©Alexandra Krebs
Hamburg
Covergestaltung: Chris Gilcher - http://design.chrisgilcher.com
Bildmaterial: https://de.fotolia.com/id/85973068 - Dark Moon Pictures
Lektorat:Anja Binnebößel
Korrektorat: Anja Binnebößel und Diana Narke
»Hör auf zu hibbeln!«
Vanessa, die mir gegenüber am Frühstückstisch sitzt, schaut mich genervt an.
»Thomas, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass dir in dem neuen Team der Kopf abgeschlagen wird?«
Ehe sie weiterredet, schaut sie mich gespielt ernst an.
»Die Geschichte mit Maik war grausam: Ein Kollege, der nur aus Eifersucht und Neid eine Frau tötet und anschließend versucht, seinen Kollegen zu töten, das ist glücklicherweise einmalig. Das weißt du auch.«
Natürlich weiß ich es, aber eine neue Einheit, eine neue Wache, andere Kollegen, alles wird neu. Ich bin einfach nicht der Mensch für Neues. Es macht mir dieses Mal sogar richtig Angst.
Ich versuche, Vanessa zum wiederholten Male zu erklären, was in mir vorgeht.
»Vanessa, das Schlimmste daran ist: Jeder kennt mich. Mein Name war in aller Munde. Jeder Polizist in Hamburg kennt meine Geschichte. Mein Fall wird nun sogar an der Polizeischule unterrichtet.« Ich atme tief durch und versuche, weiter zu sprechen, aber das fällt mir so schwer. Seit Tagen haben wir immer wieder dasselbe Thema, morgens, mittags und abends Diese Erfahrung liegt mir schwer im Magen. »Ich, der Polizist, dessen Kollege seine Ex-Freundin getötet hat und es dann auch bei mir versucht hat. Ich, der Polizist, der einfach in eine Falle gelaufen ist. Der Polizist, der es nur dank eines kleinen Fehlers des Täters geschafft hat zu überleben.«
Sofort bricht es aus Vanessa heraus.
»Hör doch endlich auf, dich selbst zu bemitleiden. Das bringt weder dir, noch irgendwem anderes etwas.« Natürlich hat sie Recht, aber verdammt, dieses Gefühl ist die Hölle. Wie soll ich meine Arbeit weitermachen?
Natürlich weiß sie, wie es mir geht. Die letzten Monate haben wir so oft darüber gesprochen. Sie und ihr Vater, der auch Polizist ist und mit Vanessa und mir damals den Fall bearbeitet hatte, haben viele und lange Gespräche mit mir geführt. Immer wieder war das Thema auf die schreckliche Tat meines ehemaligen Kollegen Maik gekommen. Maik, der meine Ex-Freundin zerschnippelte und sie mir in einzelnen Paketen zukommen ließ. Wir sind so lange auf der falschen Fährte gewesen. Es ist ihm nur ein einziger Fehler unterlaufen: Bei einem Brief, den er an die Wache meiner Ex-Freundin schickte, hinterließ er seine DNA. Das hat mir das Leben gerettet. Denn ich verdammter Narr, bin ihm in die Falle gegangen. Vanessa und ihr Vater sind in der letzten Sekunde am richtigen Ort gewesen. Mit Engelszungen haben sie auf mich eingeredet, dass ich die Polizei nicht verlassen, wie ich es anfangs vorhatte, sondern eine Fortbildung in Forensik absolvieren soll.
Auch wenn Vanessa mich häufig nervte und mich immer wieder an meine Grenzen brachte, während wir den Fall bearbeitet haben. So war sie doch nach dem Abschluss des Falls meine Stütze. Es hat einige Zeit gedauert, dass wir uns näherkamen, aber heute freue ich mich, dass wir immer mehr ein Paar werden, denn sie ist ein wichtiger Teil meines Lebens.
Aber heute kann sie mir diesen Gang ins Neue nicht abnehmen. Dank ihrer Ruhe und Sanftheit führt sie mich ohne viele Worte in die Richtung, die sie möchte.
Leider kann sie mir mit ihrer Art meine Angst vor dem Dienstbeginn und den neuen Kollegen heute nicht nehmen.
Das Schlimmste daran ist, dass ich seit Monaten genau auf diese Stelle hingearbeitet habe. Diese Angst ist so unsinnig und ich bin deswegen sauer auf mich. Dieser innere Zwiespalt zerreißt mich.
Gleich nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich mit der Fortbildung zum Profiler begonnen. Ich war noch nicht einmal gesundgeschrieben. Meine Wunden waren noch nicht verheilt, da hatte ich meine erste Einheit zur forensischen Psychologie.
Früher hätte ich nie gedacht, dass ich jemals ein Mann werde, der Fällen mit Logik begegnet.
Hart, gestählt und am besten immer vorne mit dabei. Ganz ein Mann der Tat und nicht des Schreibtisches. So haben mich auch meine Kollegen eingeschätzt. Ich liebe es, im Fitnessstudio Gewichte zu heben. An meinen Oberarm kann man sich dranhängen, ich würde es nicht einmal bemerken.
Meine Kleidung ist immer auf dem neuesten Stand. Ich liebe es, modisch zu erscheinen.
Ja, man kann sagen, ich bin ein gestandener, harter Mann.
Aber heute hilft mir das alles nicht. Ich fühle mich klein und schwach. Dabei ist es genau die Stelle, die ich mir nach diesem Vorfall gewünscht habe.
Der damals hinzugezogene Profiler hat uns so viele wertvolle Tipps gegeben. Natürlich konnte er nicht ahnen, dass es mein Kollege ist. Aber das psychologische Profil passte wie die Faust aufs Auge.
Vanessas sanfte Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen.
»Hey, du bist ein guter Polizist und du weißt das auch.«
Knurrend unterbreche ich sie.
»Ja, so ein verdammt guter Polizist bin ich.«
Ein zynisches Lachen unterstreicht meinen ironischen Satz.
»Ich bin alleine in Maiks Falle gerannt. Das nennst du gut?«
Vanessas Gesicht läuft rot an, ihre Hände zittern. So wütend habe ich sie noch nie gesehen.
»Kann ich dir etwas erzählen, ohne dass du ausrastest?«
Ihre Stimme wird bestimmender. Das passt gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild. Zart mit sanften braunen Augen steht sie vor mir.
Ihr Aussehen löst in jedem Mann den Beschützerinstinkt aus.
»Der eine Fall ist doch nicht deine ganze Polizeiarbeit gewesen. Du hattest auf der Dienststelle die höchste Aufklärungsrate.
Du hast dich in jeden Fall reingekniet. Wie ein Pitbull hast du dich festgebissen. Erst wenn der Fall aufgeklärt war, hast du eine Pause gemacht. Das war schon fast eine Neurose von dir.«
Ich stöhne laut auf. Aber ihr Blick lässt mich schweigen.
»Du hast einen Fehler begangen, indem du ohne Absicherung in das Haus gegangen bist. Das stimmt! Wenn wir aber ehrlich sind, müssen wir uns das von der Internen ankreiden. Wir hätten dich gar nicht erst mitermitteln lassen dürfen, du warst zu sehr persönlich betroffen. Es war doch klar, dass dann Fehler entstehen. Kein Mensch kann dabei noch klar denken. Wir können froh sein, dass Maik dich damals nicht zerstückelte, wie er es mit Larissa getan hat.«
Man sieht ihr an, dass sie unter dieser Vorstellung heute noch leidet.
»Aber es hat doch auch etwas Gutes gehabt. Wie oft meintest du, dass du eigentlich nicht der Entscheidungsträger sein willst. Nun kommst du in ein bestehendes Team.
Mein Vater kennt den Einsatzleiter schon viele Jahre.«
Aufmunternd lächelt sie mich an.
»Sie sind alle verdammt gut in ihrem Job, haben ein gesundes Selbstbewusstsein und müssen sich nicht über ihre Kollegen profilieren.
Außerdem freut sich das Team schon auf dich. Du wirst dich schnell einfinden und ihr werdet gemeinsam gute Arbeit leisten.«
Ich weiß, sie hat Recht. In mir sind ja auch zwei verschiedene Gefühle: das eineist Angst und das andereist Freude. Hoffentlich gewinnt die Freude die Überhand.
Schnell verabschiede ich mich von Vanessa und schwinge mich auf mein Fahrrad, um ins Präsidium zu fahren.
Vor dem Polizeipräsidium in Alsterdorf, wo alle Sonderkommissionen vereint sind, atme ich tief ein und aus, als ich eine Stimme hinter mir höre.
»Wir beißen nicht, du kannst mit uns reinkommen.«
Ich blicke in das lächelnde Gesicht des Einsatzleiters Michael Goldbaum. Ich habe ihn bei meinem Versetzungsgespräch schon kennengelernt. Er ist ein freundlicher, offener Mann. Ich war mir damals schon sicher, dass wir gut miteinander arbeiten können.
»Wenn du möchtest, gehen wir gemeinsam rein, dann kann ich dir gleich alles zeigen. Solltest du lieber draußen arbeiten wollen, dann können wir auch gerne zu dir rauskommen. Ich bin mir nur noch nicht so sicher, wie es unser Techniker findet, die Computer hier aufzubauen.«
Leise kichernd bei der Vorstellung, gehe ich mit Michael rein. Anders als auf der Wache in Bergedorf muss ich heute einen einmaligen Sicherheitscheck durchlaufen. Um durch den Personaleingang durchgehen zu können, brauche ich eine Karte. Diese ist schon vorbereitet. Aus dem Zimmer des Wachhabenden heraus beobachte ich das Treiben auf dem Flur. Die Sicherheitskontrollen sind enorm hoch.
Ein festinstallierter Metalldetektor steht mittig im Flur. Es sind immer mindestens zwei Polizisten, die die Sicherheitskontrollen durchführen.
Nach knappen fünf Minuten können wir endlich weitergehen.
»Also wie gesagt, normalerweise musst du diese Prozedur nicht durchlaufen. Heute natürlich schon. Solltest du außer deiner Dienstwaffe Waffen mit ins Haus reinbringen, musst du diese anmelden.«
Michaels Stimme ist beruhigend. Langsam fallen meine Sorgen und Ängste ab.
»Wir sitzen im hinteren Flügel im zweiten Stock. Du wirst am Anfang mit Sicherheit Probleme haben, dich hier zurechtzufinden.«
Er versucht zu witzeln. «Ich könnte ja immer noch wetten, dass der ein oder andere Praktikant, der am nächsten Tag nicht wiedergekommen ist, hier im Haus herumirrt.«
Ich muss über diese Beschreibung lachen, aber ich glaube es ihm aufs Wort.
Das Gebäude mit den neun Seitengängen ist wirklich besonders. Es schaut bestimmt toll von oben aus, aber es ist verwirrend.
»Wir von den Sonderkommisionen rund um Mord sind mit den Sonderkommisionen Kind auf einem Flur.
Ich hoffe, du hast damit keine Probleme.
Manchmal, wenn ich in der Kaffeeküche stehe und die Kollegen über ihre Arbeit reden höre, muss ich meinen Hut vor ihrer Tätigkeit ziehen.«
Sein Blick sagt mir, dass er nicht für die Arbeit in den Sonderkommissionen rund ums Thema Kind gemacht ist.
»Meine Tochter ist zwar noch ein Baby, aber es ist doch immer die größte Sorge eines Vaters, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer fällt.«
Ich nicke, die Sorgen kann ich verstehen. Glücklicherweise habe ich aber immer gut abschalten können. Allerding bin ich auch kein Vater.
»Nein, ich habe damit keine Probleme. Es war ja auch die erste Überlegung, dass ich die Kollegen verstärke. Ich habe in Bergedorf häufig genau diese Fälle übernommen.
Aber mein Wunsch war es dann doch, in den Bereich Mord zu gehen.«
Michael Goldbaum nickt und fährt in seinen Erläuterungen fort.
»Hier im Haus versuchen wir immer wieder zu tauschen. Wir haben festgestellt, dass es keiner lange aushalten kann, nur einen Bereich zu bearbeiten. Gut funktionierende Teams reißen wir nicht auseinander.
Aufgrund der intensiven Arbeit, die die Sonderkommisionen mitbringen, brennen die Kollegen schnell aus.
Solltest du dies jemals so empfinden, scheue dich nicht, auf mich zuzukommen. Es gibt immer Möglichkeiten, um rauszukommen. Sei dir sicher, das ist keine Schande.« Michael schaut mich an. Ihm scheint es sehr wichtig zu sein, dass ich es verstehe. Hat das vielleicht etwas mit meinem Fehler im vorherigen Fall zu tun? Aber sein offenes Gesicht deutet mir an, dass es alle neuen Kollegen gesagt bekommen.
Nach gefühlt endlosen Minuten haben wir den Flur erreicht, in dem unsere Büroräume liegen.
Nachdem er mir die Toilette, sein Büro und die Kaffeeküche gezeigt hat, öffnet er ein Büro. Das Büro, in dem meine Kollegen und ich arbeiten sollen.
Es ist ein steriler, weiß gestrichener Raum ohne Poster oder Pinnwände. Nur in der Mitte des Raumes befindet sich ein großer, runder Tisch, an dem sechs Stühle stehen. Ein großes Fenster lässt warmes Herbstlicht herein. Die Sonne bricht sich im Fenster und das Licht scheint auf dem Tisch zu tanzen. Die Lichter sind die einzigen Farbtupfer im Raum.
Am Tisch sitzen zwei Männer, die meine neuen Kollegen sind.
»Thomas, ich darf dir deine neuen Mitstreiter vorstellen?« Mit einer Hand deutet er auf einen großen Kollegen, der am anderen Ende des Tisches sitzt.
Groß, dunkle Haare und kleine Augen, die aber freundlich blicken. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Cowboy, der ein kariertes Hemd und eine leicht schäbige Jeans trägt. Mit einer Hand deutet er auf einen nicht vorhandenen Hut.
»Frank Torworth. Frank ist spezialisiert auf Bio- und Medizin-Kriminalistik, sprich, er ist ein Ass bei der Spurensicherung. Er arbeitet schon viele Jahre bei uns in der Sonderkommision Mord. Mit Fug und Recht kann man sagen: Er hat die Sonderkommission zu dem gemacht, was sie heute ist.«
Bei den Worten wird Frank rot.
»Glaube ihm nicht mal die Hälfte, ich bin weder ein Spezialist, noch ein Superspurensucher. Es ist vielleicht ein wenig mein Interesse, aber nicht mehr.« Mit diesen Worten steht er auf und reicht mir die Hand. Ein fester, schon fast harter Handgriff. Auch er scheint klar zu wissen, was er will, auch wenn er ein wenig schüchtern erscheint. Es ist ihm offensichtlich unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen.
Grinsend, aber nicht auf die Aussage eingehend, dreht sich Michael Goldbaum zu dem zweiten Polizisten am Tisch.
»Dieser Kollege ist Sven Olafsun, er ist der verantwortliche Ermittler eures Teams. Mittlerweile ist er acht Jahre bei uns im Team. Bei allen Belangen kannst du dich immer an ihn wenden.« Freundlich winkt mir der Kollege zu.
»Liebe Kollegen, das ist Thomas Eickhoff. Er wird unser Team verstärken. Neben der Arbeit bei uns, wird er noch eine Zusatzausbildung als Profiler absolvieren. Er hatte auf seiner alten Dienststelle eine brillante Aufklärungsrate, fast 90 Prozent.
Wir alle haben seinen letzten Fall verfolgt, aus diesem Grund bitte ich euch, zeigt euer bestes Gesicht, damit er sich bei uns wohlfühlt.«
Es war natürlich klar, dass dieses leidige Thema angesprochen wird. Aber lieber jetzt, als irgendwann später. Hoffentlich werde ich nicht gleich gelöchert zu dem Thema. Aber Michael spricht sofort weiter.
»Wenn keine Fragen mehr sind, dann würde ich gerne starten.«
Mit diesen Worten schaut er mich an.
Aber ich bin erstmal noch erschlagen von den ganzen Eindrücken.
»Ok, Sven und Frank haben schon die Akten erhalten. Also Sven, bitte starte mit der Einführung. Vielleicht kurz noch eine Info an Thomas: euer Team gibt mir jeden Mittwoch einen Überblick über die Arbeit. Anders als in anderen Abteilungen machen wir das hier nicht so, dass der verantwortliche Ermittler das alleine macht, sondern das ganze Team berichtet. Manchmal holen wir uns auch noch Fachleute aus den anderen Bereichen dazu.«
Er atmet tief durch und spricht dann weiter.
»Wir haben festgestellt, dass es immer wieder Kleinigkeiten gibt, die ansonsten untergehen, aber am Ende doch wichtig waren.
Wir empfinden es nicht als Angriff auf den Vorgesetzten, wenn Ergänzungen eingebracht werden. Wir sind ein Team, die Strukturen bei uns sind nun mal so, dass es einen Verantwortlichen gibt. Die können wir auch nicht ändern.«
Man sieht ihm richtig an, dass er diese Art der Struktur nicht mag.
»Sven ist für jede Unterstützung dankbar.«
Ein Lächeln in Richtung Sven scheint ermunternd gemeint zu sein.
»Nun aber, Sven, ist das Wort bei dir.«
»In den letzten drei Monaten wurden drei Frauenleichen am Hohendeicher See gefunden. Der See liegt in den Vier- und Marschlanden in Hamburg, wie Ihr vielleicht wisst. Relativ leicht einsehbar und aus diesem Grund nicht nachvollziehbar, wieso gerade er genommen wurde für die Leichenablage.«
Er kneift kurz den Mund zusammen. Anscheinend eine Macke, wenn er unzufrieden ist.
»Es war immer Vollmond, aber das wirklich Interessante daran ist, dass den Frauen folgende Organe entnommen wurden: Herz, Leber, Nieren, Pankreas, Lunge und der Dünndarm. Diese Organe sind transplantierbar und bringen auf dem Schwarzmarkt eine große Summe ein. Die Organe wurden so professionell entnommen, dass es klar ist, dass sie für den Organhandel vorgesehen sind.
Allen drei Frauen wurde außerdem etwa drei bis dreieinhalb Liter Blut abgezapft.«
Ich blicke erstaunt auf. Blut? Von einer Leiche? Das ist mir neu, dass so etwas gemacht wird.
Frank, der meinen Blick aufgefangen hat, greift erklärend ein.
»Wir kennen das aus Russland. Dort wird legal Toten, die einem plötzlichen Tod erliegen, durch einen Schnitt am Hals und die Freilegung der Vene Blut für Bluttransfusionen abgenommen.
Russland hat ein anderes Transfusionsgesetz als wir. Während bei uns eine Einverständniserklärung vorliegen muss, wird dort davon ausgegangen, dass jeder, der dem nicht widerspricht, zustimmt.«
»Kann man denn auch Blut auf dem Schwarzmarkt verkaufen?« Ich fühle mich so unwissend. Es hilft alles nichts, ich muss auf den gleichen Stand kommen wie meine Kollegen.
»Es gibt für alles einen Markt. Blut bringt zwar nicht so viel wie eine Niere - die bringt um die 160.000 Euro -, aber ein Liter Blut kann bis zu 400 Euro bringen.
Der Vorteil dieser Art der Entnahme ist, dass man drei Liter vom gleichen Spender hat. Das bedeutet wiederum weniger Gefahr einer Abstoßung bei der Transplantation.
Wir können also sicher sein, dass die Blutabnahmen für die Transfusionen bei Organtransplantationen benutzt werden.
Man möchte damit versuchen, den Organismus ein wenig zu entlasten.«
Frank zeigt gleich, welches Wissen er sein Eigen nennen kann. Biokriminalistik scheint wirklich sein Steckenpferd zu sein. Ich musste mich noch nie vorher damit auseinandersetzen, aber was er erklärt, leuchtet mir ein.
Nachdem Sven, der die ganze Zeit still daneben saß, sich versichert hat, dass ich alles verstanden habe, fährt er fort.
»Bis jetzt konnten die Kollegen der Bergedorfer Wache nicht feststellen, wo die Gemeinsamkeiten liegen. Auch wenn der Fall in ihrem Zuständigkeitsbereich fällt, haben sie ihn an uns weitergegeben.
Vorschläge für das weitere Vorgehen?«
Dass das Team entscheidet, wie es ermittelt, ist eine interessante Art von Teamführung. Bis jetzt kannte ich es immer so, dass der Einsatzleiter das entscheidet.
Aber noch beobachte ich und bringe mich lieber nicht mit ein.
»Ich würde vorschlagen, dass wir morgen die Fundorte besichtigen.«
Frank macht den ersten Vorschlag.
Ich finde den Vorschlag gut. In der Ausbildung zum Profiler habe ich gelernt, dass es am wichtigsten ist, das zu begutachten, was man auch sehen kann. Zeugenaussagen sind recht ungenau.
Sven fährt fort, als Stille einkehrt.
»Ich möchte, dass wir heute noch recherchieren, ob ein Organhandelring in der BRD vermutet wird. Vielleicht ist unser Fall nur ein Teil vom Großen und wir müssen uns mit den anderen Kollegen zusammentun.«
Zögerlich mache ich doch einen Vorschlag.
»Ich persönlich sehe es noch als wichtig, dass wir die Wohnungen der Frauen untersuchen.
Auch wenn dies bestimmt schon die Spurensicherung gemacht hat: Sollten sie Laptops oder Handys haben, sollte ein PC-Spezialist diese nochmal untersuchen. Nicht selten werden Kontaktaufnahmen so hergestellt.«
Alle Anwesenden nicken zustimmend.
»Wir haben einen Kollegen, der hauptsächlich im Bereich Kinder eingesetzt wird, der soll sich die Geräte nochmal ansehen. Für mich ist ein PC ein Mysterium. Aber ich bin froh, wenn noch jemand von uns das im Auge behält.« Sven stimmt mir zu.
Glücklicherweise rede ich wohl keinen Stus. Ich spüre, wie sich meine Anspannung langsam löst.
»Ach ja, Ihr bekommt diese Woche noch eine Timeline-Tafel.«
Wir alle schauen Michael an.
»Jungs, wir haben das vor einigen Wochen in der Fortbildung besprochen.« Gespielt verzweifelt wirft er die Hände über den Kopf.
Ich kenne das auch aus der Ausbildung zum Profiler.
Michael schaut mich hilfeheischend an.
»Ja, ich kenne diese Tafeln, ich persönlich finde diese Art zu arbeiten sehr gut.«
»Ok, dann kannst du unsere lieben, nicht lernfähigen Kollegen ja in diese Tafel einarbeiten. Dann muss ich mich nicht mit ihnen rumärgern.« Michael grinst frech. Man sieht sofort, er meint es nicht ernst. Na toll, wollte ich ja schon immer, aber ich werde es natürlich machen.
Michael verabschiedet sich, damit wir direkt anfangen können zu arbeiten.
Sven lehnt sich begeistert vor.
»Ich bin sehr froh, dass du uns verstärkst, wir haben neuen Input dringend nötig.
Nun aber zeigen wir dir den Raum, in dem wir an den Computern arbeiten. Hier ist unser Besprechungsraum. Bis jetzt haben wir ihn nur mittwochs genutzt. Das wird sich wohl mit der Tafel ändern. Damit wir das mit der Wand machen können, würde ich vorschlagen, dass wir einmal am Tag ein Update machen oder wie denkst du, können wir das am besten machen?«
Ich nicke.
»Ich glaube, das wird sich einspielen. Anfangs sollten wir es zusammen machen. Nachher sind wir bestimmt fit genug wichtige Punkte anzuschreiben. Wobei ich ja persönlich glaube, dass es am besten ist, wenn wir alles in einem Raum haben. Wie sieht das Büro aus? Können wir da nicht eine Tafel anbringen?«
Sven schüttelt den Kopf.
»Das Büro ist winzig. Wenn, sollten wir überlegen, hier die Computer aufzubauen. Das sollten wir nochmal bei Michael ansprechen.«
»Dafür war ich ja schon immer, hier ist das bessere Licht.«
Frank grinst frech und mich überkommt das Gefühl, dass ich ihm mit dem Raum aus der Seele spreche.
»Vielleicht sollte ich morgen, wenn die Tafel da ist, nochmal anhand der Informationen, die wir schon haben, zeigen, wie ich es am besten fände.«
Erschrocken über meine Worte, denn es könnte ja falsch aufgenommen werden, verstumme ich sofort.
»Mach dir mal keine Gedanken.« Sven scheint mich sofort beruhigen zu wollen. »Du wirst hier über kurz oder lang der Spezialist für Profile werden. Wir haben alle unsere Bereiche, in denen wir am besten sind. Dort ist man derjenige, der den anderen die Arbeit erklärt.
Außerdem sind wir alle erwachsen und können reden.«
Tief einatmend bin ich froh, dass er es so aufnimmt.
Schweigend durchforsten wir alle Fälle, die so ähnlich sind wie der Fall, den wir nun bearbeiten, aber keiner scheint identisch zu sein. Also kein Organhandelring, das sollte wenigstens die Arbeit erleichtern.
Acht Stunden später bin ich froh: Endlich Feierabend. Erstaunt, wie leicht am Ende der Tag war, verabschiede ich mich von den Kollegen.
Zu Hause wartet Vanessa mit dem Essen auf mich.
»Hey, dein Kopf ist ja noch dran, scheint also doch keine Monsterbrigade gewesen zu sein.«
Natürlich muss sie mich wegen meiner Sorgen am Morgen auf die Schippe nehmen. Krampfhaft versuche ich, sie grimmig anzusehen.
»Nein, es war sogar gut. Du hattest Recht, ich habe ein nettes Team erwischt. Es tut außerdem gut, nicht die Hauptverantwortung zu haben, auch wenn jeder im Team in der Verantwortung steht. Alle sind sie offen für Neues, man kann aber dennoch spüren, dass sie eingespielt sind. Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich mich eingefunden habe, was aber normal ist. Der neue Fall ist auch gleich interessant. Ich freue mich riesig auf das Bevorstehende.« Kurz atme ich durch. In dem Moment steigt mir ein leckerer Geruch in die Nase. »Aber nun Schluss mit der Arbeit, das Essen riecht fantastisch.«
Wir genießen das Essen. Sie hat einen einfachen, aber sehr leckeren Gemüseauflauf gezaubert. Wie immer können wir über Gott und die Welt reden. Die Zeit rennt nur so. Erst spät verabschiedet sich Vanessa, um nach Hause zu fahren. Wenn man uns so sieht, glaubt man nicht, dass wir schon seit fünf Monaten zusammen sind. Wir schlafen noch nicht miteinander. Manchmal vermisse ich das sehr, aber ich möchte sie auch nicht bedrängen. Wenn sie soweit ist, wird sie es mir schon signalisieren. Bis dahin genieße ich das freundschaftliche Verhältnis, das wir haben.
Trotz der Aufregung und meinem Gedankenkarussel wegen des neuen Jobs schlafe ich recht schnell ein.
Ausgeruht freue ich mich auf den Arbeitstag. Obwohl wir gestern besprochen hatten, dass wir heute um neun beginnen wollen, stehe ich schon um halb neun vor dem Präsidium.
Meine Aufregung ist zu groß, ich möchte den Kollegen die Tafel zeigen und erklären, gleichzeitig aber auch keine Zeit verlieren.
Ich habe mir vorgenommen, die Tafel vor dem Dienstbeginn vorzubereiten, damit wir schneller anfangen können zu arbeiten.
Leider habe ich das Labyrinth, zumindest kommt mir das Haus hier so vor, unterschätzt. Immer wieder lande ich im falschen Flügel. Ich hätte mich gestern nicht auf Michael konzentrieren sollen, sondern auf den Weg.
Nach einer gefühlten Ewigkeit finde ich endlich unseren Raum. Leider sind die anderen beiden auch schon da. Grinsend sehen sie in mein verschwitztes Gesicht. Gespielt ernst spricht mich Sven an.
»Also, wenn wir im Team neun Uhr sagen, meinen wir auch neun und nicht fünf
nach.«
Frank zeigt ein Grinsen, das mich an einen alten Cowboy erinnert.
Es fehlt eigentlich nur, dass er seine Füße auf den Tisch legt und Kautabak kaut.
»Es tut mir leid, ich komme in diesem Haus einfach nicht ohne Navigationsgerät klar. Morgen fange ich noch früher an. Versprochen.«
Schnell will ich mich daranmachen und die Tafel, die auf dem Boden steht, auf zwei Stühle heben. Bloß keine Zeit mehr vergeuden. Ich kenne Zuspätkommen eigentlich gar nicht.
»Hast du dir schon einen Kaffee oder Tee geholt? Hier fängt keiner an, ohne dass er in Ruhe abgelegt und sich etwas zu trinken geholt hat.
Wir alle kennen das Problem mit diesem Haus. Wir hätten uns vielleicht nochmal unten treffen sollen. Wir sind ja nur halbe Unmenschen.«
Svens Stimme hört sich bestimmend, aber freundlich an. Ich selber hasse es, wenn ich mich vor Dienstbeginn abhetzen muss, also nehme ich das Angebot sehr gerne an. Noch bevor ich das Zimmer verlasse, um mir was zu trinken zu holen, hält Sven mich zurück.
»Bevor du losgehst, um dir einen Kaffee zu holen: wo sollen wir dir die Tafel aufstellen?
Wir dachten vielleicht an der Wand neben dem Fenster, so dass die Sonne da nicht so rauf knallt und wir vielleicht Probleme mit dem Lesen haben.«
Er lächelt mich an und spricht dann mit einem frechen Unterton weiter.
»Aber es ist dein Baby und wir wollten dir da die Entscheidung nicht wegnehmen.«
Ich nicke erfreut, aber auch leicht verunsichert. Wieso mein Baby? Aber ich nehme es als Witz hin und kontere im vollen Ernst.
»Das wäre perfekt. Ich habe an denselben Ort gedacht. Gut finde ich, dass Ihr die Arbeit macht, die ich machen wollte. So kann es bleiben.« Ich bin selber über meine freche Art erstaunt, empfinde aber die Gesamtsituation so entspannt, dass ich mich nicht als zu frech empfinde. Sven lacht und deutet mit der Hand auf die Tür.
»Geh endlich Kaffee holen und trödle nicht so rum.«
Grinsend mache ich mich auf dem Weg in die Küche.
Dort stehen zwei Kollegen, augenscheinlich aus einer der anderen Sonderkommisionen.
»Hi, du bist der Neue richtig?« Der Schlaksigere von beiden spricht mich freundlich an. »Das ist Christoph und ich bin Dirk.« Nachdem ich mich schnell vorgestellt und den Kaffee eingeschenkt habe, gehe ich zu meinen Kollegen zurück in den Raum. Es ist schon eine seltsame Situation, dass ich noch niemanden außer Sven, Frank und Michael hier kenne.
»Sven, wenn wir nachher mal ein paar Minuten Zeit haben, magst du mich den anderen Kollegen auf dem Flur vorstellen? Es ist seltsam, in die Küche zu gehen und dort auf fremde Menschen zu stoßen. Die zwar mich kennen…« innerlich denke ich, na wer kennt mich nicht. »…aber ich kenne sie nicht.«
Sofort steht Sven auf. »Mensch klar, das
tut mir total leid. Ich arbeite das erste Mal hier im Team jemanden ein. Frank war schon weit vor mir da und wenn wir Unterstützung brauchten, kam immer jemand von bestehenden Teams hinzu. Das machen wir sofort.«
In mir kommt ein schlechtes Gewissen auf. Ich wollte gar nicht, dass er glaubt, dass er nun extra loslaufen muss. So kommen wir mit unserem Fall nicht weiter.
Als würde er mein Zögern spüren, schiebt er mich sanft in Richtung Tür und schreitet zügigen Schrittes voran.
»Na komm, 'was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen‘, hat meine Mutter mir immer wieder gepredigt. Ich
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Texte: Alexandra Krebs
Bildmaterialien: Covergestaltung: Chris Gilcher - http://design.chrisgilcher.com Bildmaterial: https://de.fotolia.com/id/85973068 - Dark Moon Pictures
Lektorat: Anja Binnebößel Diana Narke
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0395-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an Anja und Diana, ohne eure HIlfe wäre es nie fertig geworden.