Alfred Hermann
Marienbad
Erzählung
© Alfred Hermann
Titelbild: Alfred Hermann
«Du wirst alt, mein Lieber», sagt Rudi. Franz Ferdinand blinzelt. Er ist schläfrig und wird sich sein Selbstbewusstsein nicht durch unpassende Bemerkungen erschüttern lassen. Jemand, dessen Hände zittern, sollte mit fragwürdigen Anspielungen zurückhaltender umgehen. Er liegt am Fußende des Bettes. Dort ist sein Platz. Nach dem ersten Rundgang war die Wahl entschieden und weder Schmeicheleien noch eindringliche Aufforderungen konnten ihn umstimmen. «Lass ihn», sagt Claire, «er wird uns nicht stören.» Das ist selbstverständlich, denn wenn sich Katzen auf etwas verstehen, dann auf Diskretion und Respekt. Er hat Rudi noch niemals mit einer herabwürdigenden Äußerung verletzt. Bewahre. Wenn ihn jemand nahezu richtig einschätzt, dann Claire. Sie könnte mühelos ein Dutzend Kladden füllen, wenn es ihr in den Sinn käme, jene Gelegenheiten niederzuschreiben, die hinreichend Anlass gegeben, um sich mit Sticheleien und bissigen Bosheiten über den alten Knaben zu belustigen. Mehr noch, er ist großmütig genug, die Altersflecken, Runzeln und bläulichen Linien der Adern geflissentlich zu übersehen. Er ist ein Vorbild an Verschlossenheit, wenn es darum geht, Schwächen und Schwachheiten mit gnädiger Ahnungslosigkeit zu verhüllen. «Rudolf», ruft Claire. Sie steht unten an der Treppe und mahnt zur Eile. Wer ihrer Selbstauskunft traut, hat eine Frau vor sich, wie sie umgänglicher und geduldiger nicht sein kann. Das mag stimmen, doch die Schärfe in ihrer Stimme ist unüberhörbar und deutet an, dass auch ihrer Langmut und Nachsicht Grenzen gesetzt sind. Die Zeit drängt, und die Uhr duldet keinen Aufschub. Weit entfernt, geflissentlich billigen Trost zu spenden, lauscht F. F. ungerührt dem Gemurmel über die schädlichen Auswirkungen von Eile und Hektik. Die Angelegenheiten der Menschen berühren ihn nur peripher. Diesen feinen Ausdruck hat er von Rudi. Dafür ist er dankbar, aber zum Schleimer wird er darüber nicht. Eigentlich kann er über den alten Herrn nicht murren, aber er macht es ihm nicht leicht, zumal wenn die Hand, die ihn für eine Weile wie abgelegt und vergessen hinter den Ohren gekrault hat, abrupt von ihrem löblichen Werk ablässt. «Wir erwarten Gäste. Beeile dich.»
«Ich bin kein Rentier», sagt Rudolf, «und eine rote Nase habe ich auch nicht.» Großzügig bis zur Selbstaufgabe ist er dennoch in manchen Dingen eigen und besteht darauf, dass er Rudi gerufen wird. Einige der Damen lächeln, die älteren hinter schicklich verschlossenen Lippen. Der Hausherr ist ein vorzüglicher Unterhalter, dem kein Thema verübelt wird. Sogar seine gefühllose Vorliebe für literarische Stoffe stößt auf milde Nachsicht. «Ein kühner Erzähler», flüstert Lieselotte und schielt nach Unterstützung. Ihr Angetrauter ist in Brüssel beschäftigt und gilt als rühriger Lobbyist. «Vornehmlich Agrarprodukte», sagt sie. Claire ist sich sicher, dass sie Goethe für einen Käseersatz hält, den ein niederländisches Konsortium im Allgäu herstellt. Sei es, wie es mag, mit Klaus Hinrich ist sie grundsätzlich einer Meinung. Sie unterstützt ihn nach besten Kräften und preist jede Ware, die der Gatte fördert, als wohlschmeckend und kalorienarm an. Fortschrittliche Ernährung ist ihre zweite Leidenschaft und vorgefertigte Erzeugnisse bezeichnet sie als eine Wohltat. «Dieser Umschwung betreffe die berufstätige Frau nicht weniger als die gesamte Menschheit.» Wenn es nach ihrer Vorstellung ginge, würde sie Afrika mit Fertigpizzen aus dem Schwabenland vor dem Hunger retten.
Claire streicht Lieselotte von der Liste. Rudi kann jede Form der Unwissenheit ertragen, vorausgesetzt, sie äußert sich nicht. Das umtriebige Persönchen ist eine aufmerksame Zuhörerin und der unerschütterlichen Annahme, dass es van heißen muss. Van und Holland passen prächtig zusammen. Wer sich als Weltmann ausgibt, sollte besser auf seine Aussprache achten. Von ergibt keinen Sinn. Doch sie ist großzügig und sieht dem alten Herrn das Versehen nach. Insgeheim tippt sie auf billigen Zahnersatz. Sie seufzt zurückhaltend und wird sich künftig sorgfältiger mit der Pflege ihrer Haut beschäftigen. Erahnte Fältchen kündigen künftige Katastrophen an.
Die meisten Besucher kennen Rudi besser und wissen, dass er weder für Orden noch Siegerkranz bereit, in die Niederungen technischer Prozesse und die Täler industrieller Fertigung zu steigen. «Kamillentee und Zwieback sind mir zuwider», sagt Rudi. Claire schaut ihn an. Erst letzthin musste er vor ihr im Beisein etlicher Zeugen das Versprechen ablegen, sich nie wieder mit einem Lebensmittelchemiker anzulegen. Lieselotte kichert. Sie ist ein unverständiger Trampel, neigt zur Schadenfreude und befindet sich fernab feinnerviger Empfindsamkeit. Seichte Fadheit kränkt den lichten Geist und empört Magen und Darm nicht minder. Doch Sorge und Geste sind ebenso voreilig wie überflüssig, denn wenn ungetrübte Stimmung etwas fordert, dann die Vermeidung strittiger Themen. Noch ein paar Minuten, dann wird hinter der nächsten Biegung die Belohnung winken. Rudi verfügt über Niveau und vermeidet es, seine Gäste mit überdehnter Ausführlichkeit zu langweilen. Alsbald wird die Plauderei ein neues Ziel ansteuern.
«Ein großer Dichter», sagt er, «ein Meister der Sprache, ein Erneuerer ohne Beispiel.» Diesen Abend empfiehlt er Wilhelm Meisters Lehrjahre. «Eine Freude, ein Vergnügen.» Mit dem Menschen allerdings hat er seine Mühe. «Während die Vorfahren unserer Vorfahren mit gezogenen Hüten und Kappen am Wegesrand standen, um den Einzug von Freiheit und Gerechtigkeit in angemessener Demut gebührend zu bejubeln, wird dieser Mann zum Knecht. Zugestanden, ein Lakai in herausragender Stellung, doch Kriecher bleibt Kriecher. Da mache sich niemand etwas vor.» An dieser Stelle wird er zu Christiane Vulpius finden, für die er gerne eine Kerze entzünden möchte. «Niemand hat es verdient, mit einer solchen Kälte behandelt zu werden.» Lieselotte ist von der temperamentvollen Stellungnahme für die Sache der Frau hingerissen und möchte Beifall bekunden, wenn es ihr gelänge, die verwirrenden Verknüpfungen einigermaßen sinnvoll aufzudröseln. Die Tatsache, dass ein schlecht temperierter Käse einer Frau Schaden zufügen kann, macht sie stutzig und bereitet ihr Kopfschmerz. Klaus Hinrich hat Verständnis für ihre Schwierigkeiten. Entgegen der Gepflogenheit sitzen beide nebeneinander. Das Paar besteht darauf, nicht ohne Grund, denn nichts dämpft die Verunsicherung besser als seine Hand auf ihrem Knie. Sie schwankt, ob sie bei passender Gelegenheit den Gastgeber auf die Ungereimtheit seiner Ausführung befragen soll oder die Unpässlichkeit mit einem Aspirin aus der Welt schafft. «Als Dichter ein Edelmann, als Mensch ein Jammerlappen», sagt Rudi und erwähnt Marienbad.
Lieselotte war letztes Jahr in Marienbad und wundert sich über Rudis Einlassung. Sie hat sich dort gelangweilt und fand den Aufenthalt öde. «Hartleben sah die Angelegenheit richtig», sagt Rudi und bricht seinen Vortrag ab. Er wird weder Zweig, dessen Sternstunden er feiert, mehr noch, die er geradezu verehrt, nicht erwähnen und sich über das Fehlurteil des begnadeten Erzählers verbreiten, noch den Wirrungen menschlicher Empfindungen nachspüren. Er wird schweigen, eine Weile seine Hände anstarren und sich entschuldigen. «Ich bin müde», sagt er und erhebt sich. «Leg dich hin», sagt Claire, und nimmt Lieselotte mit diesem Ratschlag eine Entscheidung ab. Erich ist nur wenige Jahre jünger und blickt betroffen unter sich.
«Ich hole den Nachtisch», sagt Claire und geht in die Küche. Rudi wird ruhen, sich erholen und sie in der Frühe mit einer Tasse Kaffee wecken. Was auch immer ihn umtreibt, sie ist sich sicher, Lieselotte ist an seinem Kummer unbeteiligt.
«Marienbad», sagt Rudi. Er geht strikt auf das neunte Jahrzehnt zu. Die Auserkorene sitzt mit am Tisch, sonst würde er seine Brille tragen. Die Dioptrien der Haftschalen reichen schon lange nicht mehr, doch einen Gang zum Optiker lehnt er ab. «Dort war ich erst vor einigen Jahren», sagt er, «ein paar Jährchen reichen nicht aus, um die Sehschärfe maßgeblich zu verschlechtern.» Keine Frage, die Flamme muss ganz in seiner Nähe lodern, denn in seiner Reichweite sollte sich die Glut aufhalten. «Ein alter Mann», sagt Rudi und verweist auf Seneca und die Schule der Stoa, «kann jeden Verlust ertragen, solange das Sehvermögen nicht leidet.» Er ist ein Meister der Entsagung, sofern man ihn nicht um die letzte Kurzweil bringt. «Die Haltung ist entscheidend», sagt er. Die Runde wird unruhig, denn die Mehrzahl vermutet, dass die Einlassung des alten Herrn den verrutschten Manieren gilt. Einige Herren, deren Kinnpartien sich im Verlauf der Mahlzeit erheblich der Tischplatte genähert haben, richten sich ächzend auf. Die Damen nicken und sind vorbereitet. Spätestens dann, wenn der Schlüssel die Tür zum heimischen Eldorado öffnet, werden sie ihren Partnern eine Hymne auf das untrügliche Urteilsvermögen ihrer außergewöhnlichen Mitbewerberin anstimmen. Ein Mann wie Rudi muss der absolute Glückstreffer sein. Claire weiß es besser, denn sie kennt den begehrten Schwarm durch und durch. «Besser als er sich selbst», sagt sie, aber nur dann, wenn keine Lauscher zu befürchten sind.
«Besonnenheit ist wichtig, meine Beste», sagt Rudi, und daran hat sie sich stets gehalten. Im Anfang aus Loyalität und Sorge um den Arbeitsplatz und später, weil sie zu seiner Vertrauten aufstieg. «Du bist alles», sagt er, «Geliebte und Gefährtin obendrein.» Mit Lob und Anerkennung geht Rudi freizügig um. Er schätzt Claire, mehr noch, er verehrt sie, wenn es nach Erich geht, aber wenn er den Verdacht hegt, eine Erörterung könne in Richtung Heirat unterwegs sein, verfällt er in auffällige Zurückhaltung. «Es sind die Gelegenheiten», sagt er, «die einen Mann in die Falle tappen lassen.» Der Entwicklung solcher Versuchungen beugt er vor. Unverzüglich, denn darauf kommt es an. Beileibe nicht allein des häuslichen Friedens wegen, sondern auch, aber nur ein bisschen, aus Eigennutz. «Das ist weniger verwerflich, als du denkst», sagt er und erklärt, dass sich jedes Streben daran mäste. «Menschen sind sich ähnlicher als es auf den ersten Blick scheint.» In seiner Weltsicht wohnen Schinder und Altruisten einträchtig Tür an Tür. Damals musste er ihr den Altruisten erläutern, heute ist sie mit seiner Ausdrucksweise vertraut. Rudi spuckt auf Dokumente, und außerdem sieht er keinen Anlass zur Klage, denn seinem Liebling erfüllt er jeden Wunsch. Seiner Einteilung nach muss Claire die beneidenswerteste Frau der Welt sein. «Ich bin kein Rechthaber», sagt Rudi, «aber in dieser Beziehung frei von Zweifel.» Er trägt sie auf Händen und die Schwierigkeiten, die er damit hat, rechnet er Claire nicht an. Mehr kann niemand erwarten.
Seit Marienbad ist ihr klar, was Rudi umtreibt. Eigentlich schon vorher, denn in Gegenwart einer verehrten Dame unterdrückt Rudi jedes Anzeichen von Gebrechlichkeit. «Das Gegenteil wäre ungehörig», sagt er, allerdings ohne die Schamlosigkeit ausführlicher zu erläutern. In einer Existenz als Hahn müsste er mit mattem Kamm und ohne Federschmuck über den Hof stolzieren und zusehen, welche Mittel am tauglichsten, um von den erheblichen Schwierigkeiten, die unterdessen bei der Beglückung auftreten, unbemerkt abzulenken. In dieser Hinsicht baut Rudi auf Seelenadel, einen guten Schneider, feine Stoffe und Krawatten aus Mailand. Charmant und galant war er immer. Klug auch und geduldig dazu. Mittlerweile mangelt es auch nicht mehr an Erfahrung. «Begünstigt der Mann, der sie einzusetzen versteht. Man hat es oder man hat es nicht», sagt Rudi. Gewisse Fertigkeiten kann man nur dann erlernen, wenn die Anlagen vorhanden sind.
Wenn eine Frau, die gackert, Verzeihung, häufiger und öfters lacht, als sie sollte, sich entschuldigt und mit Versprechungen in den Augen hurtig zu den kleinen Mädchen aufbricht, unter deren Obhut sie die Nase pudert und die Haare richtet, dann war Rudi erfolgreich. Nichts ist ihm kostbarer als der flüchtige Rausch einer unausgesprochenen Übereinkunft. Nicht einmal eine Nummer auf einem wippenden Hochseil kann diesen Schwindel ersetzen. Diese Aussage ist nicht von ihm, denn entblößte Körperlichkeit beschränkt sich auf Bad und Schlafzimmer. «Ansonsten wirkt sie peinlich.» «Über Ärzte wird bei uns nicht gesprochen», sagt Claire. Lieselotte wird sich eines weiteren Scherfleins zur Zerstreuung enthalten müssen.
«Der Mann», sagt Gerda, «stammt aus Australien.» Ein Abkomme der Wombats, tumbe und langweilige Plumpbeutler, die einzig wegen ihrer erstaunlichen Resistenz gegen die Anfechtungen der Evolution die Aufmerksamkeit der Biologen erringen konnten. In grauer Vorzeit hatte Gerda den Ruf einer kämpferischen Emanze. Damals hoffte die gelernte Mikrobiologin auf die Bewilligung eines Forschungsauftrages, der mit einer radikalen Abkehr von der üblichen Fortpflanzung gekrönt werden sollte. «Vervielfältigung ohne Würze», sagt Rudi. Obwohl sie als vorzügliche Forscherin galt, hat sie ihre famosen Pläne auf eine glänzende Zukunft aufgegeben und kämpft mit Unterstützung ihres Therapeuten um die Wiedererlangung des psychischen Gleichgewichts. In Phasen kläglicher Trübsal macht sie keinen Hehl daraus, dass weder fliegende Pflastersteine noch zerberstende Brandsätze etwas an der Misere eines feminin geprägten Schicksals verändern können. Auch ihr Aufbegehren köchelt inzwischen auf Sparflamme und beschränkt sich auf die Suche nach einem Partner, der sowohl fähig als auch gewillt, die Spülmaschine zu bedienen.
«Sie ist eine Schlange», sagt Rudi, «eine gefährliche und unerträgliche Viper.» «Sie ist meine Freundin», Claire. Vor der faktischen Kraft dieser Feststellung tritt er den Rückzug an. «Aber bitte», sagt Rudi, «halte sie von den Messern fern.» Heute sitzt Gerda neben Rudi und tranchiert die Gans. Sie ist bester Laune, und er wird darauf verzichten, Jean Paul zu zitieren. Rudi hat eine milde Seele und ist durchaus bereit, einer Verlockung zu entsagen.
«Ein Jammer», denkt Rudi und freut sich seiner Geschicklichkeit. Seiner Überzeugung nach ahnt Claire nicht, dass er Kontaktlinsen besitzt. Offenbar hat er vergessen, dass sie ihn ins Fachgeschäft begleitet hatte. Er ist sich sicher, dass Gerdas Giftdrüsen allmählich austrocknen. Die Besichtigung des Ausschnitts räumt alle Unsicherheiten aus. «Auf die Jugend», sagt Rudi und erhebt sein Glas, «möge sie ewig währen.» Blondie sitzt ihm gegenüber und beugt sich weit nach vorne. Die ungezwungene Geste freundlicher Zuwendung erscheint ihm rührend, falsch, er vermerkt sie als eine eindeutige Ermutigung. Gerda schnippelt unverdrossen und enthält sich jeglicher Auslassung. Sie hat ihre Kämpfe hinter sich und entwirft Unterwäsche. «Nicht für dich», sagt sie zu Klaus Hinrich.
«Schau mal.» Claire öffnet den Hausmantel und weckt schwächelnde Gefühle. Sie scheint mit dem Ergebnis ihrer Vorführung zufrieden. Der Erfolg ihrer unermüdlichen Fürsorge muss sich nicht verstecken. «Sehr hübsch», sagt er, «ein wenig ungewöhnlich.» Den Schlitz im Schritt findet er erstaunlich und erregend. Der Entschluss, Gerda gründlicher in Augenschein zu nehmen, ist erledigt und der Anblick ernüchternd. Als sie noch Beuteltieren nachstellte, hätte sie die Anverwandte gerügt und darauf verwiesen, dass junge Frauen, die nach Greisen Ausschau halten, entweder versaute Luder seien oder hoffnungslos krank. Claire vermutet, dass Gretchen ein durchtriebenes Schätzchen ist, das sich nicht ohne Absicht scheut, den Tischnachbarn zu bitten, ihr die Schüssel mit den Kartoffeln zu reichen. «Nicht wieder», murmelt Claire und denkt mit Schrecken an künftige Badekuren und strauchelnde Lust.
Sollte Rudi von solchen Befürchtungen ahnen, dann hat er sie vorsorglich des Landes verwiesen. Blondchen heißt nicht Héloise, sondern Greta. «Greta und Gerda», sagt Rudi, «wie bezaubernd.» Héloise wäre ihm genehmer gewesen, denn mit Rousseau lässt sich an der Tafel immer etwas anfangen. Die nützliche Dame, auf deren Beistand er vergeblich hofft, heißt Julie. Das ist unverfänglich genug. Gewiss ist der Verlauf ihrer Geschichte traurig, doch ein paar Bezüge zur Moderne könnten den Herrschaften ein Schmunzeln entlocken. Dennoch scheint Zurückhaltung angemessen. Gerda sitzt neben ihm und die Führung ihrer Schnitte beweist, dass sie sich im Gebrauch von Messern eine bewundernswerte Fertigkeit angeeignet hat. Frauen sind unberechenbar, und niemand kann voraussehen, zu welcher unüberlegten Handlung sie die wundersame Neigung bewegen könnte. Rudi verbürgt sich dafür, dass ihr das Geschick der unglückseligen Leidenschaft unbekannt geblieben, ansonsten hätte sie im Lauf der Jahre ihm gegenüber gewiss Abälard erwähnt. Sie ist eine Koryphäe, wenn es darum geht, einen munteren Stenz mit gewagten Drohungen zu bedrücken. Kein Saint-Preux, keine Schwangerschaft, nicht einmal der kärglichste Diskurs über eine Gesellschaft, die in aufgeplusterter Überheblichkeit bereit, ihre Ansprüche höher als die Befindlichkeit des Individuums zu werten. Kein Schlenker zu Voltaire, der ihm nicht nur Herzensbruder, sondern auch das Vorbild eines zivilen Menschen.
Nein, er verschmäht den Köder, verzichtet auf einen Lacher, der ihm fraglos zugeteilt worden wäre, wenn er seiner Verwunderung Ausdruck darüber gegeben hätte, dass eine Gans eine Gans essen kann.
Blondie, vor der er knien könnte, wenn die Arthritis eine Kleinigkeit nachsichtiger mit den Bedürfnissen einer entbrannten Brust umginge, kaut unverdrossen und mit Appetit. Film ist nicht seine Stärke, doch er macht sich unverdrossen an die Garbo heran, der er sich vor etlichen Jahren einmal auf zweihundert Schritte habe nahen dürfen. Sie posierte für eine Hundertschaft Fotografen. «Premiere», sagt er, «oder ein Festival.» Man möge ihm verzeihen, unwichtigere Angelegenheiten verbanne er gerne in die nebligen Bezirke des Vergessens. Die Frage nach Ort und Gelegenheit verblasse vor der überwältigenden Ausstrahlung der Diva zur Nebensächlichkeit. Ihr Wimpernschlag sei aufsehenerregend und vollende die Erscheinung. «Welche Farbe», fragt Greta. Doch auch mit dieser unverhofften Wissbegierde bringt sie Rudi nicht in Verlegenheit. Es macht nichts, dass er seit Jahren kein Foto der Schauspielerin mehr zu Gesicht bekommen hat, und die Aufnahmen der Bildreporter nur wenig zu einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung beitragen konnten. «Unterschiedlich», antwortet Rudi unverzagt, «die Farbe ist abhängig vom Lichteinfall.» «Grün», sagt Greta. In der Tat, der grünliche Schimmer ist ihm nicht entgangen. Er hütet sich, Gästen die Wirklichkeit zu verderben. Erich schaut auf seinen Teller. Er wird mit keiner Silbe das schönste Ferienerlebnis seines Freundes verraten. Zudem heftet er die Episode unter Erfindung ab. Es ist kein Geheimnis, für eine beschwingte Geschichte verpasst Rudi der Wahrheit einen Tritt. In Rudis Gedächtnis plätschert der Stützbach noch immer. Aber nicht, weil ihm Klosters mehr bedeuten würde als ein Übermaß an Natur und frischer Luft, sondern weil er dort die große Garbo beim Sonnenbad aufstöbern durfte. Ungeplant und nicht freiwillig, aber es stimmt, die Dame war reinweg hüllenlos. «Ein Charakter», sagt er, «der sich der Wirklichkeit stellt, ist lobenswert.» Verbeugung, denn seit diesem Begebnis kann er nachfühlen, weshalb sie alle Einladungen zu Banketten standhaft ausschlug. «Bravo.»
Auch die Feministin wird bedacht, denn er erinnert sich an ein Chanson, in dem eine Gerda besungen wird. Er meine, es habe sich dabei um ein fesches Persönchen gehandelt, das den Männern die Köpfe verdreht. «Eine Tänzerin», sagt Rudi, «richtig.» Als junger Mann hatte er eine große Vorliebe fürs Ballett. Unvergessen Margot Fonteyn in Giselle. Unvergleichlich. Einzigartig. Eine wirkliche Primadonna Assoluta. Leider hapere es bei den meisten Tänzerinnen ein wenig an der Weiblichkeit. Eine Andeutung barocker Figürlichkeit sei nun einmal das Ideal femininer Vollkommenheit. «Köstlich», sagt Greta. Das luftige Kleidchen spannt etwas. Offensichtlich mag sie Leckereien.
«Pralinen sind aus», sagt Erich, «die blühenden Grazien essen ausschließlich Salat.» Erich ist ein lieber Kerl und als Kenner der Skalden eine beachtenswerte Autorität, aber für Frauen fehlt es ihm an Gespür. Alt genug dazu wäre er, aber Erich ist unverbesserlich verheiratet und läuft mit geknicktem Rückgrat durchs Leben. Abgesehen von der samstäglichen Pflichterfüllung verhält er sich enthaltsamer als ein Mönch. Noch besser, seine Verschwiegenheit kann es mit jedem Beichtvater aufnehmen. Konfekt ist ihm zuwider und den unangebrachten Ratschlag hat er von seiner Frau. Nicht dass er sie danach gefragt hätte, bewahre, aber er meint sich an einen diesbezüglichen Wink, dessen Anlass ihm nicht gegenwärtig, entsinnen zu können. Vage, denn für das richtige Leben ist die Gattin zuständig, und die irrt nicht. «Vielleicht vor der Ehe», sagt Erich. «Ein beeindruckendes Geschenk soll es sein», sagt Rudi zu der Verkäuferin und quittiert ihr strahlendes Lächeln mit einem Zitat. «Nicht von mir», sagt er und verbeugt sich, «von Wolkenstein.» Fremder Lorbeer putzt ihm nicht das Haupt. Ein Mindestmaß an Rechtschaffenheit möchte er sich bewahren. «Frauen mögen Ehrlichkeit», sagt er zu Erich. Erich hat keine Ahnung und verblüfft deswegen mit einer Bemerkung zur richtigen Dosierung. «D’accord», sagt Rudi. Offensichtlich haften dem angestaubten Ehemann schlummernde Fähigkeiten an. Die Verkäuferin findet die Großzügigkeit des alten Kunden ein wenig übertrieben, ist jedoch aufgeweckt genug, angebrachte Einwände tapfer zu verschlucken, denn im Hinterzimmer lauert der Chef und der handelt geschäftsschädigende Äußerungen bevorzugt als Kündigungsgrund.
Rudi überquert die Straße und verlangt nach Rosen. «Eben geschnitten und ganz frisch», sagt die Floristin. Hundert wirken protzig, aber neunundneunzig zu einem Strauß gebunden können sich sehen lassen. Rudi ist mit der Beratung einverstanden und willigt ein. Er überreicht eine Karte mit Adresse und bittet um unverzügliche Zustellung. Selbstverständlich wird der Bote auch die Süßigkeiten ausliefern. «Das übernehmen wir gerne, mein Herr.» Durchs Schaufenster sieht er die Verkäuferin zum Telefon greifen. Die Rosen sind ausverkauft, und nun muss sie sich sputen, eine Eilbestellung aufzugeben.
Gerdas Schwesterbalg, von ihr kurz und bündig Kind gerufen, ist gut entwickelt. «Eben volljährig», sagt Erich, «ein schönes Alter», Rudi. Das kurze Röckchen und das dralle Popöchen haben ihn mächtig geblendet. Wenn sie nicht auf der Straße stünden, könnte er glatt in Verzückung geraten.
Sie wird die Naschereien mit der Tante teilen und die Rosen in eine Vase stellen. Während die taufrische Zierde mexikanischer Gartenkunst verblüht und die Köstlichkeiten aus der Confiserie den üblichen Weg aller irdischen Lustbarkeiten antreten, sitzt Greta vor dem Fernseher und träumt von den Antillen. «Alle Mädchen wollen in die Karibik, Kuba oder Jamaika», sagt Erich und stützt sich dabei auf Auskünfte aus berufenem Munde. Über die Triebfeder der exotisch bestimmten Verstiegenheiten vermag allerdings auch er keinen befriedigenden Befund anzubieten, denn die jungen Dinger verstummen, wenn man sie nach den Gründen ihrer Sehnsucht befragt. Rudi und Erich haben ihre Vermutungen, sprechen sie aber schicklicherweise nicht aus. Nicht auf der Straße oder gar in Anwesenheit der Holdseligkeiten.
«Nichts übertrifft ein gutes Buch», sagt Erich. Der Bogen ist schwierig, aber endlich doch gelungen. Erich möchte den Freund gerne mit einer Entdeckung überraschen. Die Ausbeute seiner jüngsten Nordlandfahrt ist ergiebiger als erwartet und übertrifft seine kühnsten Erwartungen. Die Übersetzung, der von ihm getätigten Abschriften, ist beinahe abgeschlossen. «Eine literarische Sensation», sagt Erich. Seine kleine Welt wird auf dem Kopf stehen. «Ein achtbarer Erfolg», antwortet Rudi. Er schweift durch ferne Regionen und hat Bedenken, ob Gruß und Einladung Gerdas strengem Urteil genügen. Manchmal möchte er der Regung nachgeben und den Hampelmann einen Idioten schimpfen, der keinen Schimmer von den Versprechungen unbekümmerter Schönheit hat.
«Sei vorsichtig Kind», sagt Gerda, während die Nichte nascht. Das Kind willigt überraschend folgsam ein und schließt zerknirscht die Schachtel, denn noch sind die Andeutungen über die erotische Wirkung barocker Auswuchtungen nicht ausgesprochen. Mit guten Formulierungen geht es wie mit der Bahn. Die Frage, welche Verspätungen leichter zu ertragen sind, ist noch nicht endgültig erörtert.
Das Kind übertreibt es mit der Vorsicht und wird von einer Leibgardistin beaufsichtigt. Doch das Herz des Löwen ist ohne Furcht und schlägt unverdrossen zuversichtlich. Bis die Lichter des Kronleuchters erlöschen, wird Rudi die Zeit der aufgeregten Erwartung nutzen, um Blondchen eine Zusammenfassung der Handlung zu vermitteln. Sie zerbeißt Zuckerwerk. «Du ruinierst dir die Zähne», zischelt ihre Begleiterin. In der Pause wird Greta Ping, Pong und Pang als seltsame Gesellen bezeichnen, die Prinzessin eine dämliche Ziege nennen und den Prinzen als Trottel beschimpfen. Italienisch kann sie nicht und die Musik beurteilt sie als altbacken. Das ist bedauerlich, doch sie wird getröstet werden. Im Parkett sitzen ein paar ansehnliche männliche Heranwachsende, die sie mit dem verdorbenen Abend versöhnen könnten. Nach fünf Minuten hat sie ein Exemplar aus der Gruppe der Schönlinge für sich gewonnen. «Ein wundervoller Abend», bedankt sich Gerda. Für die kommende Saison wird sie abonnieren. Greta steigt in einen Ferrari. «Techno», entschuldigt die Wache, «die jungen Leute sind ganz verrückt danach.» Rudi kann sich nicht darauf besinnen, jemals ähnlich einfältig gewesen zu sein.
«Ich bin müde», sagt Rudi. Die Gäste sind verwundert, einige erstaunt, andere besorgt und werden noch ein Stündchen ausharren. Claire ist ein Schatz und Rudis Abwesenheit durchaus ein Gewinn. Für die meisten jedenfalls, nur Erich hätte noch gerne ein paar Worte über den Stand seines Fundes gewechselt, denn auch er hat an einer galligen Enttäuschung zu würgen. Nichts ist mit Bragi Boddasons verlorenem Gesang. Ragnarsdrápa wird auch weiterhin als die älteste skaldische Dichtung gelten. Niedergestreckt die Aussicht auf eine Belobigung oder den Aufsatz eines Mitstreiters in einer Zeitschrift, die von niemandem gelesen wird. Chiemgauer Mundart, die ein Tourist aus Barbarenland in einen isländischen Stein meißelte. «Das ist kein achtbarer Witz», sagt er, «sondern die platte Verhöhnung emsig forschenden Fleißes.»
«Es ist vorbei», sagt Rudi. «Ich liebe dich.» «Ich dich auch», Claire. F. F. atmet tief durch und dreht sich gemächlich auf die andere Seite. Die Zweibeiner sind ihm ein offenes Buch, doch er wird jegliche Stellungnahme verweigern. Wahrhaftig, es geschieht nicht aus Hochmut, dass die Weisen seines Volkes den Rat erteilen, Abstand zu den Einbildungen der Menschen zu wahren.
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2010
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