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Alfred Hermann

Der Test

Erzählung

© Alfred Hermann
Titelbild: Alfred Hermann


«Nein!» Heinrich ist generös und seine Weigerung verblüfft. Alles, aber den Bleistift zum Trauerspiel nicht. Ansonsten ist er nicht kleinlich, und der Beweis, dass sein Ruf als Gönner nicht auf leeren Versprechungen fußt, ist hinreichend belegt. Nicht nur theoretisch. Computer und Handy, sehr gerne und ruckzuck, diese und jene Zuwendung, soll sein. Als der Junge unbedingt eine Violine wollte, war er weder zu bequem noch zu geizig, um nach Mittenwald zu reisen, um für den begabten Neffen ein geeignetes Instrument zu erwerben. Größe, Schulterbreite und Armlänge hat er vermessen und sorgsam notiert, ehe er eine auf den Wuchs gefertigte Fiedel bauen ließ. Bedauerlicherweise und wie so oft ist das Talent weniger ausgeprägt als der Auftrieb hochfahrender Vorsätze, und obendrein ist Beständigkeit eine Rarität. Nun verstaubt die Gabe unbeachtet und klaglos in einer stillen Ecke. Die Enttäuschung ist verständlich, aber dennoch hat er weder gezürnt noch geschworen, bei weiteren Wünschen reservierter zu reagieren. Der Mensch kann sich irren und blamieren, aber vor allem, er kann, darf und soll seine Pläne ändern.
Alles, aber diese Dinger sind verflucht und lotsen schnurstracks ins Verderben, und vor diesem Pfuhl will er den Knirps bewahren. Die Gründe seiner Abneigung bleiben verborgen, und auch Hortense, die bestens informiert ist, schweigt. Das hat sie gelobt und niemals vergessen. Heinrichs schwache Stunden werden als versiegeltes Geheimnis gehütet, von dem nicht einmal der Spiegel über der Frisierkommode etwas ahnt. Dieses Gebaren ist völlig normal, denn letztlich basiert ihre Ehe auf einer solchen Gelegenheit.
Doch wie solide die Mauern auch gefügt sein mögen, die Schar der Mäuse ist listig und findet immer ihren Weg.

«Ich brauche eine Taschenlampe», sagt Heinrich. Omi ist Witwe und muss sparen, doch die Widrigkeiten werden überwunden und zum Wiegenfest überreicht sie dem Enkel das Objekt seiner Sehnsucht. Bestimmt war der Verkäufer ebenso tüchtig wie überzeugend, denn das Prachtstück kann auch rot und grün leuchten. Heinrich ist hingerissen und verkündet, dass Friederike die beste Großmutter ist, die man sich erträumen kann. Nach der Kaffeetafel wartet er ungeduldig darauf, dass es Abend wird. Entgegen der allgemeinen Befürchtung trabt er jedoch nicht in den dunklen Hof, um die Errungenschaft auf ihre Tauglichkeit zu prüfen, sondern begibt sich umgehend ins Bett. Beeindruckt und erfreut über den beispiellosen Reifeprozess, denkt seine Obrigkeit nicht die Minute über die phantastische Wandlung des vordem an Schlaflosigkeit leidenden Knaben nach. Schlau war Heinrich bereits als Wicht, nicht umsonst ist er Physiker geworden, der sich an den kompliziertesten Fragen versucht. «Das Kind ist dankbar», sagt Oma und ist über seine häufigen Besuche entzückt. Den Zuschuss zu den Batterien entrichtet sie ergeben. «Ein echter Strahler, ganz wunderbar», erklärt Heinrich und erläutert die Zusammenhänge zwischen Qualität und Energieverbrauch.
«Zurück zum Thema», wispert Madame Naseweis. Elterliche Sorglosigkeit ist der pure Übermut, doch dann und wann sogar entschuldbar, besonders wenn zuvor einige Likörchen und Schnäpse benötigt wurden, um den von Cremetorten und Sahnekuchen überforderten Magen bei seiner Tätigkeit zu unterstützen. Schön war es und aufreibend auch, jedenfalls herrscht jetzt Ruhe. «Man plaudert nicht jede Intimität aus», raunt Frau Vorwitz und lehnt vertraulichere Auskünfte ab. Es geht niemanden etwas an, wie und womit sich das erschöpfte Paar die gewonnene Zeit vertrieb.

Der wackere Heinrich ist ein Abenteuerer, der nun auch während der Nacht seinen gefährlichen Leidenschaften frönen kann. Nicht nur Weltenbummler und Glücksritter, sondern auch Forscher. Von den Vigilien wird seltsamerweise die Ausbeute seiner Leistungen nicht geschmälert. Er ist helle und die geforderten Kenntnisse fliegen ihm im Halbschlaf zu. In der Schule wirkt er meistens etwas abwesend und zerstreut, aber seine schriftlichen Arbeiten sind exzellent. «Der Bub ist introvertiert», urteilt die Lehrerschaft. Kurzum, der Sprössling hat erstklassige Anlagen und verheißt eine ersprießliche Zukunft, lediglich seine Vorliebe für Fontane und die jüngere Geschichte stößt bei den Erwachsenen auf Unbehagen. Er ist umfänglich bewandert, und sie sind ungewöhnlich schlecht unterrichtet. Offensichtlich entspringt der Fall Dornröschen einer realen Begebenheit.
Den wachen Geist treibt es um. Heinrich grübelt und entdeckt eine Lösung. Nahe der Wohnstatt strömt der Fluss und darüber führt eine Brücke. Die Schienenstränge gleißen verlockend in der Sonne und münden in der Unendlichkeit. «Heureka», triumphiert Heinrich und schleicht aus dem Haus. Es ist düster, doch er ist der Finsternis nicht ausgeliefert. Das Geschenk ist fabelhaft, geradezu grandios. In der Tat und zweifelsohne, denn Heinrich gelingt es, den Nordmann zu stoppen. Der Nordmann ist ein Express und hat es mächtig eilig. Das Ziel ist fern und er möchte pünktlich ankommen. Der Heizer schaufelt Kohlen und lässt die Funken stieben, doch seine Anstrengungen sind vergebens, denn die Vollbremsung erfolgt abrupt und wird nicht als Spaß verhandelt. Heinrich ist ein guter Sprinter, aber mit der Ausdauer des Streckenwärters auf Schwellen und Schotter kann er nicht wetteifern. Der Kerl packt ihn beim Kragen, und mehrere Ohrfeigen kündigen ein kolossales Gewitter an. «Damals», sagt Heinrich, «durfte man noch erziehen.» Aufklärung hin, Offenheit her, in dieser besonderen Sache schätzt der alte Bursche den Gebrauch von Euphemismen, schließlich widerstrebt es ihm, sich des Schlussakts zu entsinnen. Die Funzel wird konfisziert, das Taschengeld gestrichen und die Züchtigungsfläche erheblich strapaziert.
«Darf ich bitte ein Kissen haben», sagt Heinrich. Der Antrag wird bewilligt, aber dafür hat er Kläffer als Ministrant zu dienen. Er revanchiert sich und stibitzt dessen Perücke. Der Scheiterhaufen lodert famos. Ein löblicher Streich, denn immerhin muss der Herr Pfarrer für drei Wochen der Sünde entsagen und das Milieu meiden. Obwohl, Eitelkeit ist auch nicht von Pappe. «Schlimmer als Feldkurator Katz», sagt Hortense und versteht, welches Vorbild ihren elenden Heinrich zerrüttet hat. Doch er ist diskret und abgesehen von seinen Abstechern bei den Damen ein Schnäppchen. «Es gibt üblere Angewohnheiten», sagt sie. Nur sie weiß, weshalb Heinrich den Zug anhielt. Ertappt und gestellt brachte er kein Wort zu seiner Verteidigung heraus. Und später - vorbei ist vorbei, der passende Augenblick verfehlt. Seine Freude am Experiment waltet allerdings ungebrochen fort, und nicht zuletzt diese Disposition gestattete ihm manche erstaunliche Einsicht.
«Er wollte wissen, ob man wirklich nichts tun konnte», piepst Donna Curiosità und verstummt. Endlose Ketten von Güterwaggons rattern über die Geleise und nähern sich in gleichgültigem Takt den Werkbänken der Mörder. Sie studiert fleißig die Annalen ihres Volkes und erinnert sich genau.

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Tag der Veröffentlichung: 24.12.2010

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