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«Bernhard.» Sophies durchdringender Sopran war unverkennbar und ab sofort hatte das Präsent einen Namen. Kaum ausgepackt wurde der prächtige Apfelschimmel zu Tantchens erkorenem Liebling. Die unerwartete Gunst kam nicht von ungefähr, denn trotz der scharfen Intervention des Pastors, der ebenso eloquent wie gelehrt darlegte, dass Protestantismus, egal ob lutherisch oder reformiert, und Reinkarnationslehre unvereinbar seien, hielt sie an ihrer subjektiv geprägten Spiritualität fest. «Seht diese Augen», sagt sie und deutet auf die funkelnden Farbkleckse. «So konnte nur er schauen.» Der mehrfach gehörnte Gatte und prämierte Herrenreiter war zurückgekehrt und Punkt.
Von der überwiegenden Mehrzahl seiner Bewunderer wurde das neue Gefäß des verblichenen Gemahls als ein vielseitig verwendbarer Multifunktionsklepper bester Abkunft besungen, dessen flache Kruppe eindeutig auf die arabischen Wurzeln des edlen Geschöpfs verwies. Kritischere Stimmen hingegen schmähten das übersteigert gelobte Vieh als extrem hölzern. Differenziert urteilende Charaktere wie Onkel Quintus, ein anerkannt tüchtiger Bildhauer und polternder Verfechter des barocken Faltenwurfs, beschimpften den grob gewerkelten Klotz als ein Vergehen an der Buche oder empörten sich im Verbund mit dem Pädagogen Kieselbach über die unverhüllt klaffende Geschlechtslosigkeit. Glücklicherweise erwies sich die Prophezeiung des Erziehers, das fehlende Gemächt werde spätestens mit Beginn der Pubertät eine irreparable Orientierungslosigkeit zur Folge haben, als das lockere Geschwätz eines liederlichen Kommunarden.
Ob plump oder nicht, wenn Bernhard etwas konnte, dann rennen. Nach etlichen Stürzen, allesamt von Steinchen verursacht, die auf der abschüssigen Bahn die sausende Umdrehung der winzigen Rädchen jählings hemmten, blutenden Schrammen, Verbänden und ansehnlich bemalten Gipsbandagen, hatte Fritz ein Einsehen. Als stolzer Besitzer einer Stoppuhr prädestiniert, Ross und Jockey auf Höchstgeschwindigkeit zu trimmen, kam er zu dem Schluss, den stolpernden Galopper auf Akrobat umzuschulen. «Damit kenne ich mich aus», sagt Fritz und verreibt verlegen eine Träne. «Staub», entschuldigt er sich. Das aufgewirbelte Sandkörnchen ist bekannt und heißt Familie. Bis zur Volljährigkeit fristet ihr Fragment ein Dasein als Pflegekind, das sich widerborstig weigert, in die angebotene Adoption einzuwilligen. Dreihundert Jahre zirzensische Tradition wischt man nicht einfach von der Tafel.
Wer behauptet, Korpulenz gefährde Leib und Leben, irrt fundamental und Fritz ist das quecksilbrige Beispiel für die Zuverlässigkeit der Antithese. Aus der Art geschlagen, rund und schmalzig wie ein Butterfass, wurde er für untauglich erwogen und durfte nicht mit aufs Hochseil. Im Clownkostüm und angesäuert stand Fritzchen am Rand der Arena und grimassierte vor einer Horde quietschender Blagen, als ihn die Balancierstange an der Rübe traf und unvermittelt in die Nacht schickte. Nach dem Erwachen war er Waise und wurde samt Rollstuhl von einer betulich mildtätigen und liebreizend lächelnden Diakonisse ans Grab geschoben, um an der Beisetzung seiner Sippschaft teilzunehmen. Seitdem wohnt Fritz nebenan und betätigt sich als Trainer.
«Der Sprung durch den Feuerring ist der Höhepunkt der Dressur», erklärt er und umwickelt das Drahtgestell mit Stroh. Das Kanisterchen Benzin hat er aus der Garage des Vormunds entwendet, denn brennen muss es. Fertig. Bernhard Löwenherz schnaubt dienstwillig und trabt an. Seine angekokelten Überreste kamen zuerst unters Beil und anschließend ins Feuer. Die handsam gespaltenen Scheite ließen lustig die Funken stieben, wenn sie in die hellauf prasselnde Glut geworfen wurden.
Schäumender Entrüstung schlüpft Tante Sophie erneut in Trauer und flitzt schnurstracks zum Notar. Das hinterlegte Testament bedarf umgehend einer Modifikation. Furchtsam verweichlichte Nieten sind nicht erbwürdig. Verschroben oder Schikane, im Hinblick auf das erkleckliche Sümmchen wurde die Kröte geschluckt.

Prompt zum zehnten Geburtstag meldete sich frohgemut tänzelnd die Revanche und sollte laut Gebrauchsanweisung auf Fridolin hören. Taub war der Ankömmling nicht, aber die Zusicherung, dass er blindlings gehorchen würde, war mächtig übertrieben, bei geputzter Brille eine schrille Lüge. Der fuchsige Zossen war störrischer als ein Maultier und heimtückischer als der gerissenste Strauchdieb. «Zutraulich und wie maßgeschneidert», doziert Tantchen, während sie erstens die Flanke des grinsenden Unholds tätschelt und zum Zeichen temporärer Geringschätzung zweitens dem dürftig ausgefallenen Sprössling des schwesterlichen Schoßes die kalte Schulter zeigt.
Der unter den wulstigen Gesäßen ungelenker Touristen gereifte Isländer kannte jede Gemeinheit, die in einem bösartigen Schädel Platz findet. Stumpf gegenüber Appell und Peitsche beschleunigt Fridolin bevorzugt vor niedrigen, gediegen gemauerten Torbögen mittelalterlicher Befestigungen und kommt erst dann zum Stillstand, wenn die lärmende Bürde mit lädierter Stirn und gebrochener Nase wehklagend hinter ihm auf dem Straßenpflaster liegt. Doch auch fern von soliden Hindernissen und schadenfroh klatschendem Publikum vermag er sich eine Freude zu bereiten. Unbeeindruckt von zornigen Rufen nach Metzger und Sauerbraten steuert er in makellosem Tölt auf sumpfiges Gelände zu, um dort samt Sattel und schreiendem Elend auf dem Buckel sein tägliches Schlammbad zu zelebrieren. «Auch Ponys haben Bedürfnisse», sagt Tantchen ungeachtet des gequetschten Rückens und mutmaßt, dass aus dem mickrigen Anverwandten nie und nimmer ein fescher Kerl wird.
Der gerügte Wicht besinnt sich auf Abhilfe und sitzt fortan hinter Lina. Die Untergasse gilt nicht unbedingt als feine Adresse, aber wenn sich jemand darauf versteht, siegreich wiehernde Furien zu bändigen, dann sie. Ob Alkmene, Karotte oder Ansprache, das Rätsel um ihre besänftigende Wirkung bleibt ungelüftet, doch gleich wieso, unter ihren Kommandos promeniert Fridolin sanfter als ein altbewährter Zelter. «Du schwitzt», sagt sie und erfasst blitzschnell die Ursache des Fiaskos, hat aber nichts dagegen einzuwenden, wenn Tantchens ängstlich missratener Neffe um sicheren Halt bemüht sie anschmiegsam eng umklammert. Den forschenden Griff nach den ersten Trieben rosig knospender Köstlichkeiten gestattet sie allerdings erst dann, wenn offenes Feld erreicht ist und sie unter sich sind. Beizeiten aufgeklärt weiß Lina, was sie sich schuldet. Für ein bisschen Spaß muss eine Frau nicht gleich zum Flittchen werden. Fridolin ist mit der Entwicklung einverstanden und sucht die Weide nach schmackhaften Kräutern ab, während Stift und Lehrerin im Heu rasten. Unheil und Internat nähern sich schleichend und wie üblich auf zwei Beinen. Melanie stammt aus Iowa, ist Austauschschülerin und genauso heftig wie heimlich verliebt. Bewahre, nicht in den Knirps, sondern in Lina. Die herbe Enttäuschung benötigt ein Ventil.
«Tritt ein und du wirst ein Mann werden.» «Richtig», bestätigt Tante Sophie und meint die exakte Übersetzung des in Basalt gemeißelten Wahlspruchs, der gleißend über dem Eingang prangt. Die trostlos graue Fassade und die grimmige Miene des Institutsleiters unterstreichen den Ernst der Lage. Körperliche Ertüchtigung steht auf dem Lehrplan nicht umsonst ganz oben. Reitunterricht wird ganzjährig erteilt, Eistauchen auch, jedoch nur in den Monaten Januar und Februar, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit. Auf Ausreißer ist man vorbereitet, der See befindet sich auf dem umzäunten Areal der Anstalt. Tante Sophie scheint zufrieden, füllt den ersten Scheck aus und stürmt davon. «Tschüs, mein Junge.»

«Darf ich vorstellen, das ist Justus», sagt Ludmilla. Weizenblond bezopft, mit heiterem Gemüt und strammen Schenkeln begütert, kämpft sie zweimal wöchentlich gegen Karies und Parodontitis. Nicht bei den Pennälern, die freundliche Riesin aus Kasachstan, die nach Abenteuer, Klee und Steppengras duftet, ist examinierte Pferdepflegerin und eine gefragte Kapazität der Abteilung Dentalhygiene. Wacker bewehrt mit Raspeln, Bürsten und Maulklemmen gebietet sie Fäulnis und Zahnbelag Einhalt.
Der gebürtige Diepenbeeker ist gewaltig und die fleischgewordene Gelassenheit. Nach einem Dezennium als unterbezahlte Hilfskraft in der Tourismusbranche hat er Krabbenfischerei, Netze, Salzwasser und Porren über, schnappt seinen Tornister und emigriert Richtung Binnenland. Uneben und holperig dürften seine Wege gewesen sein, aber ohne Ludmillas beherzten Einsatz hätte das unrühmliche Finale der riskanten Odyssee wahrscheinlich in einem sizilianischen Schlachthaus stattgefunden. In den elastischen Schlingen behördlicher Fangstricke erschlaffen schwellende Muskelstränge und erlahmt stählerne Stärke.
Geehrt sei auch Advokat Flink, der von minniglicher Zuneigung beflügelt, mit schwindelerregender Zungenfertigkeit zu einem gewandten Jongleur im Umgang mit Paragraphen und Verordnungen gedieh, die Bürgschaft für Unterkunft und Alimentation erst ermöglichte. Wie auch immer, der eingeschüchterte Justus durfte die Ladefläche des Transporters verlassen. Seit dieser absonderlichen Episode logiert er bei Ludmilla und teilt den Stall in nachahmenswerter Eintracht mit untergewichtigen Igeln, schielenden Eulen, einer fruchtbaren Schar fetter Mäuse und einem pensionierten Hofhund.
Von allen Pflichten befreit fühlt sich der gelangweilte Gigant zum selbstlosen Therapeuten befugt und verwandelt zitternde Knaben wundersam in unerschrocken flotte Kavaliere. Uneigennützig bis ins Mark wird er sich lieber den Hals brechen als einen seiner ihm anbefohlenen Schützlinge beschädigt nach Hause zu tragen. Das Wespennest ist ihm nicht anzulasten. Echt oder gemein, gegen den stacheligen Groll eines wütenden Schwarms immunisieren weder das dicke Fell eines erprobten Wanderers noch die strapazierfähigen Nerven eines stoischen Brabanters. Manche Unwägbarkeiten sind schlechthin nicht vorhersehbar.

«Alles wird gut», sagt Ludmilla und streichelt die Wangen des blässlichen Rekonvaleszenten. Auch Tante Sophie ist herbeigeeilt. Vom Fußende des Bettes verkündet sie gleichermaßen erschüttert wie gefasst, dass auch sie schweres Ungemach getroffen habe. Das schimmernde Kapital ist dahin und zugleich mit ihm haben sich ihre schönsten Träume in Luft aufgelöst. Der Berater war ein Scharlatan und Hasardeur erster Qualität. Brummen soll der Betrüger bis Schwielen wachsen, aber futsch ist futsch. Blank bis aufs Hemd sah sie sich unversehens gezwungen, den armen Fridolin zu veräußern.
Mögen sie groß sein oder klein, unstet temperamentvoll wie der Wind oder behäbig wie ein Faultier, kompakt in Gold gegossen in Vitrinen protzen oder hohlbäuchig wie der Danaer Geschenk um Einlass buhlen, mit einem Kuckuck auf dem Arsch wird auch der edelste Gaul zu einer lächerlichen Figur.

Impressum

Texte: Alfred Hermann
Bildmaterialien: Alfred Hermann
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012

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