür die Kaffmacher.«

Ich weiß genau, dass alle Frau Kaffmacher haben möchten. Sie ist so dement, dass sie nicht mehr mitbekommt, ob jemand auch die letzte Ecke ihres Wohnzimmers gewischt hat oder nicht.

Sofort strahlt ihr Gesicht und ich erkenne, dass ich ins Schwarze getroffen habe.

Kurze Zeit später sitze ich im Auto und freue mich auf meine Schicht. Zwei Stunden werde ich gleich bei  Herrn Solmeyer Dienst haben und er muss mir dringend  bei meinem Problem helfen. Bestimmt kennt er einen Liebestrank oder etwas Ähnliches, damit sich endlich ein Mann in mich verlieben wird.

Ich liebe den Duft, der mir aus seiner Wohnung entgegenströmt. Herr Solmeyer war Botaniker und sein größtes Ziel war es eigentlich auszusteigen. Aber mit 45 hatte er einen Schlaganfall bekommen und ist seitdem auf Hilfe angewiesen. Er ist etwas brummig, was ich gut verstehen kann, denn wenn man immer aktiv war und in seinem Leben noch so viele Ziele gehabt hat und dann plötzlich alles zerstört ist: wer wäre da noch gut gelaunt? Aber als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hat ihn auch noch seine Frau verlassen und beide Kinder mitgenommen. Nun steht er alleine da und meine Kollegin wundert sich, dass er griesgrämig ist.

»Hallo Herr Solmeyer.« Schon an der Tür begrüße ich ihn lautstark. Er hasst es, wenn man leise ins Wohnzimmer kommt. Er sitzt schon immer am Fenster und hofft, dass man ihm in den Garten hilft. Sollte man es nicht machen, kann er sehr ungnädig werden. Dafür wäscht er sich immer schon vorher und zieht sich an. Das erleichtert uns natürlich die Arbeit.

»Na, möchten Sie raus?« Ich ziehe mit einem kräftigen Ruck die Gardinen zurück.

»Ah Brigitta, wie schön, dass Sie da sind. Ich dachte, die Schrulle von gestern kommt wieder. Die hat echt was an den Latten.« Seine Stimme ist kräftig. Heute scheint es ihm gut zu gehen.

»Nun ja, Herr Solmeyer, Sie können ihr doch keine Tollkirschen als Tee anbieten.«

Lachend schaut er mir in die Augen.

»Ach was, hat die Olle doch gesehen? Außerdem sollen Sie mich Manfred nennen. Herr Solmeyer ist immer mein Vater gewesen.«

Sein Vater scheint so ein Tyrann gewesen zu sein wie mein eigener. Nie erzählt er etwas Gutes über ihn.

»Na gut, Manfred, aber wenn du das mit allen machst, dann wird keiner mehr zu dir kommen.«

 Dabei gleitet mein Blick durch die Wohnung. Staub ist hier schon länger nicht mehr gewischt worden.

»Bitte, Brigitta, ich war schon seit fast drei Wochen nicht mehr draußen. Schau mal, wie es da aussieht. Du musst mir auch nur die Treppen runterhelfen, danach darfst du dich in meiner Wohnung austoben und am Ende einen Tee mit mir trinken.«

Ich muss grinsen, weil ich sicher bin, dass ich einen vernünftigen Tee bekomme, der nicht mit irgendwelchen Dingen versetzt ist.

»Aber nicht allzu lange. Schau mal, es ist so heiß draußen, nicht, dass du mir umkippst.«

»Hmpf, als ob ich so schnell umkippen würde. Früher habe ich jeden Tag dreizehn, vierzehn Stunden draußen gearbeitet. Nie bin ich umgekippt und wäre diese Scheiße nicht passiert ...«, dabei zeigt er auf seinen gelähmten Arm, »... dann würde ich immer noch jeden Tag draußen sein und meinen Garten hegen und pflegen.«

Dann verstummt er und ich sehe eine Träne in seinen Augen.

»Na komm, Manfred, wir wollen keine Zeit verschwenden, denn deine Höhle muss auch noch gereinigt werden.«

Wie er es liebt, wenn ich von seiner Wohnung als Höhle spreche. Aber noch wichtiger ist es mir, dass wir danach einen Tee trinken, denn ich brauche wirklich dringend seine Hilfe.

Schnell mache ich mich daran, die Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen, immer mit einem Auge nach draußen. Doch Manfred ist ganz in seinem Element, mit einer Hand zupft er hier und da das Unkraut raus und ich höre ihn immer wieder meckern, dass es eine Frechheit sei, dass er nicht öfter in den Garten darf, denn es müsse so viel gemacht werden. Er muss wohl doch einen Gärtner rufen, der alles wieder auf Vordermann bringt. Aber man könne denen allen eigentlich nicht mehr trauen, denn keiner hat wirklich Ahnung.

Ich mache mir keine Gedanken, denn anders als so kenne ich Manfred nicht und ich weiß genau, dass er nachher zufrieden, aber müde wieder reinkommen wird. So manches Mal denke ich, es würde ihm guttun, wenn jemand ihn rausbringen würde und dann zu einem anderen Klienten weiter fährt und erst später wiederkommt. Doch meine Chefin empfindet das als zu viel Aufwand. Leider hat er keine Familie, die ihm hilft.

Eine Stunde später schaue ich mich in der Wohnung um. Ja, so gefällt es mir besser. Wenn er nicht immer alle sofort vergraulen würde, dann hätte er wirklich eine gemütliche Wohnung. An den Wänden stehen überall Regale mit tausenden von Büchern, hauptsächlich über Botanik, aber auch Krimis und Klassiker. Ich muss mich richtig zusammenreißen, um nicht darin zu stöbern.

»Manfred, willst du deinen Tee draußen trinken?« Ich liebe es, wenn ich ihn das frage, um dann seinen freudigen Gesichtsausdruck zu sehen. Sofort nickt er und geht langsamen Schrittes auf die Sitzecke zu.

»Da muss aber heute saubergemacht werden. Du hast bestimmt den Sturm mitbekommen, den wir vor einigen Tagen hatten, oder?«

Vorsichtig beginnt er mit seinem gesunden Arm, einen Stuhl vom Tisch zu heben. Ich hatte das letzte Mal alle auf den Tisch gestellt, damit es nicht zu verdreckt ist, wenn ich das nächste Mal da bin.

»Manfred, das Problem kennen wir doch schon.« Ich wedele mit einem Eimer und einem Lappen. Schnell ist es sauber und ein zufriedener, wenn auch schon erschöpfter Mann setzt sich mir gegenüber.

»Ist es nicht traurig, wie alles verkommt?« Betrübt schaut er sich in seinem Garten um. Ich finde, es ist das Paradies. Selten habe ich so einen schönen Garten gesehen. Er ist verwunschen, Rosenbögen brechen fast durch, so schwer sind die Pflanzen daran. Tagetesblumen haben sich überall selber ausgesät, genauso Ringelblumen. Davon hat Manfred einen ganzen Schwung auf einem Rost in seinem kleinen Gewächshaus gelegt. Sonnenblumen, die von kleinen Vögel ausgesät wurden, sprießen meterhoch in die Lüfte. Wenn ich das mit unserem Garten vergleiche ... Meine Mutter achtet sehr genau darauf, dass der Rasen nicht länger ist als fünf Millimeter. Jeder Engländer wäre stolz auf so einen Garten. Nirgendwo findest du auch nur ein minikleines bisschen Moos. Während es hier alles gibt.

»Ich finde es perfekt.« Entgeistert schaut mich Manfred an.

»Siehst du nicht das ganze Unkraut? Einiges hat sogar schon angefangen zu blühen. Wenn ich nicht Vlies drunter lege, dann wird es immer mehr und sich noch verbreitern. Gerade der Schachtelhalm. Natürlich, wenn ich irgendwelche Ökosachen zubereiten würde, dann wäre hier das Paradies.«

Endlich sind wir beim richtigen Thema angelangt. Gekünstelt lache ich leise auf. Hoffentlich merkt er nicht, wie wichtig mir die nächsten Informationen sind. Ich will nicht, dass er ein falsches Bild von mir bekommt. Wobei falsch ist es ja nicht, immerhin bin ich einsam und möchte endlich den Mann an meiner Seite haben.

»Ach ja früher, da gab es so viele Mittelchen und Säfte, um Männer um den Finger zu wickeln, oder?«

Gierig sein Wissen in mich aufzusaugend, schaue ich ihn an.

»Ach Brigitta, nicht nur früher, schau dich doch mal in meinem Garten um. Siehst du das Kraut da drüben?« Mit seiner gesunden Hand zeigt er in Richtung eines riesigen Busches.

»Ja, was ist damit?« Ich beuge mich vornüber und will nichts davon verpassen, was er jetzt erzählt.

»Das ist Liebstöckel, auch Liebeskraut genannt.« Ein wehmütiges Lächeln huscht über sein Gesicht.

»Früher habe ich es in jedes Essen gemacht, aber seitdem ich nur noch das Essen auf Rädern bekomme, muss ich darauf verzichten.«

»Liebstöckel? Ist das nicht auch das Maggikraut? Wie soll man denn damit einen Mann betören können?« Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will. Natürlich ist ein gutes Essen wichtig und jeder Mann liebt es, gutes Essen zu bekommen. Aber heute kann doch fast jeder Mann selber kochen.

»Ja, aber damals hat man die Männer darin baden lassen oder einen Sud aus der Wurzel gekocht, und dann sollten die Männer gefügig sein.«

Das hört sich gut an. Das und die Tropfen die ich habe, sollten zum gewünschten Erfolg führen.

Nachdem ich ihm einen Teil des Busches abgeschwatzt habe, mache ich mich fröhlich auf den Weg nach Hause. 


 

3.Kapitel

 

Thomas

»Hey du Urlauber, alles gut?« Frank steht Kaugummi kauend, mit seinen Händen in der Jeans und breitbeinig wie ein Cowboy am Eingang des Friedhofes und wartet auf mich. Trotz der Hitze hat er sein Flanellhemd an, nur dass er es dieses Mal hochgekrempelt hat. Mit langen Jeans und seinen Cowboystiefeln, um das Bild abzurunden, steht er breitbeinig vor mir.

»Also wenn ich dich so ansehe, braungebrannt wie du bist, dann vermute ich ja eher, dass du der Urlauber von uns beiden bist.«

Es ist schön, wieder im Team zu sein. Trotz meiner schlechten Erfahrungen mit meinem Ex-Kollegen habe ich das Gefühl, diesem Team mein Leben wieder anvertrauen zu können.

»Willst du nicht wissen, worum es geht?« Frank schaut mich neugierig an.

»Ach, eher nicht, am liebsten würde ich wieder nach Hause, mich in den Garten setzen und nichts machen. Aber ich befürchte, du wirst es dir nicht nehmen lassen, mir alles bis ins Kleinste zu erzählen.«

Wir müssen beide lachen. Obwohl unser Job immer was mit Leichen zu tun hat, versuchen wir stets, einen Funken Spaß zu haben. Ansonsten würden wir zugrunde gehen.

»Also wir haben einen Toten. Noch ist unklar, ob es ein Suizid oder ein Mord ist. Wenn Letzteres zutrifft, hat der Täter auf jeden Fall Hilfe gehabt.«

Verwirrt schaue ich ihn an.

»Was heißt, er muss Hilfe gehabt haben?«

Doch statt weiter zu reden, zeigt Frank nur auf ein Grab etwas abseits der Wege.

Von der Trauerweide hängen tiefe Äste herab, sodass man wirklich gut hinsehen muss, um die Leiche zu entdecken. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde der Mann darunter nur sitzen und ein kleines Mittagsschläfchen halten. Erst auf den zweiten Blick sieht man genau, dass aus seinen Nasenlöchern kleine Maden laufen und der Geruch, den uns der leichte Wind vom See her entgegenbringt, zeigt eine deutliche Spur von Verwesung.

Dennoch wurde die Leiche liebevoll dort abgelegt. Eine hellblaue Seidendecke liegt über ihm. Seine Hände sind sorgsam auf seinen Schoß gelegt und die Augen geschlossen worden.

»Wie lange liegt er denn schon hier?« Ich bin ein wenig froh, dass ich noch nicht gefrühstückt habe.

»Der Arzt schätzt nur wenige Stunden, vielleicht auch schon vierundzwanzig. Aber die Hitze lässt die Maden schnell schlüpfen.«

Die Hitze, der Geruch der Leiche und der Madenbefall werden uns die Arbeit nicht angenehmer machen.

»Wir sollten uns beeilen. Es ist erst acht Uhr, aber das Thermometer zeigt schon fast 20Grad. In drei bis vier Stunden werden wir es hier nicht mehr aushalten können.« Ein Blick auf meine Uhr zeigt mir, dass wir uns beeilen müssen.

Während ich mir die Leiche genauer ansehe merke ich, dass da einiges nicht zu einem Suizid passt. Wie kann man sich so sorgsam hinsetzen, mit einer teuren Seidendecke zudecken und auf den Tod warten?

»Wurden Verletzungen festgestellt?«

Ich schaue den Arzt an, der noch am Tatort ist, doch dieser schüttelt nur den Kopf.

»Nichts, das man so erkennen kann. Ich habe die Leiche aber noch nicht auf meinem Tisch gehabt, erst dann kann ich Genaueres sagen. Das einzige ist, dass er anscheinend unter Haarausfall litt.«

Nun ja, das ist bei Männern nicht ungewöhnlich. Er ist wohl auch in einem Alter, wo das normal sein kann. Was will uns der Arzt damit sagen? Ich selber sehe keinen Haarausfall, doch der Arzt nähert sich der Leiche, zieht sanft an den Haaren und hat ein ganzes Büschel davon in der Hand.

»Gift?« Sofort verstehe ich, worauf der Arzt hinweisen will. Leicht überheblich und mit einem nasalen Ton antwortet er:

»Junger Mann, Sie müssten doch genau wissen, dass ich weiteres nur nach einer Autopsie sagen kann.« Natürlich weiß ich, dass er mich nur auf die Schippe nehmen will, aber eine Andeutung wäre super.

»Dann frage ich anders: Kann man ein Gift so gut dosieren, dass es erst dann wirkt, wenn man am Ablageort der Leiche ist?«

»Ja, kann man, und man kann es wiederum nicht.« Dieser Arzt macht mich wahnsinnig! Kann man keine vernünftige Antwort von ihm bekommen?

»Wie meinen Sie das nun wieder?« Ich stöhne innerlich auf. Wieso kann er nicht einmal vernünftig mit mir reden?

Mit leicht erhobenem Kopf und zusammengekniffenen Lippen schaut er mich an.

»Das ist doch ganz einfach. Jeder Organismus reagiert anders. Es gibt natürlich so Richtwerte, wie auf zum Beispiel: so und so viel Kilo so und so dosieren. Aber es kann dann ganz anders wirken. Es gibt im schlimmsten oder besten Fall, je nachdem, eine paradoxe Wirkung.«

Na toll, nun stehe ich wie ein Blödmann da. Das wäre sogar mir klar gewesen.

Sofort versuche ich, mich wieder zu fangen.

»Haben Sie an ihm eine Dose mit Tabletten oder ein Fläschchen mit Medikamenten gefunden?« Vielleicht hat der Mörder etwas fallen gelassen. Wenn wir Glück haben, finden wir darauf Fingerabdrücke.

»Das sollte doch immer noch Ihre Aufgabe sein. Ich bin erstmal fertig, nun dürfen Sie ran.« Ich kann seine überhebliche Art nicht ab und bin froh, dass er weg ist.

Mit Handschuhen und gegen den Geruch mit Mundschutz bewaffnet, untersuche ich den Leichnam genauer. Er trägt sehr teure Klamotten, dürfte daher nicht arm gewesen sein. Sofort beginne ich, die Taschen zu durchsuchen, doch nirgends finde ich eine Geldbörse. Sollte es ein Raubmord gewesen sein? Dann finde ich einen kleinen Zettel, den ich aus seiner Brusttasche ziehe. Vorsichtig, um eventuelle Fingerabdrücke nicht zu verschmieren, falte ich den Brief auseinander.

In einer wunderschönen geschwungenen Schrift steht darauf:

Und Jesus machte klar, dass Ehebruch auch für Christen absolut tabu ist.

Frank ist unser Bibelspezialist.

»Kennst du den Spruch?« Seine Stirn legt sich in Falten, aber langsam nickt er.

»Natürlich. Matthäus- oder Lukas-Evangelium. Er wird immer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alexandra Krebs
Bildmaterialien: Jasmin Whiscy
Cover: Jasmin Whiscy
Lektorat: Roland Blümel
Satz: Alexandra Krebs
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2017
ISBN: 978-3-7438-3296-1

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