Cover




Alfred Hermann

Die Veteranen

Erzählung


© Alfred Hermann
Titelbild: Alfred Hermann


«Wir», sagt Werner. Auf sportivem Terrain gelten seine Kenntnisse als profund und zuverlässig. Er arbeitet beim Botengänger und müsste nach Selbstauskunft längst einen leitenden Posten begleiten. Bis dahin wandert er weiterhin als freier Mitarbeiter schmachtend durch die dunklen Täler der regionalen Ertüchtigung. Obwohl sein Talent missbraucht und ausgenutzt wird, drückt er seinem Steckenpferd beharrlich die Sporen in die Weichen und hat sich zu einem engagierten Fürsprecher für die Belange der reinen und echten Amateure gemausert. «Eine Stimme, die vernommen wird», sagt Wolkenheim.
Augenblicklich sitzt er im Brauhaus. Nicht alleine, um gegen den Kummer über die trüben Aussichten seines beruflichen Fortgangs anzutrinken, die ihm von Speckrollen und Haltungsschäden verstellt werden, sondern im Kreise von Gefährten und Bekannten, in deren Mitte er Ludolf von der Kapelle zum Grab geleitete. «Ein weihevoller Abschied», sagt Wolkenheim und gesteht ein, dass nichts ergreifender sei als ein feierliches Begräbnis. Sogar Hernandez heulte Rotz und Wasser. Für das erste Mal eine beachtliche Verrichtung. Immerhin ist er weit über achtzig und ein unter Fußgängern berüchtigter Rollstuhlfahrer. Einige Mütter sollen ihre Brut mit dem strikten Gebot belegt haben, die Nähe des Altenheims zu meiden, nur weil sie Schrammen und Knochenbrüche fürchten. Hernandez war Verteidiger und wurde als ziemlich langsam und ungelenk eingestuft. Großtuer und Blender meinen, er sei stets unzulänglich vorbereitet gewesen, aber für die Mehrheit war klar, dass die mangelhaft ausgeprägte Feinmotorik mit seinem Beruf zu tun haben musste. Brückenbau bei Wind und Wetter schüttelt niemand aus den Kleidern. Man kann eine Menge gegen ihn vorbringen, aber solange er im Strafraum waltete, blieb das Viereck sauber. Er war ein eisenharter Knochen, der jeden Angreifer von den Beinen säbelte. Leider nie lange genug, denn spätestens nach einer halben Stunde wurde Hernandez des Feldes verwiesen, musste das Zeichen seiner Funktion abstreifen und die Umkleide aufsuchen.
Ein Turm in der Abwehr, aber anders als Ludolf blieb er der unauffällige Recke, dessen Werk nie mit Ruhm und Ehrung beschenkt wurde. Die Huldigung mutet vielleicht ein wenig überspannt an und bei Licht, wer kennt schon Ludolf. «Wir», sagt Werner. Wir sind wenige, aber darauf kommt es erstens nicht an, und zweitens weiß der Experte, wovon er redet. Und eigentlich und allemal ist es nur gerecht, Ludolf neben Alfredo di Stefano und Puskás einzuordnen.
Nicht ohne Grund hängt der Verstorbene in Öl und Barockrahmen im Klubhaus. Für Kenner und Sammler eine gelungene und streng gehütete Arbeit, die ein Lehrer Wolkenheim, Präsident, Kassenwart und Trainer in Personalunion, genehmer Maler anlässlich des hundertjährigen Bestehens anfertigte. Als wäre er mit diesen Ämtern nicht schon hinreichend beschäftigt, ist Wolkenheim der Vorsitzende des örtlichen Kulturvereins und nennt den Menschen erst dann vollkommen, wenn er sich gleichermaßen um die Ausbildung von Leib und Geist bemüht. Der von ihm gespendete Ludolf sieht reichlich blass aus. Das muss nicht befremden, denn der klassischen Idealen zugewandte Liebhaber von Abgüssen altgriechischer Schönheiten und Ehrenämtern ist ein glühender Verfechter des Realismus und hält künstlerische Freiheit für die freche Ausrede unbegabter Pinselquäler. «Dieses Porträt», sagt er, «ist wahrhaftig und zeigt unseren geschätzten Freund, wie er war, nicht wie er sein könnte oder sollte.»
Das mag richtig sein und diejenigen, die seine größte und schwerste Prüfung bezeugen können, nicken zustimmend. Aktive verhöhnen den verwegenen Nestor seiner fahlen Hautfarbe wegen gerne als Vampir oder Zähnchen, aber nur heimlich und dann, wenn Wolkenheim nicht in der Nähe ist. «Ludolf ist ein Vorbild», sagt er, «und nicht der dumme August für einen Schelm mit schalem Witz. Noch einmal, und du fliegst.»
Jüngeren begegnet er nachsichtiger, denn eine von Tränen aufgebrachte Elternschaft ist schnell bereit, die Kleinen abzumelden und anderer Obhut anzuvertrauen. «Zugezogenen», sagt Hernandez, «fehlt es an Heimatgefühl.»
Nicht nur daran, denn nach Auffassung des ehemaligen Kapitäns muss man dabei gewesen sein, um den Verblichenen seiner Verdienste gemäß zu würdigen. «Diesen Leistungswillen gibt es nicht mehr», sagt Wolkenheim und nimmt Anlauf. «Damals», sagt er, «stand der ganze Ort geschlossen hinter uns und wir, wir hätten beinahe den Einzug in die höhere Liga geschafft.»
Faktisch war Ludolf ein Zwerg, der sich mächtig strecken musste, wenn er über die Tischplatte schauen wollte. Klein, leichtgewichtig und krummbeinig, aber ein begnadeter Stürmer, ein Artist, ein Zauberer, der alles konnte. Haken und Pässe schlagen, trippeln, dass man schwindelig werden konnte, aber vor allem machte er Tore. Seine verdeckten Schüsse aus der zweiten Reihe waren legendär. Mit Effet angeschnittene Granaten, deren Wucht kein Keeper parieren konnte, oder gemeine Aufsetzer, die dem Torhüter durch die Hände fluppten, unberechenbare Dreher und sachte Roller, von den Anhänger der gegnerischen Mannschaft verlacht, bis sie entgegen jeder Vorhersage dennoch ihren Weg ins Netz fanden. Das war Ludi und noch viel mehr. Ein Gladiator, ein Kämpfer, ein unermüdlicher Rackerer, der sich den Ball aus dem eigenen Strafraum holte, das Leder an der Seitenlinie entlang nach vorne trieb, mit Tricks und Körpertäuschung die Deckung ausmanövrierte, in die Mitte wechselte oder nach links oder rechts auswich, um aus unmöglichen Winkeln genau kalkulierte Flanken zu treten, ehe er die Kugel übernahm und gegen die Latte klatschte, um den Rückpraller mit der Stirn ins Gehäuse zu stoßen. Auf der Straße ein Kobold, auf dem Rasen ein Gigant. Leben soll er. «Und dann», sagt Wolkenheim, «kam unser Tag. Sieg und Aufstieg hieß die Parole. Sieg und Aufstieg schrien wir in der Kabine.»
In greifbare Nähe gerückt, sollte nun das Wunder vollzogen werden. Die Spieler sind nervös, ihre Aktionen wirken fahrig, bis Ludi ein Alleingang gelingt. Er bricht durch und zieht ab, doch das aufbrausende Freudengeschrei verebbt jählings. Abseits. Wolkenheim und Hernandez hören den Pfiff noch immer. «Schiebung», rufen sie und schlittern gerade noch einmal an einem Platzverweis vorbei. Unmöglich! Nie zuvor stand Ludolf abseits. Noch dürfen sie hoffen, denn in der Arena kann man sich auf Ludi verlassen, und tatsächlich und wie auf Bestellung, einen Atemzug vor der Pause schlägt sein Geschoss ein. Aus dreißig Meter Entfernung zischt die Kugel wie ein Blitz unhaltbar ins Netz der Gäste. Die Sache ist eindeutig, und diesmal kann man sie nicht betrügen. Nichts ist an diesem Nachmittag wie gewöhnlich, denn zur zweiten Halbzeit ist Hernandez noch immer dabei. Ein besseres Vorzeichen auf den absehbaren Sieg kann es nicht geben. Doch rasch kriegen die hochfahrenden Pläne einen dicken Dämpfer versetzt. Die asturische Eiche muss gehen und die wichtige Position unerfahrenem Ersatz überlassen.
«Kurz danach», sagt Wolkenheim, «begann die Tragödie, aus der sich Helden erheben und Männer über sich selbst hinauswachsen. Kostbare Momente, die unabdingbar sind, wenn die Besonderheit zur Legende kristallisiert, um der Nachwelt ein Exempel zu stiften. Jetzt, ihr Möchtegerne, werdet ihr erfahren, weshalb unser Ludolf ausschaute, wie ihr ihn seht.»
Niemand kann Ludolf ersetzen. Das ist das Geschick der Einmaligkeit. Erhöhend und niederschmetternd zugleich, denn darin liegt die Größe und Schwäche der Ausnahme. Plötzlich stürzt er zu Boden, krümmt sich vor Schmerz. Er blutet, nicht nur ein bisschen, ein Tritt trifft ihm am Hals und ein schadhafter Stollen beschädigt die Schlagader. Dort wo der Titan waidwund niedersank, färbt sich das Grün rot. Tierarzt Zeno erkennt geistesgegenwärtig den Ernst der Lage und eilt im Laufschritt zu dem Verletzten. Zusammen mit einer barmherzigen Seele trägt er Ludolf über die Seitenlinie und kramt in seiner Tasche nach Nadel und Faden. Während er die Wunde notdürftig verschließt und die Gefahr abwendet, hasten Einheimische herbei und bieten sich sofort als gütige Wohltäter an. Deswegen das Transfusionsgefäß in seiner Hand und die Nadel in seinem Arm. Sekunden dehnen sich, bange Minuten verstreichen, dann erhebt sich Ludolf. Endlich! Er scheint benommen und meldet sich trotzdem zurück. Ohne zu zögern, mischt er sich wieder ein, greift erneut an, übernimmt im besudelten Trikot und einem sich dunkel verfärbenden Verband die Regie, öffnet mit weiten Bällen die Räume, tänzelt, watschelt, foppt, leimt und überlistet, lässt die Kugel wie ein aufgescheuchtes Huhn flattern und versenkt sie im Kasten. Auf Rängen und Tribüne brandet tosender Jubel auf. Dreimal! Ein begnadeter Athlet. Doch die Aufbietung der letzten Kräfte ist vergebens, denn in Unterzahl und ohne Hernandez ist die Defensive durchlässiger als ein verrottetes Sieb. Angeschlagen kann Ludi zwar Reife zeigen und sich selbst überwinden, aber allein eine Partie gewinnen, das vermag er nicht. Zwei Treffer mehr hätte er erzielen müssen. «Vielleicht», sagt Wolkenheim, «wenn er nicht beeinträchtigt und von Flasche und Schlauch behindert gewesen wäre.» Vorbei, der Verbleib in der Bedeutungslosigkeit wird vom Schlusspfiff besiegelt. Das Ergebnis wird bestätigt, der Antrag auf eine Wiederholung abgelehnt. Das Schiedsgericht bleibt hart und versteckt sich hinter Formalitäten.
«Wer zum Mythos bestimmt ist», schreibt Werner in dem von ihm verfassten Nachruf, «muss auf dem Scheitelpunkt seiner Bahn stolpern, um unter der Glorie des Scheiterns das Verlangen nach dem Unmöglichen vorzuführen, denn was ist ein Traum, der Wirklichkeit wurde. Wer darüber auch noch den Beweis erbringt, dass Tapferkeit und Medizin einander prächtig ergänzen, öffnet sich aus eigener Kraft den Eingang in die Geschichte.
«Werner ist ein feiner Mensch», sagt Wolkenheim und beschließt, dass die Totenklage neben dem Gemälde aufgehängt wird.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.06.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /